Tödliche Mutterliebe. Kirsten Sawatzki
Читать онлайн книгу.des Opfers. Die Fingerkuppen waren noch geschwärzt von der Tinte, mithilfe derer man ihre Fingerabdrücke genommen hatte. Einige Fingernägel waren abgebrochen, was ein eindeutiger Hinweis darauf war, dass sich die Frau gewehrt haben musste. Sicherlich hatten sich die Kollegen von der Spurensicherung die Finger genau angesehen und entsprechende Spuren, wenn vorhanden, gesichert.
Dr. Salonis sagte: „Sie hatte auf jeden Fall sehr heftigen Geschlechtsverkehr. Es ist natürlich schwer zu sagen, ob einvernehmlich oder nicht, da Menschen mit Fetisch oft auf Vergewaltigungsspiele stehen.“ Sie machte einen Abstrich in der Hoffnung, Sperma und somit DNA sichern zu können. Ihr Assistent half ihr, die Frau umzudrehen, damit sie auch eventuelle Spuren im Analbereich nicht übersahen.
Wieder auf dem Parkplatz des gerichtsmedizinischen Instituts angekommen, atmete Laura die frische, saubere Luft ein, bevor sie in ihren Wagen stieg. Trotz der Kälte fuhr sie mit geöffnetem Fenster zum Präsidium. Sie kam sich vor wie jemand, der kurz vor dem Ertrinken gewesen war und nun endlich wieder Luft bekam. Gierig sog sie die klare Luft ein, um den Geruch des Obduktionssaales in ihrer Lunge zu verdünnen. Sie hatte sich nichts anmerken lassen; während der ganzen Prozedur hatte sie aufmerksam zugehört. Nicht ein einziges Mal hatte sie weggesehen, aber als Dr. Salonis mit einem Y-Schnitt den Brustkorb geöffnet hatte, war es ihr doch anders geworden.
Sie lief zum Besprechungszimmer. Schon im Flur hörte sie die Stimme des Polizeipsychologen. Als sie eintrat, blickte sie in die müden Gesichter der Kollegen. Sommer und Ackermann waren schon da, ebenso Armin Elszer von der Spurensicherung, der sich an einem Becher Kaffee festhielt. An einer Wand des Raumes war ein Whiteboard aufgestellt, an dem Fotos vom Tatort und dem Opfer hingen. Sie setzte sich auf den einzigen noch freien Stuhl am Kopfende des Tisches. Einige Köpfe hatten sich kurz zu ihr umgedreht, doch dann hatten sich alle wieder Dr. Gerhard Adam zugewandt, der mit ruhiger, fast hypnotisierender Stimme sprach.
„Natürlich liegt es im Auge des Betrachters. Fetisch kann viele Formen haben. Für manche Menschen ist es ganz natürlich, vom Partner dominiert zu werden. Andere wiederum möchten dominieren. Dann gibt es Leute, die möchten einfach nur zusehen.“
„Wie?“, fragte Sommer. „Die wollen zusehen, wie jemand vergewaltigt wird?“
„Ja“, Adam nickte bestätigend mit dem Kopf. „Und das Geschlecht spielt dabei keine Rolle.“ Laura wandte sich an Elszer: „Was habt ihr gefunden?“
„Na ja, das Seil kann man in jedem Baumarkt kaufen. Die Karabinerhaken auch. An der Leiche selbst haben wir Fasern gefunden.“
Er zog einen Bericht aus der Mappe, die vor ihm auf dem Tisch lag, und reichte ihn Laura. Zuoberst lagen Aufnahmen eines Elektronenmikroskops.
„Die Kollegen vom Labor sagen, dass es sich hier um graue Velourfasern eines Kofferraumteppichs von einem Mercedes Benz Coupé handelt. Das deckt sich mit den Reifenspuren, die wir auf dem Gelände der Mühle gefunden haben.“
Laura überflog den Bericht. „Somit wissen wir, dass der Täter sein Opfer mit solch einem Fahrzeug zu der alten Mühle transportiert hat.“
„Das Einzige, was mich stutzig macht“, warf Elszer ein, „ist der Lolli. Wieso hinterlässt jemand an einem Tatort einen Lolli?“
„Wie, so ein richtiger Lolli?“, fragte Sommer.
“Ja!“, Elszer reichte ihm das Foto, auf dem ein gelb-weißer, kegelförmiger Lutscher mit einem kleinen roten Rennauto als Griff abgebildet war. Sommer reichte es an einen Kollegen weiter und meinte: „Der ist ja richtig oldschool, die habe ich als Kind auch gerne gegessen.“
Laura schaute auf das Bild. Sie erinnerte sich, dass auch sie als Kind solche Lollis von ihrer Mutter geschenkt bekommen und diese immer toll gefunden hatte. In einer Zeit, in der Kinder nicht täglich Süßigkeiten bekommen hatten, war so ein Lolli schon etwas Besonderes gewesen. Sie überlegte, ob es diese Art Lolli überhaupt noch zu kaufen gab. „Gibt es die heute noch?“
Elszer antwortete: „Ich hab mal im Internet recherchiert, die kann man online bestellen und sie sind gar nicht mal günstig.“
„Meint ihr, der Mörder isst diese Lutscher und hat den verloren?“
„Das glaube ich nicht“, warf Dr. Adam ein. In einer Hand hielt er das Foto, das die Runde gemacht hatte und nun bei ihm gelandet war. Alle schauten den Psychologen an, der die letzten Minuten ruhig und unscheinbar am anderen Tischende gesessen hatte.
„Für den Mörder ist dieser Lolli ein Symbol.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass dieses Sinnbild auch ein Zeichen an uns sein soll. Er will uns etwas mitteilen, sonst hätte er den Lutscher nicht so drapiert, dass wir ihn garantiert nicht übersehen.“
„Haben Sie auch eine Theorie, was er uns sagen will?“
Die Frage kam von Sommer, und der leichte Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören. Der Psychologe ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. Unbeirrt fuhr er fort: „Ich bin der festen Überzeugung, dass der Mörder in seinem Wesen noch kindlich ist. Er möchte sich beim Opfer mit einem Lolli entschuldigen.“
„Von einem Lolli wird die Frau auch nicht wieder lebendig!“, sagte Ackermann sarkastisch. „Was hat es mit der Zahl auf sich?“ fragte Laura.
Der Polizeipsychologe sah Laura fest in die Augen.
„Die Zahl ist sehr wichtig für unseren Täter, sonst hätte er sein Opfer damit nicht markiert.“
„Aber warum die Dreizehn?“, fragte Elszer.
„Die Dreizehn gilt in vielen Kulturen als Unglückszahl. Die irrationale Furcht vor der Zahl Dreizehn wird Triskaidekaphobie genannt. Menschen mit dieser Phobie meiden Räume oder Stockwerke mit dieser Zahl oder die Dreizehn allgemein. Diese weitverbreitete Phobie beziehungsweise dieser Aberglaube geht so weit, dass in Gebäuden oftmals der dreizehnte Stock fehlt oder nicht ausgeschildert wird. In Flugzeugsitzen wird des Öfteren die dreizehnte Reihe in der Nummerierung ausgelassen. Auch in vielen Krankenhäusern oder Hotels wird auf ein Zimmer mit der Nummer dreizehn verzichtet, in vielen Motorsportserien auf die Startnummer dreizehn. Ich denke allerdings, die Dreizehn hat für unseren Täter eine hohe Symbolkraft. Vielleicht ist er Esoteriker. Im Tarot ist die Dreizehn dem ‚La Mort‘, dem Tod, zugeordnet. Vielleicht ist die Unbekannte aber schon sein dreizehntes Opfer oder er zählt rückwärts, dann werden noch zwölf weitere Opfer folgen.“
Kapitel 2
Laura fuhr nach Hause, sie war müde und frustriert. Das Leben bei der Mordkommission war anstrengender, als sie gedacht hatte. Heute Nacht war sie von den Kollegen aus dem Schlaf gerissen worden, weil sich zwei aus Rumänien stammende Männer gestritten hatten. Nun lag der eine im Kühlraum der Rechtsmedizin und der andere saß in Untersuchungshaft. Er hatte sich den ganzen Tag geweigert, mit Laura zu reden. Er hatte einfach nur dagesessen und ihr mit seinen dunklen Augen hasserfüllte Blicke zugeworfen. Auch der herbeigerufene Dolmetscher hatte ihn nicht zum Reden bringen können. Laura war sich der höhnischen Blicke der Kollegen bewusst gewesen, weil sie es nicht geschafft hatte, den Rumänen zu einer Aussage zu bewegen. Aber sie würde nicht klein beigeben. Morgen war ein neuer Tag. Ihre Gedanken schweiften ab zu ihrem anderen ungeklärten Mordfall. Sie dachte an die tote Frau, die vor Wochen in der Mühle gefunden worden war. Es machte sie fast verrückt, dass sie in diesem Fall nicht weiterkamen. Weder hatten sie das Opfer identifizieren können, noch gab es irgendwelche konkreten Hinweise auf den Täter. Seit mehr als zwei Monaten arbeiteten sie nun mit Hochdruck an der Spurenauswertung. Über das Opfer wussten sie lediglich, dass die Frau etwa dreißig Jahre alt war und vielleicht aus Russland stammte. Ihre Fingerabdrücke waren nicht in der Datenbank erfasst. Auch der Vergleich von Röntgenaufnahmen ihrer Zähne mit denen von Vermissten hatte kein Ergebnis gebracht. Wenn sie nie straffällig geworden war und niemand sie als vermisst meldete, würden sie wahrscheinlich nie herausfinden, wer sie war.
Zu allem Übel hatte ihre Mutter heute Geburtstag und sie hatte immer noch kein Geschenk. Wie sie diese Familienfeierlichkeiten hasste. Ihre Mutter hatte sicherlich den ganzen Tag gebacken und gekocht, um die ganze Verwandtschaft zu verköstigen,