Läufers Fall. Lothar Koopmann
Читать онлайн книгу.Eva Schirm eine fesche Erscheinung ist. Sie steht vor den Sonnenschirmen eines Biergartens und winkt voller Urlaubsfreude lachend in die Kamera. Das dunkle, fast schwarze Haar ist zu einem Zopf zusammengebunden, ein gelbrotes T-Shirt sitzt eng am Körper und lässt ihre weiblichen Formen mehr sehen als ahnen.
„Tolle Frau, Ihre“, lässt Ambrosius sich schließlich vernehmen.
„Ja, danke, ich bin zufrieden, hätte schlimmer kommen können“, grinst Andreas Schirm. Das Eis scheint gebrochen, denn er plappert weiter. „Wir haben uns im Urlaub kennen gelernt, in Spanien, auf Mallorca, vor elf Jahren. Mann, waren wir jung damals. Und jetzt …“ Seine Augen verdunkeln sich plötzlich. Er rutscht auf dem Stuhl hin und her.
„Und jetzt ist sie weg“, ergänzt Ambrosius leise. „Deswegen sind Sie ja hier. Erzählen Sie weiter.“
„Ich habe Ihnen ja schon am Telefon gesagt, dass ich meine Frau gestern zuletzt gesehen habe. Ich musste nach Leverkusen. Sie wollte noch etwas nähen, einen Brief schreiben und dann gegen 16 Uhr zum Nordic-Walking in ihren Verein fahren.“
„Das sagten Sie bereits heute morgen. Und weiter?“
„Als ich um 20 Uhr nach Hause kam, war sie nicht da. Ich habe bis gegen 23 Uhr gewartet und bin dann ins Bett gegangen. Ich konnte aber nicht schlafen und habe mich die halbe Nacht hin und her gewälzt. Vor Sorge. Wir waren noch nie getrennt, und wenn sie einmal später kam, hat sie mich angerufen. Aber das war ganz selten der Fall. Morgens war sie immer noch nicht da, darum habe ich mit Freunden und Bekannten telefoniert. Aber keiner wusste etwas. Ich war total fertig und bin dann zur Polizei gefahren. Das Ergebnis kennen Sie ja. Sie müssen sie suchen, bitte!!“
„Wo der Zufall uns zusammengeführt hat und ich morgen früh etwas Zeit habe, sollte das kein Problem sein“, antwortet Ambrosius mit fester Stimme und nimmt noch einmal das Foto intensiv in Augenschein.
„Apropos Zufall, ich muss Ihnen etwas gestehen. Ich habe heute morgen nicht die ganze Wahrheit gesagt, beziehungsweise, ich habe etwas verschwiegen, aber ohne Absicht, glauben Sie mir.“ Die letzten Worte fügt Andreas Schirm hastig hinzu, weil er Ambrosius’ überraschtes Stirnrunzeln bemerkt.
Er nimmt seine Dosenmilch und verdünnt ungeschickt den Espresso. „Ist ja nur eine Kleinigkeit und eigentlich nicht von Bedeutung: Ich kenne Ihre Agentur über Heidelinde Alter.“
„Sie kennen Frau Alter?“
„Ja, aber nur ganz entfernt. Sie ist eine Sportkollegin meiner Frau im Walking-Klub – die beiden haben schon die eine oder andere Strecke mit ihren Stöcken zermalmt, hahaha.“ Andreas Schirm ahmt im Sitzen schwungvolle Armbewegungen nach und scheint sich plötzlich köstlich zu amüsieren.
Witzbold, dachte Ambrosius angewidert, wenn keiner da ist, macht er sich über andere lustig, das haben selbst Nordic-Walker nicht verdient. Sind ja irgendwie auch Menschen, sage ich immer.
„Und da ist Ihnen Heidelinde begegnet?“
„Ja, zwei, drei Mal, bei Sommerfesten oder so. Und als ich im Branchenbuch den Namen ,Alter-Nate’ sah, fiel mir Heidelinde wieder ein, ich weiß, dass ihr Mann Schnüffler ist.“
„Schnüffler?“
„Oh, bitte entschuldigen Sie, das war jetzt nicht despektierlich gemeint, ist nur so ein Ausdruck aus dem Fernsehen. Nichts gegen Sie persönlich oder Ihren Beruf, beileibe nicht!“
Auch noch frech werden, denkt Ambrosius, das haben wir gern.
Kühl antwortet er. „Ist schon gut, wir sind einiges gewöhnt, man kann sich seine Klienten schließlich nicht immer aussuchen. Nichts gegen Sie“, fügt er betont eilig hinzu, als er eine leichte Zornesröte auf den Wangen seines Gegenübers bemerkt. „War nur allgemein gemeint. Wo soll ich denn anfangen, was meinen Sie?“
Der wieder erblasste Andreas Schirm wiegt zögernd den Kopf: „Wenn ich Sie wäre, könnte ich mir gut den Walking-Klub vorstellen, schließlich wollte Eva ja am Samstagnachmittag walken gehen.“
Walken gehen, walken gehen, denkt Ambrosius, ein gutes Bild, auf jeden Fall besser als „rennen gehen“.
„In Ordnung, dann werde ich mich morgen früh mal dahin auf den Weg machen. Adresse?“
Andreas Schirm nennt ihm die Anschrift des Walking-Klubs, zahlt anstandslos das Mindesthonorar, dankt für die Quittung, gibt Ambrosius seine Visitenkarte und nickt kurz ein „Dann mal viel Erfolg!“ – weg ist er, auf dem Weg zu seinem Interview.
Komischer Kerl, plappert wie die Feuerwehr, obwohl seine Frau vermisst wird, denkt Ambrosius hinter ihm her. Aber egal, einfacher Fall bleibt einfacher Fall, und die Geldscheine knistern fröhlich in seiner Hosentasche.
Schon fast 19 Uhr. Nein, erst nach halb sieben – egal, es wird Zeit, dass er nach Hause kommt, nach dem anstrengenden Tag. Ein kurzer Wischer über das Geschirr und die Arbeitsplatte der Küche, und schon sieht alles wieder wie neu aus. Ambrosius schaltet den PC aus, schnappt sich seinen Mantel und macht sich auf den Weg zur Tür, als das Telefon summt. Ein Kunde? So spät? Er nimmt ab und murmelt wieder stoisch seine Begrüßungsformel in den Hörer, als er ein wimmerndes Schluchzen am anderen Ende vernimmt.
„Hallo, wer ist da bitte?“, unterbricht er seine Aufzählung. Keine Antwort, nur weinerliche Geräusche in der Leitung.
„Hallo, wer sind Sie, was soll das?“ Langsam wird er wütend. Reicht es nicht, dass ihn im Büro und auch zu Hause haufenweise Anrufe dieser unseligen Telefonverkäufer von Gewinnspielen, speziellen Aktiensonderangeboten und unschlagbaren Handytarifen erreichen, die er zwar ständig unfreundlich auflaufen lässt, deren Menge aber noch von ihrer ruppigen Hartnäckigkeit übertroffen wird?
Ist das eine neue Masche, Mitleid zu erwecken? Kommt gleich ein Spruch wie „Hallo Herr Läufer, ich nehme an, dass Sie unser Angebot einer Sonderemission einzigartiger Aktienpakete zum Spezialpreis eigentlich gar nicht benötigen, bedenken Sie aber bitte (Schluchz), dass ich als alleinerziehende Mutter auf die Provision angewiesen bin (Schluchz) und außer meinen eigenen vier Kindern auch noch mein Patenkind in Indien ernähren muss (Schluchz), das sich auf den langen Schulweg vor zwei Wochen das linke (Schluchz) Standbein gebrochen hat und nun abends für seine Eltern nicht mehr in der Lage ist, die geforderten tausend Reihen Teppichknüpfung im Stehen zu erledigen (Schluchz), was nun der Vater selbst übernehmen (Schluchz) (Schluchz) und daher auf die Nachtschicht im Taxibetrieb verzichten muss und deswegen der Mutter nicht mehr beim Abwaschen helfen kann, die arme Frau – helfen Sie mir und Asien, bitte (Schluchz) (Schluchz) (Schnief)!“?
„Verdammt, melden Sie sich – wer ist da?“
„Ambrosius, bist du das?“ Das Weinen stockt ein wenig.
„Natürlich, und wer sind Sie?!
„Hier ist Heidelinde (Schluchz), es ist so schrecklich (Schluchz)!“
„Hallo Heidelinde, entschuldige, ich habe dich gar nicht erkannt. Beruhige dich doch – was ist denn passiert? Ist Achim etwas zugestoßen bei euch da oben?“
„Nein, nein, Achim geht es gut – aber Eva ist tot!“
Ein wilder Stromschlag trifft mitten in sein Herz, es rast los, Schwindel lässt ihn nach der Schreibtischplatte greifen, um Halt zu finden, der Mantel fällt zu Boden. Ihm wird speiübel.
„Was soll das, Heidelinde, das wissen wir beide schon seit einem Jahr. Musst du mich spät am Abend so erschrecken?“
„(Schluchz) Oh, tut mir Leid, wenn ich dich erschreckt habe, ich hatte nicht an deine (Schluchz) Eva gedacht. Ich meinte doch Eva Schirm, meine Walking-Freundin aus Mülheim (Schluchz). Sie ist tot!“
„Und woher willst du das wissen?“
„Wir haben hier Satelliten-Kabel-Fernsehen oder so und vorhin haben wir in die ,Aktuelle Stunde’ aus Duisburg hineingeswitcht. Und da haben sie gemeldet, dass im Duisburger Wald zwei Leichen gefunden worden sind, mit Fotos von der Frau. Es ist Eva Schirm, meine Freundin aus dem Walking-Klub – ist das nicht schrecklich?“
„Herr