Vernichten. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.verstehen. Im Übrigen war er damit beschäftigt, seinen Kater mit Tee aus dem Samowar zu lindern. Er fühlte sich wie nach einer Flasche Wodka, übel und leer.
Andrei traf erst gegen Mittag ein. Er warf ein paar bedruckte Seiten auf Vanyas Schreibtisch, die dem Ekspert einen verwunderten Ausruf entlockten.
»Wer zum Teufel verwendet denn heute noch Faxe?«
»Die glorreiche russische Armee«, grinste Andrei.
»Die mit dem modernsten verdammten Supercomputer? Betreiben die den noch mit Dampf?«
Fisik hatte das Fax schon gelesen. Sie strahlte.
»Sieh dir lieber an, was da drin steht. Wir haben das Monster!«
Jubel brach aus im Bunker, in den sogar der stille Fedor einstimmte. Andrei sah auf die Uhr.
»O. K., Leute, uns bleiben noch genau sechs Stunden, um die Machbarkeit zu verifizieren. Schaffen wir das?«
Er erhielt keine Antwort, erwartete auch keine. Es gibt Fragen, die kann man erst im Nachhinein beantworten, also schenkt man sich die Antwort.
»Countdown läuft«, sagte er nur.
Von nun an zählte die große Digitaluhr an der Wand rückwärts: 6:00:00, 5:59:59, 5:59:58 … Sechs Stunden bedeuteten für einen Computer eine halbe Ewigkeit, für einen Programmierer leider nur einen Wimpernschlag. Es war die Aufgabe der Brüder Melnikov, das Monster in die Architektur ihres Systems einzubinden und die benötigten Funktionen zu testen. Sie planten, den Supercomputer als Zahlenfresser zu benutzen, um die Verschlüsselung des Zielsystems zu knacken. Für alle andern Arbeiten trauten sie nur ihren eigenen Systemen. Vladimir sah, wie die beiden schwitzten, und hätte ihnen gerne geholfen, wäre er nicht selbst in Verzug geraten mit der Arbeit am Trojaner. Es bereitete ihm immer noch Mühe, sich zu konzentrieren. Dass Fisik jetzt in aufreizender Pose vor ihm stand, machte die Sache nicht leichter.
»Was liegt an?«
Sein Blick schweifte überallhin, um nicht an den Brustwarzen haften zu bleiben, die sich unter der Bluse abzeichneten. Sie gab ihm das Werkstück, das Vanya als Bastelei interpretiert hatte.
»Das ist unser kleiner Helfer«, sagte sie. »Du brauchst ihm nur noch Leben einzuhauchen.«
Das Ding war nicht zu unterscheiden von einem Kabelende, wie es dutzendweise in jedem Netzwerkserver steckte. Es würde im Kabelgewirr keines Computerraums auffallen. Ihr Design und die Ausführung konnte er nur als genial bezeichnen. Das Gehirn des kleinen Helfers befand sich unsichtbar im Stecker. Das Stück Kabel diente nur als Tarnung. Ein Stecker ohne Kabel würde jedem Techniker sofort auffallen. Nüchtern gab sie die Spezifikationen des nicht einmal Fingernagel großen integrierten Schaltkreises bekannt:
»1 GHz ARM Prozessor, 512 MB RAM, 8 GB Flash Speicher. Du hast ein voll funktionsfähiges Linux System zur Verfügung, mein Lieber.«
»Genial«, wiederholte er laut.
Er steckte das Wunderding in einen freien Port an seinem Computer. Nach wenigen Befehlen öffnete sich ein Fenster mit der bekannten Linux Oberfläche auf seinem Hauptmonitor. Der Zwerg lebte. Er brauchte ihn nur noch für seine Zwecke zu konfigurieren.
»Khorosho«, murmelte sie.
Sie kehrte zu ihrer Werkstatt zurück, um baugleiche Chips in weitere Typen von Steckern einzubauen, wie er vermutete. Da sie nicht genau wussten, was sie vor Ort erwartete, mussten sie für alle gängigen Anschlüsse vorbereitet sein.
Nachdem auch der Tarnanzug des Trojaners zu seiner Zufriedenheit funktionierte, baute er die Schadsoftware zum ersten Mal in Fisiks Zwerg ein, ein trivialer Kopiervorgang. Etwas mehr Mühe bereitete der Probelauf. Der Zwerg musste automatisch anspringen, sobald er eingesteckt wurde. Das klappte erst nach einem Eingriff der Schöpferin, deren Hinterteil ihm dabei gefährlich nahe kam.
Der Countdown stand bei 2:47:23 als Vanya fluchend aufsprang.
»So funktioniert das nicht!«, rief er wütend.
Sein Bruder beschrieb das Problem. Die Rechenleistung des Monsters betrug nicht viel mehr als das Doppelte ihres eigenen schnellen Servers. So müssten sie hundert Jahre rechnen, um eine starke Verschlüsselung zu knacken. Andrei riss sich von seinem Computerspiel los, las den Countdown-Zähler des Todes laut ab und sagte:
»Visel, sieh mal nach.«
Seine Arbeit am Trojaner war zwar noch nicht erledigt, aber das Problem mit dem Monster hatte Priorität. Sie mussten es unter allen Umständen rasch lösen, sonst konnten sie einpacken. Die Bildschirme der Melnikovs glichen den Monitoren früher PCs: Shell Scripts mit kryptischen Befehlen ans Betriebssystem, endlose Logfiles mit den Antworten des Monsters und Zahlenfriedhöfe. Er benötigte einige Minuten, um zu begreifen, was Vanya dermaßen ärgerte.
»Gibt es keine Auswertung über die Auslastung der Prozessoren?«, fragte er.
Fedor deutete stumm auf das kleine Fenster mit der Ausgabe des ›top‹ Befehls, der Übersicht über die wichtigsten Durchsatzzahlen des Monsters. Vladimir schüttelte den Kopf.
»Das meine ich nicht. Ich brauche die genaue Auswertung über den Grad der Parallelverarbeitung. Wie viele Prozessoren waren aktiv in welcher Phase des Tests – so etwas.«
Die Brüder Melnikov sahen sich ratlos an. Wie sich bald herausstellte, wusste niemand im Bunker, wie man eine solche Auswertung aus dem Monster herauskitzelte.
»Das darf doch nicht wahr sein«, rief er aus. »Ohne diese Statistik fliegen wir im Blindflug.«
»Zwei Stunden«, meldete Andrei, nicht eben hilfreich.
»Statt auf die tickende Zeitbombe zu starren, solltest du besser deine Freunde bei der glorreichen Armee anrufen«, fuhr Vanya ihn an.
»Es sind nicht meine Freunde«, gab Andrei mürrisch zurück und bequemte sich endlich, sich aus dem Sessel zu erheben und zu ihnen ans Pult zu treten.
»Wo liegt das Problem?«
Vladimir antwortete, um Vanya Gelegenheit zu geben, sich zu beruhigen.
»Ich will wissen, auf wie viele Prozessoren die Rechenarbeit unseres Testprogramms verteilt wird. Das ist ja wohl das Mindeste, was man von einem Supercomputer verlangen kann.«
Unsicher, ob Andrei sein Anliegen überhaupt verstanden hatte, verfolgte er skeptisch, wie Andrei sich hartnäckig durchfragte, bis er endlich die richtige Person am Draht hatte.
»Moment«, sagte er und gab ihm den Hörer.
Die Person am andern Ende der Verbindung erwies sich als kompetente Frau. Sekunden später erfuhren sie die erschütternde Tatsache: Ihr Testprogramm war von einem einzigen Prozessor ausgeführt worden, keine Spur von Parallelverarbeitung. Die Frau am Draht gab gleich den entscheidenden Hinweis dazu:
»Sie sollten die Option ›openmp‹ nicht vergessen, wenn Sie mehr Rechenleistung benötigen.«
Er dankte und legte auf.
»Wir sind Idioten«, murmelte er, passte den Ausführungsbefehl fürs Testprogramm an und startete es erneut.
»49 Minuten«, verkündete Andrei.
Dann schwieg auch er. Alle warteten angespannt auf das Ende der Verarbeitung. Fedor brach schließlich das Schweigen:
»Es hat längst terminiert.«
Vladimir traute seinen Augen nicht, glaubte zuerst an einen Fehler. Erst nach eingehender Kontrolle entspannte er sich. Das Monster hatte keine Minute gebraucht, um den aufwendigen Test auszuführen.
»37 Minuten«, verkündete Vanya lachend.
»Heißt das …«
Weiter brauchte Andrei nicht zu fragen. Fisik klärte ihn auf:
»Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass unser Monster sich wahrscheinlich für das Codeknacken eignet.«
Fedor, der Architektor, fasste den Stand der Arbeiten anhand seiner