Läufers Fall. Lothar Koopmann
Читать онлайн книгу.sicher auch die Polizei“, wirft Kai-Uwe ein, um ein wenig von seiner Anerkennung als CSI-Fachmann zurückzugewinnen. „Ich schlage vor, wir halten auf dem Rückweg an einer ganz gewöhnlichen Telefonzelle und rufen von dort aus an. Anonym. Hat jemand 20 Cent dabei?“
4
„Dingdong, dingdong, dingdong.“
Sanft dringt der Klang der Türglocke durch das Büro, lässt Ambrosius Läufer aus seinen Träumen aufschrecken und auf die Uhr blicken. Verdammt, schon 18 Uhr, das muss Andreas Schirm sein.
Er hatte sich nach dem Telefonat am Morgen wieder ans Aktenschieben begeben und mittags in der benachbarten Imbissbude eine Currywurst mit Pommes geholt, die er mit dem vierten Espresso des Tages herunterspülte.
Seit dem vorigen Jahr hatte er sich geweigert, das Fast-Food-Stübchen zu betreten, war dann aber zögernd der Aufforderung von Achim Alter gefolgt („Ambrosius, ich kann dich verstehen, du hast ja auch mein ganzes Mitgefühl, und Heidelinde sieht das genauso, aber auf die Bequemlichkeit einer Pommesbude im Nebenhaus zu verzichten, nur weil sie Eva’s Frittentempel heißt, ist absolut dämlich. Ich sage dir, du gehst da hin und wenn ich dich begleiten muss …“).
Er war schließlich doch alleine in den Laden gegangen, nachdem er zunächst die bunte Schaufenster-Beschriftung einige Minuten von der gegenüberliegenden Straßenseite aus betrachtet hatte. In großen sonnengelben Lettern stand auf der Scheibe kunstvoll gebogen ,Eva’s’, darunter etwas kleiner und gradlinig in Giftgrün ,Frittentempel’. Ein Schauer war über seinen Rücken gelaufen, und die linke Hand zitterte unruhig an der Hosennaht.
Seine Anspannung ließ erst nach, als er sich als Nachbar vorstellte und im Gespräch mit der freundlichen Inhaberin erfuhr, dass ,Eva’ überhaupt nicht in dem Imbiss arbeitete. Der Name war ein Relikt aus den Gründungstagen Mitte der achtziger Jahre, als Eva Knobloch das Geschäft gegründet und erfolgreich ausgebaut hatte. Vor einem Jahr hatte ihre Tochter Anna dann den Imbiss übernommen, war ein paar Straßen weitergezogen und leitete den Frittentempel nun gemeinsam mit ihrem Mann Theodor Müslich („Wissen Sie, als gelernte Sozialpädagogin, und mein Mann ist eigentlich Eisenbieger, stellt man sich sein Berufsleben natürlich anders vor, aber nach Mutters plötzlichem Tod haben wir uns entschieden, ihr Lebenswerk fortzusetzen und sind jetzt ganz zufrieden mit dem Zuspruch.“). Seine erste Currywurst vor einem halben Jahr war der Beginn einer freundschaftlichen Beziehung zu den Inhabern, die mit wechselnden Tagesgerichten und günstigen Preisen ihren mehr als guten Namen im Viertel gefestigt hatten.
Nach dem letzten Espresso des Tages, einer kalten Cola aus dem Imbiss und einigen verschobenen Aktenbergen beschloss Ambrosius Läufer gegen 16 Uhr, sich eine kleine Erholungspause zu gönnen, legte die Füße auf den Tisch und stützte den Nacken auf der Lehne des Schreibtischstuhls ab. Und schlief sofort ein. Die Anstrengungen des Tages spülten wirre Filmsequenzen in einen endlosen Nachmittagstraum, aus dem es kein Entkommen zu geben schien.
Sein Vater hetzte ihn wie ein Tier über die braune Wiese des häuslichen Gartens, versuchte ihn zu fangen und schrie: „Eva ist tot, Eva ist tot, tot, tot, tot!“ Sein wutentbranntes Gesicht kam immer näher, fast hatte er Ambrosius erreicht, da rief die Mutter aus der Hoftüre: „Hallo ihr beiden, Essen ist fertig.“
Sofort wechselte das Bild. Zu dritt saßen sie am Mittagstisch, er auf einem Stuhlkissen, weil er sonst zu klein war, um an Messer und Gabel zu kommen. Auf den Tellern lagen rostige Nägel in einer Kirschsoße an Spinatmousse, in den Salatschüssel sprangen grüne Heuschrecken auf und ab und zwitscherten: „Eva ist tot, Eva ist tot, tot, tot, tot!“
Sprunghafter Szenenwechsel. Er lag an einem einsamen Weiher, die Sonne wärmte die nackte Haut über der knappen Badehose. Auf der Decke neben ihm ein junges Mädchen, nein, eine junge Frau im Bikini. Sie lachten und flirteten, die Luft war erfüllt vom Geruch frisch geschnittenen Grases, er war verliebt, er war so verliebt, er hätte die ganze Welt umarmen können, verliebt wie er war. Er war so verliebt, so verliebt …
Donner! In Sekunden zog sich der Himmel zu, drohende dunkle Wolken rasten von Horizont zu Horizont, Blitze schlugen wie Peitschen aus den Wolken, stürmischer Wind kam auf. Die junge Frau war verschwunden, statt dessen lag er auf einer schwarzen Asphaltstraße am Fuß eines mächtigen Gebirges mit schneeweißen Gipfeln. Er fror erbärmlich in seiner Badehose, sprang auf und suchte mit den Augen die Umgebung nach einer Schutzmöglichkeit ab. Eine enge Straßenkurve führte aufwärts, unten lag nach saftigen Blumenwiesen eine kleine Ortschaft hinter Wolkenbergen versteckt, die immer mehr sintflutartigen Regen auf seine Schultern schütteten. Plötzlich vernahm er ein brummendes Geräusch, das schnell zu einem fürchterlichen Brausen anschwoll. Er stand halbnackt wie eingefroren auf der nassen Fahrbahn, unfähig, sich zu bewegen oder zu reagieren. Ein riesiger LKW raste abwärts durch die Kurve auf ihn zu, er schrie auf, konnte sich aber nicht von der Stelle rühren. In der Windschutzscheibe leuchtete ein Schild ,Il Tedesco’. Die Motorhaube war zum Fassen nah, er schrie wieder, ruderte verzweifelt mit den Armen …
„Dingdong, dingdong, dingdong.“
Andreas Schirm! Ambrosius schreckt auf und versucht, sich zu orientieren. Der Schock, überfahren zu werden, rüttelt an seinen Nerven und lässt die Hände unkontrolliert zittern. Meine Güte, das war mal wieder knapp, denkt er erleichtert.
Er eilt zur Sprechanlage, murmelt ein schnelles „Einen Moment bitte, bin gleich für Sie da“ in die Sprechmuschel und wirft ein paar Hände kaltes Wasser in sein blasses Gesicht, das ihn verstört aus dem Toilettenspiegel anschaut. Mit einer Haarbürste glättet er hastig die verwirrten Locken, dann sprintet er zurück zur Eingangstür und drückt hastig auf den Türöffner.
Als Andreas Schirm langsam und zögernd eintritt, sitzt er schon an seinem Schreibtisch hinter den Aktenstapeln des Tages, kommt dann aber schnell näher und begrüßt seinen Besucher freundlich mit einem festen Händedruck: „Hallo, guten Tag, Ambrosius Läufer, ich nehme an, Sie sind Herr Schirm?“
„Tag Herr Läufer, ja, Andreas Schirm, wir hatten telefoniert, wegen meiner Frau.“
„Schön, setzen Sie sich bitte. Einen Espresso?“
„Gerne, aber mit Milch und ohne Zucker.“
Andreas Schirm setzt sich vorsichtig auf die Vorderkante des kleinen Besucherstuhls, als traue er dessen Stabilität nicht („Ambrosius, biete immer den kleinen Holzstuhl von Oma Schneider an, dann sitzt dein Kunde viel niedriger als du und muss zu dir aufsehen. Das kann für euer Verhältnis in deinem Sinn nicht schädlich sein, glaube mir, hahaha.“).
Während Ambrosius in der Teeküche werkelt, versucht er, sich ein Bild von seinem Besucher zu machen: Mitte vierzig, groß, schlank bis schmal, der Ansatz einer Glatze war über den Ansatz schon hinaus, und eine dunkle Hornbrille beherrscht das blasse bartlose Gesicht. Die helle Jeans mit Bügelfalte, beige Treter mit blonden Schnürsenkeln und ein dunkelroter Pullover unter einer grasgrünen Lederjacke malen ein vernichtendes Bild von den modischen Talenten des Sportjournalisten.
„Möchten Sie ablegen?“, fragt Ambrosius, als er mit zwei dampfenden Tassen und der Milch zurück ins Büro kommt.
„Nein, danke, ich muss gleich noch schnell zu einem Termin“, antwortet Andreas Schirm hastig. Erst jetzt bemerkt Ambrosius den Schulterriemen einer Fototasche, die Schirm umständlich auf seinem Schoß hin und her schiebt. „Jubiläum eines Sportvereins, Sie wissen schon, viele Reden, ein bisschen Programm, immer das Gleiche.“
„Haben Sie das Bild dabei?“
„Ja, einen Moment.“ Andreas Schirm kramt in den Seitenfächern seiner Fototasche, die er soeben umständlich über die Stuhllehne gehängt hat, und findet nach einer langen Minute den gesuchten Briefumschlag.
„Hier, ist noch gar nicht alt, letzter Sommerurlaub in Patagonien.“
Ambrosius nimmt den braunen Umschlag über den Schreibtisch hinweg entgegen und findet darin einen Abzug im Format 9 x 13 cm. Während er das Bild betrachtet, fragte er irritiert: „Kleiner ging’s wohl nicht, oder?“
„Wir lassen unsere Abzüge immer in dem Format machen, ist billiger“, antwortet