Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel. Iris Weitkamp

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Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel - Iris Weitkamp


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was denkst du?“

      „Bevor Ihr die Welt rettet, kommt erstmal essen“, bestimmte Janne und schob sie in die Küche, wo Timo und Anneke den Tisch deckten und herrlich duftende Gemüselasagne auf die Teller schaufelten.

      Nach dem Abendbrot rückte Geert mit seinem Anliegen heraus. Vor zwei Jahren hatte er sich mit Solaranlagen selbstständig gemacht. Seine kleine Firma entwickelte neue Module, die nicht mehr als separate Platten auf ein fertiges Dach montiert wurden, sondern Teil der Dacheindeckung waren. Diese ästhetische Form der Dachgestaltung in Verbindung mit leistungsfähigen Speichern traf einen Nerv. Schnell hatte sich Geert unter Bauträgern und Architekten einen Namen gemacht. Nun kam er mit den vielen Aufträgen kaum hinterher. Doch auf einen Schlag mehrere neue Leute einzustellen entsprach nicht seiner Art. Lieber sollte der Betrieb sich langsam vergrößern und jeder Mitarbeiter einzeln hineinwachsen. Falls also Inga aushilfsweise den einen oder anderen Bereich übernehmen könnte, bis sein Team komplett war? Geert fing an zu erklären, welche Arbeiten in der Buchführung und Organisation anfielen, redete über Korrespondenzen mit Lieferanten und Kunden, Werbung und den Import von Bauteilen. Er überließ es Inga zu überlegen, welche ihrer Fähigkeiten sie einbringen könnte. Prompt sprudelten die Ideen. Am Computer war sie fit, Werbung war natürlich ihr Ding und Kundenbetreuung ... Bald hockten Geert und Inga im Arbeitszimmer und tüftelten Einzelheiten aus. Zu einem durchaus attraktiven Stundenlohn sollte Inga je nach Arbeitsanfall und eigenem Wunsch mitarbeiten. Von gelegentlichen festen Terminen abgesehen, würde sie sich ihre Zeit frei einteilen können. Außerdem würde es möglich sein, hier in Marunthien zu arbeiten, in de Vries’ Büro oder sogar zu Hause.

      Den Formalitäten von Ingas Arbeitsvertrag taten sie mit einem Handschlag und einigen Gläsern von Mariannes selbstgemachtem Johannisbeerwein genüge.

      Wie merkwürdig, dachte Dr. Oliveira als er seinen Spind öffnete. Sein weißer Kittel war vom Bügel gerutscht und lag zusammengeknäuelt auf den darunter stehenden Schuhen. Das war noch nie passiert. Robson war sicher, dass er ihn am Tag zuvor ordentlich aufgehängt hatte. Er griff sich den letzten frischen Kittel aus dem oberen Fach. Vom alten nahm er nur sein Namensschild ab und ließ ihn liegen, wo er war.

      „Dr. Oliveira bitte in die Notaufnahme.“

      Die Schicht fing direkt hektisch an. Wahrscheinlich ein Verkehrsunfall. Im Hinauseilen warf Rob sich den Kittel über und heftete das Schild schief an die Brusttasche.

      Selbstverliebt kämmte Schwester Wilma ihr langes, rabenschwarzes Haar. Zu schade, dass sie es gleich wieder mit dem obligatorischen Gummiband verschandeln musste. Kleiderordnung, Hygienebestimmungen, Schminkvorschriften ... Lange hielt sie das nicht mehr durch. Trotzig sprühte sie sich eine reichliche Menge Moschusparfüm in den Ausschnitt. Wenn sie nur könnte, wie sie wollte!

      Sieh zu, dass du dir einen reichen Arzt angelst, hatte ihre Mutter auf dem Sterbebett geflüstert, bist doch meine Hübsche.

      Wilma war systematisch der Hierarchie nach vorgegangen. Beim Chefarzt hatte sie ein paar Tage lang geglaubt, landen zu können. Doch der alte Knopp blieb seiner Ehefrau treu ergeben. Der Oberarzt hatte sie unmissverständlich abgewiesen, obwohl er sonst kein Kind von Traurigkeit schien. Bitter war das gewesen. Sie hatte schon befürchtet, es mit dem langweiligen Dr. Prudens treiben zu müssen, wenn ihre Pechsträhne anhielte. Na, das blieb ihr jetzt ja wohl erspart. Dr. Rettig besaß den Ehrgeiz, sich rasch nach oben zu boxen. Sicherlich würde er sich für ihre Unterstützung erkenntlich zeigen.

      Michael zog abgeschnittene Jeans und ein graues T-Shirt über und verließ leise das schlafende Haus. Barfuß ging er durch die taufeuchten Wiesen in Richtung Wald. Wie immer, wenn er vor Morgengrauen erwachte, Träume von seinem Sohn nicht von der Realität entwirren konnte, wendete er sich der Natur zu. Junge Bäume wuchsen neben knorrigen Buchen und Eichen. Dazwischen umgestürzte Exemplare, die im Tod Nahrung und Heimat für andere Lebewesen boten.

      Wer war er denn, gegen den Kreislauf von Geburt und Tod, von Leben und Sterben aufbegehren zu wollen? Alles hatte seine Zeit und seinen Sinn. So viele Jahre war es her, aber Michael konnte noch immer die helle Kinderstimme hören: Papa, schlafen Bäume nachts? Was passiert mit den Vögeln, wenn sie tot sind? Oh, er liebte seine beiden Töchter und war dankbar für jeden Tag, den er mit ihnen verbringen durfte. Doch es war eine Liebe, die schwieriger und fremder war durch die Andersartigkeit ihrer weiblichen Körper und Seelen, die erste Regelblutung, Kleiderkataloge. In der Beziehung eines Vaters zu seinem Sohn dagegen fand der Mann sich im Kind wieder. Erlebte noch einmal mit wie es war, sich anderen Jungs gegenüber zu behaupten. Zum ersten Mal selbstständig auf dem Männerklo zu pinkeln. Allein in den Wald zu gehen, die Hand um das Taschenmesser gekrampft. Heimlich die Oma zu besuchen und mit dem Fahrrad die Bundesstraße zu überqueren, eine stark befahrene Bundesstraße. Florian war nur neun Jahre alt geworden.

      Michael setzte sich auf einen Baumstamm und wartete auf das Hirschrudel, welches sie oft zusammen in der Morgendämmerung beobachtet hatten. Micha und Flo, das war seiner damaligen Frau wie ein Wort über die Lippen gekommen. Gestorben war das Wort, gestorben war ein Teil von ihm. So sehr er sich bemühte, die Tatsachen zu akzeptieren, es erschien ihm nahezu unmöglich. In seiner Arbeit wurde ihm ein hohes Maß an Sensibilität, an Respekt und Demut abverlangt. Mit einem dafür geschärften Bewusstsein erwischte er sich häufiger, als ihm lieb war, wie er gegen das Schicksal strampelte und wütete. Florians Spielzeug in seinem Arbeitszimmer, sein Foto in jedem Raum, sogar die Einlagerung seines eigenen Samens in einer Samenbank: Verzweifelte Versuche, das unwiederbringlich Vergangene festzuhalten. Seine Ehe war zerbrochen, seine Töchter erwachsen und aus dem Haus. Seit zwei Jahren lebte er mit einer neuen Frau und ihren Kindern zusammen, und noch immer lag über seinem Leben der Schatten der Vergangenheit. Dabei wäre es längst Zeit, loszulassen. Erde zu Erde, Staub zu Staub.

      Michael grub seine Zehen tief in den Waldboden.

      Hart schlugen die Stollen von Robsons Laufschuhen auf das Kopfsteinpflaster. Schweiß floss ihm in Strömen den Rücken hinab, sein Herz hämmerte gegen die Rippen. Doch wenn er auch nur ein wenig langsamer liefe, würde er verrückt werden. Rob zwang seinem heftig widerstrebenden Körper weitere zwei Kilometer ab, bevor er sich keuchend eine Schrittpause erlaubte. Niemandem wäre damit geholfen, wenn er mitten in der Nacht auf der leeren Straße zusammenbrach. Scheiße.

      Am Nachmittag hatte der Alte ihn zu einem ernsten Gespräch unter vier Augen gerufen. Eine Patientin habe sich wegen eines sexuellen Übergriffs nach ihrer Operation beschwert. Robson war hell empört von seinem Stuhl aufgefahren, um den Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen. Im nächsten Moment musste er ungläubig feststellen, dass er selber derjenige war, den die Dame belastete. Wie betäubt versuchte er zu begreifen, was der Chefarzt ihm auseinandersetzte.

      Vor zwei Tagen wurde die Patientin Lena Baumgarten, sechsundzwanzig Jahre jung und sehr attraktiv (hier warf der Chef ihm über den Rand seiner Brille hinweg einen scharfen Blick zu), am Blinddarm operiert. Die OP war ohne besondere Vorkommnisse um fünfzehn Uhr dreiundzwanzig beendet. Ungefähr um sechzehn Uhr dreißig fand eine Narkoseschwester die Patientin schreiend und wild um sich schlagend in ihrem Bett im Aufwachraum vor. Zunächst ging man von einer besonders starken Nachwirkung der Narkosemittel aus. Später, als sie wieder richtig zu sich kam, berichtete sie ihrer Mutter unter Tränen von einem schlanken, dunkelhaarigen Mann im weißen Kittel, der sie zwischen den Beinen berührte. Sein Namensschild konnte sie nur teilweise erkennen. Etwas wie Olmeier, Oliver ... Die aufgebrachte Mutter schaltete sowohl die Klinikleitung als auch die Polizei ein. Der Besucherstuhl, auf dem Rob saß, war noch warm vom Hintern des ermittelnden Polizeibeamten gewesen.

      Immer noch keuchend setzte Rob sich wieder in Trab. Längst hatte er die Stadtgrenze hinter sich gelassen. Er bog in einen geschotterten Feldweg ein, an dessen Rand sich knorrige Obstbäume als schwarze Schatten abzeichneten.

      Dann das Gespräch mit ebendiesem Beamten, eine Zeugenbefragung, keine Vernehmung als Beschuldigter, noch nicht, soviel hatte Robson noch vom letzten Mal gewusst. Und in den Augen des Kommissars stand zu lesen, dass ihm das bereits bekannt war. Mit Robs Einverständnis, nicht mit einem Durchsuchungsbeschluss, wurde der Inhalt seines Schreibtischcontainers und seines Spindes begutachtet. Bitte sehr, warum nicht? Es gab nichts zu verbergen. Aber schon einmal hatte er angesichts harter Anschuldigungen ein blütenreines


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