Vernichten. Hansjörg Anderegg

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Vernichten - Hansjörg Anderegg


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21 Minuten. Er würde es nicht schaffen, die Konfiguration und alle notwendigen Tests in der verbleibenden Zeit durchzuführen. Andererseits wusste nur er das, und er erwartete keine Überraschungen mehr, also gab er grünes Licht. Die Machbarkeit des Auftrags war erwiesen. Niemand im Bunker zweifelte mehr daran. Der namenlose Unbekannte konnte kommen.

      Er erschrak, als Fisik sich von hinten über ihn beugte.

      »Kannst du das bitte in korrektes Englisch übersetzen?«, hauchte sie, wobei die Lippen sein Ohr berührten, dass 100‘000 Volt stracks in seinen Schritt fuhren. »Dein Englisch ist viel besser als meins.«

      Sie presste die Daumen in seinen Nacken, bevor sie sich abstieß, um zu Andrei hinüber zu schweben. Ein stilles Gewitter entlud sich unter seinem Schreibtisch, während er ihren Zettel las. Er enthielt die knappe aber präzise Anweisung an den unbekannten Helfer vor Ort, was mit den intelligenten Steckern zu tun sei.

      Berlin

      Chris hatte es wieder nicht geschafft, Jamie die Freudenbotschaft zu überbringen. Der falsche Zeitpunkt, die falsche Stimmung: Ausreden gab es genug. Es blieb ja noch etwas Zeit, bis er es merken musste, tröstete sie sich und hob den Hörer ab. KHK Monika Weber vom LKA war am Apparat.

      »Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass wir die Ermittlungen einstellen.« Nach kurzer Pause fügte sie hinzu: »Einstellen mussten.«

      Chris hatte so etwas erwartet. Sie verstand Monika Webers Vorgesetzte sogar ein Stück weit. Man wollte den tragischen verdeckten Einsatz in Sankt Petersburg möglichst schnell vom Tisch haben und gab sich mit der fragwürdigen Erklärung der russischen Behörden zufrieden. Das deutsche Ehepaar Meier war zwischen die Fronten zweier Banden von Kinderhändlern geraten und hatte das leider mit dem Leben bezahlt. Klappe zu. Es war nicht die erste Vertuschungsaktion, der sie in ihrer Zeit beim BKA begegnete. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass die Akte zum Doppelmord auch in Sankt Petersburg längst geschlossen worden war. Zwecklos, beim russischen Innenministerium nachzuhaken. In dieser Beziehung herrschte für einmal Einigkeit mit Staatsanwältin Winter. Für die war der Fall, der so gefährlich heikel begonnen hatte, schon fast vergessen, während die Bilder und Berichte über misshandelte und missbrauchte Kinder noch frisch in ihrem Kopf herumgeisterten. Leere Augen ohne Hoffnung in Kindergesichtern, Jungen und Mädchen, die ihr Gesicht in den Händen verbargen, als hätten sie keins, bildgewordene seelische Grausamkeit, schlimmer als offene Wunden.

      »Verstehe«, sagte sie wie zu sich selbst. »Hat die Spur zum Galeristen Matulis etwas gebracht?«

      »Nicht wirklich. Die Mordwaffe ist zwar wahrscheinlich sein Revolver, aber es besteht kein Grund, an seiner Geschichte zu zweifeln. Der Revolver ist ihm bei einem Raub russischer Ikonen gestohlen worden. Es ist also durchaus plausibel, dass die Waffe jetzt in Sankt Petersburg auftaucht. Na ja – jedenfalls nicht ausgeschlossen.«

      Sie musste ihr zustimmen. Warum sollte eine Bande von Kinderhändlern nicht auch Verbindungen zur Kunstmafia haben? Die Tentakel der Russenmafia reichten weit. Aus einem Bauchgefühl heraus sagte sie:

      »Ich wäre Ihnen dankbar für die Unterlagen zu Lukas Matulis, falls es keine Umstände macht.«

      Monika Weber lachte bitter auf. »Viel ist es leider nicht. Wir haben versucht, seine Geschäftsreisen und die Art der Geschäfte nachzuvollziehen, stoßen aber überall ins Leere. Der Mann scheint ein unbeschriebenes Blatt zu sein, und jetzt ist die Akte geschlossen.«

      Das Dossier, das sie kurz nach dem Gespräch per E-Mail erhielt, verdiente diesen Namen tatsächlich nicht. Sie leitete es an den Kollegen Haase weiter. Wenn jemand in nützlicher Frist einen Menschen wie Lukas Matulis durchleuchten konnte, dann er.

      Beim nächsten Stopp an seiner Kaffeemaschine war das Dossier immerhin schon auf zwanzig Seiten angewachsen. Der Galerist wohnte in einer zur Festung ausgebauten Villa in Charlottenburg. Zwei Bodyguards, ein Mann und eine Frau, wichen seit Jahren nicht von seiner Seite. Die meiste Zeit befand er sich allerdings auf Geschäftsreisen, über die Haase bisher nichts herausgefunden hatte. Matulis besaß ein Flugzeug, eine Turbo-Prop-Maschine, die er oft selbst pilotierte. Ohne richterlichen Beschluss gab es deshalb keine Möglichkeit, ein genaues Bewegungsprofil zu erstellen. Es blieb nur die Vermutung, Matulis betreibe Geschäfte in ganz Europa, inklusive Oststaaten und Russland. Für die Tatzeit in Sankt Petersburg hatte ihm die Tochter Roze ein hieb- und stichfestes Alibi verschafft. Matulis blieb ein – zwar undurchsichtiger – Geschäftsmann.

      »Etwas ist seltsam«, sagte Haase, während sie die Nase der Arabica-Bohnen prüfte wie bei einem teuren Whisky. »Die Geschichte des Herrn Matulis und seiner Tochter lässt sich fast lückenlos etwa zwanzig Jahre zurückverfolgen, doch dann verliert sie sich im Nebel, als hätte es ihn vorher nicht gegeben.«

      »Er stammt aus dem ehemaligen Ostblock«, erwiderte sie, »der Eiserne Vorhang … Die damaligen Behörden waren nicht gerade für ihre offene Informationspolitik bekannt.«

      »Stimmt, aber der Eiserne Vorhang und die Abschottung des Ostens endeten 1989, einige Jahre früher. Warum finde ich keine Hinweise auf Matulis aus jener Zeit? Auch nicht in Litauen, notabene.«

      »Weil unsere Datenbanken Löcher aufweisen?«

      Haase lachte. »Oh ja, Sie sagen es, klaffende Lücken. Falls Matulis doch in pädophile Aktivitäten verstrickt ist, haben wir ohnehin Pech.«

      »Wie darf ich das verstehen?«

      Haase war nicht nur ein wandelndes Lexikon, wenn es um Polizeiarbeit ging. Er recherchierte auch überaus gründlich und hatte sich in kürzester Zeit mit den Themen Menschenhandel und Pädophilie vertraut gemacht, die eher die Sitte zu interessieren hatten als ihre Abteilung.

      »Die professionellen Kinderhändler operieren natürlich international«, erklärte er. »Unsere nationale INPOL-Datenbank nützt da wenig bis gar nichts, da sie kaum Informationen über Beziehungen, Strohmänner, Scheinfirmen etc. über die Landesgrenzen hinaus enthält. Es ist nahezu unmöglich, Personen oder Organisationen miteinander in Verbindung zu bringen, die in verschiedenen Ländern unter verschiedenen Namen operieren. Manchmal gelingt es über die Spur der Opfer, aber das ist eher Glückssache.«

      »Warum erstaunt mich das alles nicht?«, fragte sie die Kaffeetasse.

      »Das ist bekannt, ich weiß, aber es gibt neue Hoffnung – oder vielmehr: Es gab sie. Ich meine das neue Informationssystem von Europol in Den Haag. Das IS ist zwar immer noch im Aufbau, aber es hat schon im Testbetrieb wertvolle Dienste geleistet beim Aufdecken von Verknüpfungen zwischen Daten und Personen. Das IS umfasst verschiedene Datenbanken, und jetzt wird‘s interessant.«

      Er wartete, bis sie ihren zweiten Ristretto in der Tasse hatte, dann fuhr er fort:

      »Diese Woche hätte eine neue Datenbank aufgeschaltet werden müssen. Seit zehn Jahren läuft das Geheimprojekt. Offiziell gibt es keine Information darüber, aber die Spatzen pfeifen es von den einschlägigen Dächern. Der Codename der neuen Datenbank lautet PD-27. Fragen Sie mich nicht, wie ich an die Information gelangt bin.«

      Sie lachte. »Ich will es nicht wissen.«

      »Also – PD-27 fasst zum ersten Mal alle Falldaten in den Bereichen Menschenhandel, Kinderhandel insbesondere, Kinderprostitution, Kindesmisshandlung und Pädophilie europaweit zusammen.«

      »Und dafür brauchen die bei Europol zehn Jahre?«

      »So ist es. Der Grund ist einfach. PD-27 ist nicht nur eine Sammlung von AWFs …«

      »AWF?«

      »Analysis Work Files, Analysedaten zu den Fällen, wie sie in den bei Europol angeschlossenen Ländern anfallen. PD-27 ist viel mehr. Zu jedem Fall, zu jedem AWF sind Unmengen von standardisierten sogenannten Tags erfasst worden, die es nur auf dieser Datenbank gibt. Erst durch diese in mühsamer Handarbeit erfassten Tags werden die Falldaten überhaupt maschinell verwertbar. Sie ermöglichen es, Muster zu erkennen und Verbindungen aufzuzeigen, die bisher verborgen blieben.«

      »Werden es ermöglichen«, korrigierte sie.

      »Wie bitte?«

      »Sie


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