Tatort Oberbayern. Jürgen Ahrens
Читать онлайн книгу.Adelhofer saß mit versteinerter Miene neben seinem Sohn. Die drei anderen Gäste wirkten nervös.
»Herzlich willkommen zu ›Krise‹, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer. Dass dies keine normale Sendung für mich ist, wissen Sie. Der Mann neben mir ist mein Vater und der Vater meines verstorbenen Bruders Lukas. An ihn wollen wir heute voller Trauer erinnern, ebenso wie an die lieben Verstorbenen meiner anderen Gäste. Und wir wollen heute auch an die guten Zeiten denken, an die schönen Dinge, die wir mit unseren Lieben erlebt haben.«
Robert zog einen Zettel aus der Tasche:
»Um meinen Bruder zu ehren, möchte ich Ihnen eine kleine Botschaft vorlesen, die er mir vor meinem Bergwinter zukommen ließ.«
Raunen im Zuschauerraum, selbst die bestinformierten Adelhofer-Fans schienen von der Existenz einer solchen Nachricht nichts zu wissen:
»Robert, ich pass auf dich auf.«
Adelhofers Augen wurden feucht, als er den Zettel wegsteckte.
»Dieser Satz war der Leitsatz meiner Kindheit. Sobald der kleine Bruder in Schwierigkeiten geriet, und das tat er oft, gell Papa«, lächelnder Blick zu Max Adelhofer, der nach wie vor nicht aus seiner Erstarrung erwachte. »Ja, äh, also, wenn ich Probleme hatte, hat mein großer Bruder genau das zu mir gesagt. Und es hat gestimmt. Er hat mich jedes Mal rausgehauen, egal ob es eine sechs in Mathe war und er zu meinem Lehrer gegangen ist oder er die Bäckerin beschwichtigt hat, der ich eine Brezn stibitzt hatte, das war mein großer Bruder Lukas. Ich hoffe, er passt von oben auf mich auf.«
Ein kräftiger Schnäuzer ins Taschentuch und weiter ging es.
Nun erzählten die Gäste rührende Geschichten über die Verstorbenen. Rebekka Waldus konnte nicht mehr aufhören zu weinen, nachdem sie stockend berichtet hatte, dass ihr Baby sie an dem Nachmittag, als es starb, zum ersten Mal angelächelt hatte.
Max Adelhofer zeigte weiterhin keine Regung. Er saß stocksteif da und starrte vor sich hin.
Robert sprach ihn direkt an: »Papa, was möchtest du gern vom Lukas in Erinnerung behalten?«
Der alte Adelhofer hob den Kopf und schaute seinen Sohn an.
Angespannte Stille im Studio. Robert Adelhofer legte seinem Vater die Hand auf den Arm und fragte: »Magst uns was erzählen vom Lukas, Papa?«
Der alte Adelhofer schüttelte nur den Kopf.
Raunen im Zuschauerraum. Robert schien sich zu sammeln.
Die Hand auf dem Arm seines Vaters erklärte er:
»Mein Vater wollte Lukas zuliebe heute hierherkommen, damit die Öffentlichkeit erfährt, was für ein wertvoller Mensch sein Sohn war. Wir alle, und Sie sicher auch, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, haben natürlich Verständnis dafür, dass er das nun doch nicht fertigbringt. Niemand muss reden in meiner Sendung. Es ist völlig in Ordnung, nur dabei zu sein und die Anteilnahme der anderen zu spüren. Die tut allen meinen heutigen Gästen, auch meinem Vater und mir, sehr gut in dieser für uns so schwierigen Zeit.«
Es folgte eine letzte Gesprächsrunde zum Thema Trauerbewältigung, bei der Robert seinen Vater vorsichtshalber gar nicht erst ansprach. Danach Abspann, Ende.
Die Zuschauer applaudierten verhalten, Robert verabschiedete sich. Zumindest ließ er sich heute nicht wie sonst feiern, wenn vor der Show Einheizer mit dem Publikum trainierten, wann und wie lange zu klatschen war. Das hatte Katharina in einer Reportage über »Krise« gelesen.
Robert Adelhofer verließ das Studio mit gesenktem Kopf und hob nur einmal die Hand in Richtung der Zuschauer. Direkt nach ihm stand sein Vater auf und ging mechanisch und ohne aufzublicken.
Nachdem Gäste und Moderator sich zurückgezogen hatten, standen die Zuschauer auf und Katharina hörte beim Hinausgehen Kommentare wie: »Gut gemacht«, »der arme Vater«, »hat er sich wohl überschätzt, wahrscheinlich ist er nur Robert zuliebe gekommen«, »bestimmt ist die ganze Familie kaputt«. Niemand sprach über die anderen Gäste. Viele Zuschauerinnen verließen mit verweinten Augen erschüttert das Studio.
Katharina beschloss nach dieser seltsamen Sendung, Adelhofers Angebot anzunehmen, und machte sich auf den Weg hinter die Kulissen. Diesmal wusste Achim Wedel Bescheid und geleitete sie zuvorkommend zu den Garderoben. Die Tür mit dem Namensschild »Max Adelhofer« stand offen und Katharina sah, dass der Raum leer war. Robert Adelhofer nebenan war allein und begrüßte sie freundlich.
»Ist Ihr Vater gleich abgefahren?«
Adelhofers Miene wurde ernst. »Ja, ich hätte es doch verhindern sollen, dass er kommt. Aber er wollte es unbedingt. Ich dachte, das ist wichtig für ihn, ich gebe ihm die Möglichkeit. Jetzt weiß ich, dass es ein Fehler war, ein großer Fehler.«
Er schaute betrübt vor sich hin. Katharina sagte nichts.
Nach einer Weile räusperte Adelhofer sich. »Noch mal wegen der Fotos aus den Bergen, Frau Langenfels. Es ist mir etwas peinlich, aber ich will ehrlich zu Ihnen sein. Ich habe geflunkert in der Sendung damals. Ich wollte verhindern, dass die Leute alle auf meine Lieblingsberge rennen in der Hoffnung, mich zu treffen. Im Prinzip der gleiche Grund, warum ich nicht genau sage, wo ich war in meinem Bergwinter. Das wissen Sie sicher.« Katharina nickte.
»Ich habe damals völlig unterschätzt, wie bekannt ich schon war. Auf der Kampenwand war ich dann sofort umringt von Fans, die Fotos haben Sie wohl gemeint.« Adelhofer schaute Katharina erwartungsvoll an. Sie reagierte nicht.
Er räusperte sich und fuhr fort. »Na ja, wie auch immer, diese Fotos gibt es jedenfalls und mehr nicht. Hat sich tatsächlich nicht gut angefühlt, in den Bergen zu sein, das wollte ich testen.«
Katharina nickte.
»Gut, danke für Ihre Offenheit. Ich werde das vorerst nicht veröffentlichen, dies nur als Info. Morgen erscheint mein zweiter Artikel über Sie, ich werde mich auf die Beerdigung, unser Gespräch danach, die heutige Sendung und den Auftritt Ihres Vaters konzentrieren.«
»Wunderbar, Frau Langenfels, wunderbar. Und Sie können ruhig schreiben, dass ich einen Riesenfehler gemacht habe, dass ich meinen Vater hätte abhalten sollen zu kommen.«
»Mal sehen. Dazu bräuchte ich ein Statement Ihres Vaters, damit will ich ihn derzeit aber nicht belästigen. Ich denke, ich werde einfach bei dem bleiben, was ich mit eigenen Augen gesehen habe.«
»Wie Sie meinen. Entschuldigen Sie mich bitte, ich würde mich gern abschminken.« Katharina verließ einen leicht unterkühlten Robert Adelhofer.
Währenddessen ging eine der anderen Zuschauerinnen bestens gelaunt zum Parkplatz. Im Auto, das sie abseits gestellt hatte, nahm sie die dunkle Perücke ab. Dunkelbraune Locken, die ihre Frisur plattdrückten. Sie hatte ein echtes Opfer gebracht. In diesem Fall war es ihr das wert. Diese Show wollte sie sich nicht entgehen lassen. Der alte Adelhofer hatte ihr fast ein bisschen leidgetan. Aber nur ein bisschen. Irgendwie waren sie alle selbst schuld. Der trauernde Bruder und der trauernde Vater – das hätten sie sich vielleicht früher überlegen müssen. Ihr Plan schien jedenfalls aufzugehen. Das war das Wichtigste. Jetzt erst mal notdürftig die Frisur richten, in diesem Zustand konnte sie nicht losfahren. Sie nahm Haarspray und einen Kamm aus einer Tasche vom Beifahrersitz und richtete im Rückspiegel die blonde Welle. Normalerweise brauchte sie morgens eine Stunde, bis das Haar perfekt saß – schön nach außen geföhnt und mit Haarspray zum festen Stand gebracht –, hier musste ausnahmsweise die schnelle Variante reichen. Als sie fertig war, folgte der übliche Sicherheitsblick in den Spiegel – für die begrenzten Möglichkeiten hier im Auto nicht schlecht. Ihre Frisur war ihr Kapital, ihr Erfolg bei Männern hatte nicht nur mit ihren inneren Werten zu tun. Lächelnd griff sie in ihre Handtasche. Sie brauchte etwas Süßes, ihre Belohnung, wenn sie besonders stolz auf sich war. Sie biss in ihren Lieblingsschokoriegel, grinste ihr Spiegelbild im Rückspiegel an und dachte an ihr nächstes Opfer. Der wusste noch nichts von seinem Glück. Das würde sich bald ändern. Und seine kleine Ehefrau konnte mit ihren zwei lieben Kinderlein die Sachen packen und Leine ziehen. Sie, Jana, würde ihn glücklich machen.
Summend startete