Tödliche Mutterliebe. Kirsten Sawatzki
Читать онлайн книгу.könnte nicht satt werden. Und ganz bestimmt würde sie wieder von den Geschenken enttäuscht sein. Ihr Vater würde sich mit Sicherheit ein Bier nach dem anderen genehmigen, denn das war seine Art, mit so einem Tag fertig zu werden. Das kannte Laura schon. Die Einzige, die ihre Mutter nicht enttäuschen würde, würde ihre Schwester sein. Die würde wieder einen tollen Kuchen mitbringen und das beste Geschenk. Silke war in den Augen ihrer Mutter das Vorzeigekind. Fürsorgliche Tochter, liebende Mutter von zwei Kindern und Ehefrau eines Ingenieurs. Alles das, was Laura nicht war und zurzeit auch nicht sein wollte. Zu Hause angekommen versorgte sie mit schlechtem Gewissen die hungrig und vorwurfsvoll ihr um die Beine streichende Emma. Schon wieder gab es keine Zeit für ausführliche Streicheleinheiten, ein Napf voll Futter musste genügen.
„Was für eine Rabenmutter du hast, Kätzchen“, murmelte sie und verschwand im Bad. Frisch geduscht und mit einer Schachtel Pralinen, die sie im Vorbeifahren an der Tankstelle gekauft hatte, in der Hand klingelte Laura an der Tür ihrer Eltern. Ihr Vater öffnete. „Na, da bist du ja endlich, meine Große, schön, dass du gekommen bist.“ Er nahm sie in den Arm. Zweifellos hatte er schon den einen oder anderen Schluck getrunken. Stimmengewirr kam aus dem Wohnzimmer, anscheinend waren alle schon da und sie war wie immer die Letzte. Laura atmete tief durch. Im selben Moment kam Silke aus der Küche, mit einer großen dampfenden Schüssel im Arm. Wie immer war sie perfekt gestylt, wie immer sah sie aus, als käme sie direkt vom Friseur, und wie immer war sie sichtlich teuer gekleidet. Im Vorbeigehen drückte sie Laura einen Kuss auf die Wange und flüsterte dabei verschwörerisch:
„Du solltest rennen, so lange du noch kannst, Schwesterherz!“
„Warum?“, fragte Laura, aber ihre Schwester war schon verschwunden. Ihr Vater führte sie ins Wohnzimmer, wo die gesamte Verwandtschaft am Esstisch saß und sich die Vorspeise schmecken ließ. Alle schwatzten und begrüßten sie herzlich. Ihre Mutter hatte gerade eine Schüssel Gemüse auf den Tisch gestellt. Sie warf Laura einen wütenden Blick zu, kam auf sie zu und zog sie mit sich in die Küche. Wo es sonst so penibel aufgeräumt war, sah es heute aus wie in einer Großküche. Die Arbeitsplatte war übersät mit dampfenden Schüsseln voll mit selbst gemachten Knödeln und Spätzle sowie Platten mit gebratenem Hühnchen und Rinderbraten. Auf dem Herd köchelte irgendetwas vor sich hin und verströmte einen leckeren Duft. Der Küchentisch stand voll mit verschiedenen Kuchenbehältern mit selbst gebackenen Torten und Kuchen für den Kaffee nach dem Essen, die nur darauf warteten, serviert zu werden. So wie Laura ihre Verwandtschaft kannte, würde diese erst gehen, wenn alles verputzt war. Regina Braun war es gewohnt, für viele Menschen zu kochen, und sie war nur glücklich, wenn es allen schmeckte.
„Wo warst du so lange? Immer bist du zu spät! Nicht einmal an meinem Geburtstag schaffst du es, pünktlich zu sein. Außerdem hätte ich deine Hilfe gebraucht“, zischte Regina Braun und füllte braune Soße in eine vorgewärmte Sauciere. „Gut, dass wenigstens auf deine Schwester Verlass ist!“
„Ich musste länger arbeiten. Wir haben zurzeit einen schwierigen Fall“, versuchte Laura, sich zu rechtfertigen. Aber ihre Mutter würdigte sie keines Blickes und machte sich daran, Sahne in die Soße zu rühren. Wenn ihre Kollegen sie so sehen würden. Im Dienst war sie die toughe Polizistin. Bei ihrer Mutter war sie das kleine Mädchen, das wieder einmal zu spät zum Essen gekommen war und gleich Stubenarrest bekommen würde.
„Jetzt komm rüber und iss! Und erzähle ja nicht von deiner abscheulichen Arbeit!“
Mit diesen Worten drückte Regina Braun ihrer Tochter die Sauciere in die Hand. Sie selbst nahm die Fleischplatten.
„Ich darf eh nicht über den Fall reden“, setzte Laura an, aber ihre Mutter war schon vor ihr ins Wohnzimmer gegangen und überhörte Lauras Worte.
Ich verlasse ihr Zimmer und ziehe leise die Tür hinter mir zu.
Ich lehne mich mit dem Rücken an die Tür und schließe die Augen. Ich atme tief und stoßweise. Meine Lungen füllen sich mit frischer Luft, die durch das leicht geöffnete Fenster in den halbdunklen Flur dringt. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich die heiße, verpestete Luft, die ich eben in ihrem Zimmer eingeatmet habe, nicht mehr aus meinen Atemwegen bekomme. Meine Lunge brennt förmlich und ich fühle mich wie ein Fisch, der in einem Netz gefangen ist, welches gerade die Wasseroberfläche durchbricht und ihn aus dem kühlen, lebenswichtigen Nass zieht.
Ich streife die Latexhandschuhe ab. Angeekelt werfe ich sie in den Mülleimer, der neben der Tür steht. Wenn ich nur alles so einfach abstreifen könnte wie diese Handschuhe! Ihren Geruch, ihren Anblick, den Klang ihrer Stimme. Wenn ich doch nur die Erinnerungen ablegen könnte. Erinnerungen, die mich täglich quälen. Erinnerungen, die nachts meine Träume in Albträume verwandeln.
Ich begebe mich in mein Zimmer. Wie immer zähle ich die Schritte. Ich nehme mir ständig vor, meine Schritte nicht zu zählen. Aber doch tue ich es immer wieder. Ich kann nicht anders. Es ist ein Zwang, der mich beherrscht. Es sind dreizehn.
Ich laufe wie immer über den alten Perser. Ich kann mich noch daran erinnern, wie stolz sie gewesen ist, als sie diesen Teppich zum ersten Mal auf dem Boden ausgerollt hat. Wie frisch die Farben geleuchtet haben und wie weich er sich angefühlt hat. Dann wurde alles anders.
Ich gehe ins Bad, reiße mir die Kleider herunter und werfe sie achtlos auf den Fußboden. Kleider, die mit ihrem Geruch durchtränkt sind und mit ihrem Blut.
Ich steige in die Dusche und drehe den Hahn voll auf. Ich spüre, wie das eiskalte Wasser über meinen Kopf und meinen Körper läuft. Wie es versucht, die Sünde abzuwaschen. Ich zittere am ganzen Körper. Trotzdem bleibe ich unter dem kalten Wasserstrahl stehen. Spüre, wie die Kälte des Wassers in meine Knochen dringt. Ich halte den Kopf gesenkt und sehe dem Wasser nach, wie es im Abfluss verschwindet. Mein Blick fällt auf meinen Penis. Trotz der Kälte ist er erigiert. Ich spüre die Lust, die mich durchflutet. Mein Atem geht schneller und ich lege Hand an mich. Ein kleines Vorspiel, denn heute Abend werde ich ein Liebhaber sein. Heute Abend habe ich ein ganz besonderes Date.
Kapitel 3
Laura wachte auf, als ihr Handy klingelte. Mit halb geöffneten Augen schielte sie zum Wecker. In ein paar Minuten hätte sie ohnehin aufstehen müssen. Sie langte auf den Nachttisch und tastete nach dem Telefon.
„Braun“, meldete sie sich müde und schlecht gelaunt. Wer um diese Zeit anrief, sollte einen guten Grund haben.
„Es war wieder unser Freund“, erklärte Ackermann eine halbe Stunde später, als Laura am Tatort im Heidelberger Stadtteil Kirchheim eintraf. Er kam ihr im Treppenhaus entgegen, um ihr Überzieher und Handschuhe zu reichen. Überrascht sah er sie an. „Na, wohl ´ne kurze Nacht gehabt“, sagte er grinsend.
„Ja, ganz toll. Meine Mutter hatte gestern Geburtstag!“
„Oh, das hört sich an, als hättest du richtig viel Spaß gehabt!“ Sein Grinsen wurde noch breiter.
„Keine Fragen, bitte!“
Sie hatte nur schnell geduscht und das Erstbeste, was ihr in die Finger kam, angezogen. Nun stellte sie fest, dass ihre Bluse einen Fleck hatte und genauso zerknittert aussah wie sie selbst. Sie hatte schlecht geschlafen und die Geburtstagsfeier ihrer Mutter steckte ihr immer noch in den Knochen. Ihr Schädel dröhnte, denn Onkel Phillip hatte ständig ihr Weinglas aufgefüllt und gemeint, dass eine Polizistin, die nicht im Dienst wäre, durchaus mal einen heben sollte. Dabei mochte Laura gar keinen Wein. Ein anständiges Bier wäre ihr lieber gewesen. Ihre Tante hatte zum hundertsten Mal gefragt, wann sie denn endlich heiraten und Kinder in die Welt setzten würde. Und wie jedes Mal hatte sie sich anhören müssen, dass ihre Tante ja schließlich ihren Teil zur Gesellschaft beigetragen hätte. Immerhin hätte sie vier Kinder großgezogen, aus denen etwas geworden sei.
Laura war geblieben, bis alle gegangen waren, um ihrer Mutter beim Abwaschen und Aufräumen zu helfen. Zu allem Übel hatte ihre Mutter zu weinen angefangen. Wie so oft an Festtagen. Alle Jahre wieder wurde ihre Mutter an ihrem Geburtstag sentimental, weil sie sich daran erinnerte, dass es das letzte Fest war, welches sie zusammen mit ihrem Pflegesohn David gefeiert hatten. Als Laura zehn Jahre alt gewesen war, war sie eines Morgens aus ihrem Zimmer gekommen und hatte auf