Strohöl. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.Nachrichten, einer schwer. Ist er …?«
Sie sorgte sich offensichtlich sehr um Barbarossa. Emma beruhigte:
»Ich habe die Verletzten gesehen. Barbarossa war nicht dabei. Er ist plötzlich verschwunden. Ich habe überall gesucht, das könnt ihr mir glauben.«
»Er geht nicht an sein Handy.«
»Das habe ich auch schon festgestellt.«
»Sieht ihm gar nicht ähnlich«, bemerkte der Kollege mit der hohen Denkerstirn. »Verschwunden sagst du? Was heißt verschwunden?«
»Verschwunden ist das Partizip Perfekt von verschwinden«, gab sie bissig zurück. »Wir haben einen Kanister mit Giftcocktail als Beweis sichergestellt, da wollte er unbedingt noch einmal ins Lager zurück.«
»Wollte …«
»Er war dort. Ich habe sein Zeichen am Tor gesehen, frisch gesprayt. Dann fliegt die Halle in die Luft und ich sehe ihn nicht mehr.«
»Er ist in die Luft geflogen!«, rief die besorgte junge Dame hysterisch.
Die Konversation stockte für einen Augenblick, bis Emma den Gedanken aussprach, der sie den ganzen Weg hierher beschäftigt hatte.
»Es ist angezeigt, mit der Wahrheit herauszurücken, meint ihr nicht auch?«, fragte sie lauernd.
Fünf Augenpaare starrten sie an.
»Ich denke, es wäre nur fair, mich jetzt über Barbarossas ›hidden agenda‹ aufzuklären. Immerhin wäre ich um ein Haar abgekratzt.«
»Ich höre immer ›hidden agenda‹. Was erzählt die Braut da?«, brummte einer, der bisher nur mit vernichtenden Blicken kommuniziert hatte.
»Es ist doch auffällig, dass das Lager just in dem Moment hochgeht, als er dahin zurückkehrt«, hakte sie nach.
Beide jungen Frauen drohten, ihr an die Gurgel zu springen.
»Das ist eine ganz infame Unterstellung. Barbarossa würde nie Gewalt anwenden«, behauptete die Denkerstirn. »Wir sind keine Terroristen. Und überhaupt – woher sollte er den Sprengstoff haben?«
Das war die zweite Frage, die sie schon stundenlang beschäftigte. Auch sie ging von einem Sprengstoffanschlag aus, obwohl noch keine offizielle Bestätigung der Behörden vorlag. Wie viel Sprengstoff braucht es, um ein solches Höllenfeuer zu zünden? Wahrscheinlich nicht mehr, als was in Barbarossas Rucksack passte – bei der Menge hochexplosiven Materials im Lager auf dem Fracking Gelände.
»Die Braut war mir von Anfang an suspekt«, brummte der Schweigsame, ohne sie anzusehen.
»Ihr könnt mich mal«, herrschte sie ihn an. »Fragt doch euren Barbarossa, was wirklich geschehen ist, falls er doch noch auftaucht. Für mich war‘s das jetzt. Und merkt euch: Mich habt ihr nie gesehen. Haben wir uns verstanden?«
Das Handy summte auf dem Weg zu ihrem Zimmer. Sie erschrak, als sie auf dem Display sah, wie spät es geworden war. Um diese Zeit hätte sie längst zu Hause sein müssen. Die kleine Schwester am Apparat begrüßte sie entsprechend aufgebracht.
»Wo steckst du die ganze Zeit, verdammt noch mal?«
»Tut mir leid, Kleines …«
»Du sollst mich nicht so nennen. Geht das nicht in deinen Kopf? Es ist schon acht vorbei, und ich muss zur Uni.«
»Wie geht es Julian?«
»Er schläft wie ein Murmeltier. Das ist ja das Problem. Ich hätte ihn längst in die Kita bringen müssen.«
Ihre kleine Schwester konnte manchmal unglaublich kompliziert sein. Ob sie das von ihrem Vater geerbt hatte? Er war ein bekannter Politiker gewesen und berüchtigt für seine unverständlichen Formulierungen, die oft in unvollendete Sätze mündeten.
»Warum weckst du ihn nicht auf?«
»Du hast gut reden! Nachher bin ich schuld an seinen psychischen Problemen. Was ist, wenn er plötzlich ADHS entwickelt?«
»Weil du ihn weckst? Ich glaube, du verwechselst da etwas. Also, liebes Schwesterherz: Drücke Julian einen dicken Kuss von mir auf die Wange und bringe ihn in die Kita, dann fährst du zur Uni, in dieser Reihenfolge. Schaffst du das?«
»Maria hat auch schon nach dir gefragt«, tönte es beleidigt aus dem Hörer. »Wo warst du denn die ganze Nacht? Warum hast du dein Handy ausgeschaltet?«
»Ich war auf Recherche, das weißt du doch.«
»Und was hat die ach so studierte Frau Journalistin recherchiert?«
»Das willst du nicht wissen.«
Es knackte in der Leitung, dann kam der Summton. Emma lächelte glücklich, während sie die Tasche packte. Zu Hause im Paradies war die Welt in Ordnung. Ihre Schwester hatte den Kleinen ins Herz geschlossen wie einen eigenen Sohn. Und drüben in Wollmatingen lebte und arbeitete ihre große Liebe Maria, das Beste, was ihr das Schicksal geschenkt hatte – nach Julian. Die kleine Welt am Bodensee war eine einzige Idylle, fast zu schön, um wahr zu sein. Ach was, Konstanz, die ganze Region rund um den schönsten See Europas war ein einziges Paradies, dachte sie, um sich sogleich zu korrigieren: gewesen. Als Journalistin bemühte sie sich stets, sachlich zu urteilen, aber die Bohrtürme bei Überlingen empfand auch sie als Bedrohung der sonst weitgehend intakten Landschaft. Warum mussten ausgerechnet hier ergiebige Tonschiefer-Schichten entstanden sein? Warum konnte dieses Gestein nicht wenigstens so tief liegen, dass ein Petrochemie-Konzern wie die NAPHTAG die Finger davon ließ? Sie dachte schon beinahe wie Barbarossas Jünger.
Ihr Gastspiel war beendet. Sie hatte den Kanister aus dem Lager der Fracking Anlage zwar nicht retten können, war aber überzeugt, auch ohne dieses Beweisstück genug in der Hand zu haben, um den Verantwortlichen der NAPHTAG ordentlich auf die Zehen zu treten. Sie rief ein Taxi, schulterte die Tasche und verließ das Haus.
LEVERKUSEN
Fabian Schröder betrat das Sitzungszimmer als Letzter. Vertieft in die Lektüre des druckfrischen Berichts über den Anschlag auf sein Projekt am Bodensee, würdigte er die übrigen Sitzungsteilnehmer keines Blickes. Er sparte sich die üblichen Floskeln zur Begrüßung und Eröffnung, sagte nur:
»Meine Herren, dies ist eine Krisensitzung.«
Um die bedrohliche Lage zu unterstreichen, legte er eine Pause ein, während sein Blick über die Anwesenden schweifte. Es war der harte Kern des Fracking Projekts Kranich, und er fragte sich, was er dabei gedacht hatte, den Grünschnabel Tim Jansen als Organisator mit ins Boot zu holen. Der Versuchsleiter und Ingenieur Niklas Kolbe war nicht zu beneiden, diesen Schnösel am Hals zu haben. Das hatte er ihm auch ziemlich direkt zu verstehen gegeben, aber was konnte er dagegen tun? Jansen war der Neffe und Protegé des Finanzvorstands Finn Matthes, und der wiederum die graue Eminenz im Konzern. Ohne dessen Wohlwollen konnte er sich den Aufstieg in den Vorstand abschminken. Die einzige Chance bestand darin, Jansen derart offen ins Messer laufen zu lassen, dass ihn sein Onkel freiwillig aus dem Verkehr ziehen würde. Jansen war nahe an diesem Punkt, schloss er aus dem Bericht des Organisators. Er knallte den Wisch auf den Tisch und fragte:
»Was ist das?«
Jansen wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen.
»Der vorläufige Bericht«, murmelte er kaum hörbar.
»Einen Bericht nennen Sie das? Im Ernst?«, fuhr er ihn an.
Ingenieur Kolbe machte eine beschwichtigende Handbewegung und öffnete den Mund. Schröder kam ihm zuvor:
»Ich habe Sie etwas gefragt, Jansen.«
Der junge Mann schluckte leer. Er brauchte eine Sekunde, um das bisschen Mut, das ihm in die Hose gerutscht war, zu retten, dann räusperte er sich und sagte:
»Entschuldigung, Herr Direktor. Die Betonung liegt auf vorläufig. Mir ist bewusst, dass der Bericht unvollständig ist, aber seit dem Anschlag sind gerade einmal vierundzwanzig Stunden vergangen.«
»Vierundzwanzig Stunden, in denen Sie