Tödliche Mutterliebe. Kirsten Sawatzki
Читать онлайн книгу.fehlt oder benötigt wird, kann im Laden gekauft werden.“
„Sie kam mit einem ganzen Koffer voll Sexspielzeug an?“, fragte Ackermann, und Laura merkte, dass er versuchte, nicht allzu überrascht zu klingen.
„Das ist nichts Ungewöhnliches, viele haben ja auch noch Kostüme dabei und ...“
Das Klingeln der Türglocke unterbrach ihn. Automatisch machte er eine Bewegung in Richtung Tür. Mit Blick auf seine Armbanduhr sagte er: „Das werden wohl die Gäste sein, die sich für neun Uhr angemeldet hatten. Ich habe versucht, sie zu erreichen, aber unter der Handynummer, die sie angegeben haben, waren sie nicht erreichbar. Ich sollte ihnen öffnen und sagen, dass sie heute leider nicht bleiben können.“
„Ja“, sagte Laura und stand auf, „wir werden Sie begleiten.“
Kapitel 4
Laura und Ackermann standen vor einem Mehrfamilienhaus in der Mannheimer Neckarstadt. Beide zögerten, auf die Tür des alten Sandsteingebäudes zuzugehen, sie hassten, was sie nun tun mussten. Sie würden das Leben zweier Menschen auf unwiederbringliche Weise verändern, indem sie die Mitteilung überbrachten, dass ihre Tochter getötet worden war. Sie sah Ackermann an, der die Hand hob, um den Klingelknopf der Familie Koch zu drücken, und seufzte. Eine Frau mittleren Alters öffnete ihnen die Tür. Sie wirkte sehr gepflegt mit ihrem schulterlangen Pagenschnitt und der dezenten Perlenkette. Sie lächelte die beiden Beamten fragend an. Laura merkte, wie sich ihr Hals zuschnürte. Sie räusperte sich: „Frau Koch?“
Die Dame nickte freundlich: „Ja, was kann ich für Sie tun?“
„Wir sind von der Mordkommission.“
Im Bruchteil einer Sekunde veränderten sich die Gesichtszüge der Frau und ihre Augen begannen zu flackern. Eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht, aber sie wischte sie nicht weg, sondern starrte auf den Dienstausweis, den Laura ihr hinhielt.
„Mein Name ist Laura Braun und das ist mein Kollege Falk Ackermann. Dürfen wir reinkommen?“
„Was ist passiert? Ist etwas mit Anna? Sie ist gestern nicht ...“ Die Stimme der Frau brach und Tränen liefen über ihre Wangen. Ackermann nahm die Frau sanft am Arm und schob sie behutsam in ihre Wohnung.
„Frau Koch, setzen Sie sich doch!“ Er drückte sie vorsichtig, aber bestimmt auf einen Sessel im Wohnzimmer. Laura war überrascht, wie einfühlsam er war. Vorsichtig sagte sie: „Frau Koch, heute Morgen haben wir eine Frau gefunden. Wir nehmen an, dass es sich um ihre Tochter Anna handelt.“
Eine Stunde später stieg Laura die Stufen zu Annas Wohnung hinauf. Annas Mutter lag unten im Wohnzimmer auf der Couch und wurde von einem Arzt behandelt.
Sie war zusammengebrochen. Zum Glück war ihr Mann, der sich als Dr. Koch vorgestellt hatte, gerade nach Hause gekommen. Er war ein hochgewachsener, schlanker Mann mit intelligenten Augen und schien erheblich älter als seine Frau zu sein. Wie Laura später erfuhr, war er Physiker mit einer Dozentenstelle an der Uni Heidelberg. Sein hageres, blasses Gesicht war noch eine Spur bleicher geworden, als er den Grund für den Besuch der Polizisten erfahren hatte. Mit zitternder Hand war er sich immer wieder durch das weiße Haar gefahren und hatte versucht, seine Frau zu beruhigen. Mit sanfter, aber gebrochener Stimme hatte er unablässig auf sie eingeredet. Aber seine Frau, die ihr einziges Kind verloren hatte, hatte auf seine Worte nicht reagiert. Ackermann hatte schließlich den Notarzt gerufen.
Ein Stockwerk höher stand Laura auf der Türschwelle zur Annas Wohnung. Es war vielmehr ein ausgebauter Dachboden mit einem großen Zimmer, einer Küchenecke und einem winzigen Badezimmer. Annas Vater hatte erzählt, dass sie für Anna den Speicher hergerichtet hatten, damit sie ihr eigenes kleines Reich hätte. Als Erzieherin hätte sie nicht viel verdient und sich keine eigene Wohnung in Mannheim leisten können. Außerdem wäre von hier aus der Kindergarten, in dem sie arbeitete, gut zu Fuß zu erreichen. Letztlich seien die Eltern auch froh gewesen, ihre Tochter so weiter in ihrer Nähe zu haben. Laura sah sich langsam im Raum um. Sie versuchte sich vorzustellen, wie Anna von der kleinen zweisitzigen Couch aufstand und zu dem Bett ging, das mit Bettwäsche bezogen war, auf dem ein Schaf im Vampirkostüm abgebildet war. „Ich will kuscheln“ stand darüber. Auf dem Kopfkissen saß ein Plüschschaf, das genauso aussah wie das Schaf auf der Bettwäsche. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass die Frau, die sie heute Morgen in dieser bizarren Wohnung gefunden hatten, hier gewohnt haben sollte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Die Frau, die jetzt im Leichenschauhaus lag, hatte doch unmöglich in einem Bett schlafen können, das mit Schafsbettwäsche bezogen war. Sie ging zum Regal und überflog die Bücher. Nicht ein Titel, der ihre Aufmerksamkeit erregt hätte. Neben dem Regal hing ein gerahmtes Foto. Es zeigte eine Gruppe Teenager vor einem Reisebus. Unter dem Bild stand „Abi-Abschiedsfahrt nach London 2006“. Sie sah sich die Gesichter der jungen Leute an und erkannte Anna, die lächelnd in die Kamera blickte. Schon damals trug sie Kleider im Stil der vierziger Jahre, wodurch sie sich von den der Mode entsprechend gekleideten Klassenkameraden abhob. Laura wandte sich ab und öffnete zögernd eine Tür des Kleiderschranks. Ein Hauch Parfüm schlug ihr entgegen. „Der Blick in den Kleiderschrank einer Frau ist etwas sehr Persönliches. Kleider sagen viel über die Trägerin aus“, dachte Laura. Sie fand aber nur ganz normale Jeans, Pullis und Jacken. Sie öffnete eine weitere Schranktür. Hier war die Kleidung verstaut, die sie erwartet hatte. Mode der Vierziger im Burlesk-Stil. Sie durchsuchte den Schrank, schob dabei die Kleider von der einen zur anderen Seite und hob Pullis, Wäsche und Blusen hoch. Unten auf dem Boden standen feinsäuberlich aufgereihte Schuhkartons. Sie hob jeden Deckel an. Riemchenpumps, Lackschuhe und – in einem der größeren Kartons – ein Laptop. Endlich etwas, das sie vielleicht weiterbringen würde.
Laura nahm einen Schluck Kaffee, setzte die Tasse wieder ab und streckte sich. Ihr Rücken schmerzte vom Sitzen am Laptop. Seit zwei Stunden saß sie nun schon davor und schaute sich die Fotos vom gestrigen Tatort an. Die Bilder der ans Andreaskreuz genagelten unbekannten Frau erschreckten sie aufs Neue. Wieder fragte sie sich, wie lange die Frau wohl gelitten hatte, bevor dieses Monster ihr die tödliche und erlösende Wunde beigebracht hatte. Sie sah sich noch einmal den geschundenen Körper an. Die unzähligen Striemen, verursacht durch verschiedene Peitschen, die sie am Tatort gefunden hatten. Die Kollegen im Labor hatten Hautpartikel und Blut daran ausgemacht, die sie der Frau hatten zuordnen können. Die Brüste sahen besonders schlimm aus. Wo sich normalerweise die Brustwarzen befanden, waren zwei riesige, blutverkrustete Fleischwunden zu sehen. Instinktiv verschränkte Laura ihre Arme vor der Brust. Sie klickte weiter. Ihr Blick blieb an der Großaufnahme der rechten Hand hängen. Ein grobes Seil, wahrscheinlich aus Hanf, war fest um die Handgelenke des Opfers gebunden. Es hatte sich tief in ihre Haut eingeschnürt. Laura konnte sich vorstellen, wie die schmerzgepeinigte Frau sich gewunden haben musste in dem verzweifelten Kampf, sich zu befreien. Wie sie an den Fesseln gezogen haben musste. Aber ihr Peiniger hatte Knoten verwendet, die sich durch ihre Bewegungen immer mehr zugezogen hatten, bis die Blutversorgung zu den Händen abgebunden war, bis sich ihre Hände bläulich verfärbt hatten und dick angeschwollen waren. Es schien, als hätte sie riesige blau-violette Handschuhe an. Handschuhe, durchstoßen mit je einem großen Nagel.
Einige Klicks später erschien das Bild von Anna Koch. Abermals musste sie an Elisabeth Taylor in jungen Jahren denken. Nun wussten sie auch, warum Annas Leiche unversehrt war. Die Obduktion heute Morgen hatte ergeben, dass sie an Herzversagen gestorben war. Dr. Salonis meinte, dass es durchaus möglich wäre, dass sie sich zu Tode geängstigt hatte. Was Laura sich gut vorstellen konnte. Wenn man bedachte, dass Anna stundenlang gefesselt in einer engen, stickigen Kiste im Boden gelegen hatte, über sich den Deckel einer Falltür, unfähig, sich zu bewegen. So eng geschnürt, dass sie kaum hatte atmen können, während die Schreie der anderen Frau dumpf durch das Holz gedrungen waren. Einer Frau, die sie vermutlich gekannt hatte. Einer Frau, die stundenlang gelitten hatte. Deren Schreie Anna sicherlich durch Mark und Bein gegangen waren. Sie musste Höllenqualen gelitten und entsetzliche Todesangst gehabt haben.
Ihr Handy klingelte und riss sie aus ihren Gedanken. Ein Blick auf das Display zeigte ihr, dass es sich um das kriminaltechnische Labor handelte.
„Braun?“, meldete sie sich.
„Hi, hier ist Ralf