Vernichten. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.in die Nähe der Siedlung aus der Sowjetzeit. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit gefühlten hundert anderen bedauernswerten Passagieren in den Bus pferchen zu lassen. In Sekundenschnelle schwamm er im eigenen Schweiß. Möglicherweise war es der Schweiß der anderen, so genau konnte man das nicht unterscheiden. Es war Hochsommer in Sankt Petersburg und in diesen verdammten Dingern herrschte drinnen wie draußen stets dieselbe Temperatur, als hätte noch niemand Klimaanlagen erfunden. Er hatte vergessen oder verdrängt, wie schlimm die Busfahrt zur Siedlung in der heißen Jahreszeit sein konnte, denn seit er volljährig war, fuhr er mit dem alten Lada zur Arbeit, den sein Freund Andrei Churkin gegen die Mercedes S-Klasse eingetauscht hatte. Leider war das Vehikel nun an den Spätfolgen von Andreis Rennen im holprigen Gelände um die Datscha krepiert. Er musste sich dringend um Ersatz kümmern.
Das Hemd klebte am Körper, nasse Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht wie nach einem Bad in der Newa, als er in der Siedlung ankam. Lautlos wie ein Schatten huschte er an der Tür der Nachbarin vorbei. Er hatte die Wohnung schon fast erreicht, als er den gefürchteten Klick hinter seinem Rücken hörte. Nachbarin Milena war wie stets auf der Lauer und stand eine Sekunde später bei ihm.
»Sie hat heute wieder gar nichts gegessen, Wowotschka«, sagte sie vorwurfsvoll, als hätte er die Suppe verweigert.
Milena und seine Mutter waren die einzigen Menschen, die ihn so nennen durften, schließlich kannten sie ihn seit der Geburt.
»So geht es nicht weiter, mein Junge. Sie muss ins Krankenhaus.«
»Du weißt ja, wie sie reagiert. Sie ist stur wie eine Achtzigjährige.«
»Wem sagst du das, aber so wird sie sterben.«
Er war es überdrüssig, darüber zu reden, solang er doch nichts ändern konnte.
»Sterben müssen wir alle«, antwortete er unwirsch und betrat die Wohnung.
»Bist du das, Wowotschka?«, rief die Mutter, begleitet von trockenem Husten.
Ihrer schleppenden Ausdrucksweise entnahm er, dass die gute Marinka Lukova ziemlich durstig gewesen sein musste. Auch dagegen war er machtlos. Das gute Salär ermöglichte ihm wenigstens, dafür zu sorgen, dass sie anständigen Wodka soff. Statt zu antworten, eilte er ans Fenster, um den abgestandenen Rauch hinauszulassen.
»Willst du mich umbringen?«
Sie schaltete den Ton des Fernsehers aus und betrachtete ihn mit wässrigen Augen.
»Komm her, mein Junge, gib deiner Mamotschka ein Küsschen.«
Er tat ihr den Gefallen, löste sich aber sofort wieder aus ihrer Umarmung.
»Ich bin doch kein kleiner Junge mehr«, sagte er ärgerlich.
»Wo warst du denn die ganze Zeit? Und wie du aussiehst! Ganz verschwitzt.«
»Danke für den Hinweis. Ich war arbeiten. Dein Wowotschka hat einen Job, schon vergessen? Manchmal kann man den Computer nicht einfach um fünf abschalten in meinem Beruf. Das würde Sergei gar nicht gefallen.«
»Ach, Papa Churkin«, seufzte sie und führte die Flasche zum Mund, »ein guter Mann. Weißt du, was er für dich getan hat? Das werde ich ihm nie vergessen.«
Natürlich wusste er es. Er war ja selbst dabei gewesen, sozusagen. Die Antwort sparte er sich. Sie wollte die Geschichte sowieso ungefähr jeden Tag einmal erzählen.
»Weißt du«, begann sie, um sogleich eine Pause einzulegen und die nächste Papirossi anzuzünden. »Weißt du, als ich damals deinen Marschbefehl für Tschetschenien gesehen habe, ist mein Herz stehengeblieben. Ich habe sofort Sergei angerufen, und weißt du, was er gesagt hat?«
Er versuchte, am Fenster etwas frische Luft aufzuschnappen und wartete.
»Keine Sekunde hat er gezögert, der gute Papa Churkin, nicht eine Sekunde. Sein Andrei ist nämlich auch eingezogen worden. Er hat mir nur gesagt: Machen Sie sich keine Sorgen, Marinka. Ich kümmere mich darum.« Sie nahm einen tiefen Zug, bevor sie versonnen lächelnd fortfuhr: »Von da an haben wir kein Wort mehr von der Armiya gehört. Stimmt‘s, Wowotschka? Es hat noch Suppe auf dem Herd, brauchst sie nur zu wärmen.«
»Vielen Dank.«
Sie schaltete den Ton wieder ein. Gleichzeitig klingelte sein Handy. Andrei Churkin war am Apparat.
»Wir müssen sofort in den Bunker.«
Er war der Chef, dem man besser nicht widersprach. Dennoch wagte er, wegen des Horrors im Bus einzuwenden:
»Jetzt noch? Muss das sein?«
»Bist du zu Hause?«
»Ja.«
»Ich hole dich ab. Gib mir zwanzig Minuten.«
Der futuristische Bau aus Metall und Glas am Petrogradskaya Damm strahlte nachts noch mehr selbstzufriedene Zuversicht aus als am Tag. Das halbe Viertel darum herum gehörte der Churkin Handelsgesellschaft. Obwohl er nun schon fast fünf Jahre als Programmierer für Papa Churkin arbeitete, hatte er nur eine vage Vorstellung davon, womit der eigentlich sein Geld verdiente. Sicher, der Handel mit hochwertigen Maschinen und Ersatzteilen vor allem aus Westeuropa war ein einträgliches Geschäft, doch wurde er den Verdacht nicht los, die ganz große Kohle stamme von den geheimen Regierungsaufträgen, die sie im Bunker im achten Stock, unmittelbar unter der Chefetage, ausführten. Mit Handel hatte ihre Arbeit nicht viel zu tun. Eher mit Spionage, oder wie es politisch korrekt heißt: IT Security. Sie produzierten Sicherheitssoftware und veranstalteten Hackerangriffe, um die Sicherheit der Systeme des weitverzweigten Churkin Imperiums, von Regierungsstellen und der Armee zu überprüfen. Bei jedem Hit rollten Köpfe und flossen fette Prämien. Er konnte sich nicht beklagen.
Andrei hatte während der ganzen Fahrt geschwiegen, was sonst kaum je der Fall war. Sichtlich nervös sprang er aus dem Wagen, kaum stand er auf dem Parkplatz in der Tiefgarage, der mit goldener Schrift für ihn reserviert war.
»Willst du mir nicht endlich verraten, was Sache ist?«
»Sitzung mit Gott«, antwortete er nur, hielt seine Karte an den Sensor des Lifts und gab die PIN ein.
Eine Sitzung mit Sergei Churkin persönlich. Kein Wunder war sein Sohn nervös. Der alte Churkin verlangte viel und konnte sehr ungehalten werden, wenn man ihn enttäuschte. Das galt auch für Familienmitglieder. Im Lift gab es keinen Hinweis darauf, dass die Etagen acht und neun überhaupt existierten, obwohl der Zugang nur über den Aufzug möglich war. Panzertüren versperrten die Sicherheitstreppen. Türen, die sich nur im Katastrophenfall automatisch öffneten – wurde zumindest behauptet. Die Bezeichnung Bunker für ihr Büro lag also auf der Hand.
»Na endlich!«, begrüßte sie Fisik, die Physikerin, ungehalten. »Ich wollte schon wieder abhauen. Was gibt es denn so Wichtiges?«
»Abwarten«, murmelte Andrei und gab ihr einen Kuss, den sie nur flüchtig erwiderte.
»Vielleicht klärt uns das Visel auf, wenn der Lider schweigt«, brummte Vanya, der ältere der Brüder Melnikov, den alle nur Ekspert nannten, weil er jeden Fehler in jedem Programm entdeckte.
Vladimir fand seinen Spitznamen Visel ziemlich daneben. So flink wie ein Wiesel war er gar nicht oder tickten die andern einfach zu langsam? Andrei hingegen liebte seinen Titel Lider, der Leader. Er war der Boss, und das musste auch der Spitzname widerspiegeln.
Normalerweise herrschte eine gelöste Atmosphäre in Bunker, so hart sie auch arbeiteten. Andrei, der am wenigsten von Hard- und Software verstand, sorgte gerne mit einem lockeren Spruch oder anzüglichen Witzen für Gelächter. Nicht an diesem Abend. Er saß an seinem Pult und starrte abwesend mit eingezogenen Schultern auf sein Smartphone, ängstlich beobachtet von Fedor, dem jüngeren der Brüder Melnikov. Fedor, der Architektor, war das genaue Gegenteil seines extravertierten Bruders Vanya. Er war der stille Konstrukteur, hörte gut zu und entwarf die raffinierteste Systemarchitektur aus dem Nichts, während Vanya lauthals jede Schwachstelle kommentierte und die Software gnadenlos in ihre Bestandteile zerlegte, bis kein unerklärter Befehl und keine dubiose Konstante mehr übrig blieben.
Fisik