Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel. Iris Weitkamp

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Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel - Iris Weitkamp


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sich nicht, nach dem Schreiben zu greifen. Was, wenn er durch die Tür trat und sie dabei erwischte, wie sie seinen Schreibtisch durchwühlte? Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf. War Michael Levin ein professioneller Samenspender? Was brachte einen Mann dazu, in einem Labor in einen sterilen Becher zu ejakulieren? Das Honorar? Hilfsbereitschaft? Eine perverse Neigung? Oder waren er und seine Freundin dort Kunden, weil sie auf natürlichem Weg keine Kinder bekommen konnten? Und vor allem: Wie kam man an diesen Samen heran ...? Aus einem Impuls heraus tippte sie die Adresse und Karteinummer als SMS-Entwurf in ihr Handy. Es würde so aussehen, als beantworte sie eine eingehende Nachricht.

      Da hörte sie schon seine Schritte. Inga fuhr ertappt zusammen. Sie glaubte, man müsse ihr ansehen, was sie trieb. Doch Michael warf seine Zeitung auf den größten Stapel auf dem Schreibtisch, wodurch er ihn ins Rutschen brachte, und begann mit der Behandlung. Wie üblich fragte er nach Ingas Befinden, prüfte die Beweglichkeit ihres Handgelenks. Als sie seufzte, es sei noch nicht hundertprozentig wie früher, erhielt sie eine unerwartete Antwort.

      „Jedes Mal, wenn ich im Leben unbedingt hundert Prozent erreichen wollte, ist es schlechter gegangen.“

      Er hat recht, dachte Inga, ich setze mich und meinen Körper unnötig unter Druck. Manche Dinge brauchen ihre Zeit. Tatsächlich konnte sie die meisten Handgriffe schon wieder ausführen, litt nicht direkt unter Schmerzen, aber ... „Es fühlt sich immer noch an, als würde die linke Hand mir nicht gehören. Sie ist wie ein Fremdkörper. Nachts im Bett weiß ich nicht, wohin damit ...“ Wie sollte sie es erklären?

      Michael Levin sah sie nachdenklich an und nickte. Er schien einen Entschluss zu fassen. „Wissen Sie, ich beschäftige mich seit einigen Jahren intensiv mit der Osteopathie. Dabei geht es grob gesagt darum, den Körper zu unterstützen, ins Gleichgewicht zu kommen. Meiner Meinung nach kann die Osteopathie eine optimale Ergänzung der Physiotherapie sein. Ich möchte Ihnen vorschlagen, diese bei ihrem Arm anzuwenden.“

      Das klang vielversprechend, fand Inga. Wie würde so eine Behandlung wohl ablaufen? Ob sie sich dafür ausziehen musste? Blitzschnell überlegte sie, welche Unterwäsche sie trug ... Blau mit ein wenig Spitze, noch ziemlich neu, na ein Glück. „Ja, gerne“, antwortete Inga und wollte bereits nach den Knöpfen ihrer Bluse greifen.

      „Gut. Ziehen Sie bitte die Schuhe aus und legen Sie sich auf die Liege.“

      Die Schuhe? Ingas Gedanken wanderten zum Sauberkeitszustand ihrer bloßen Füße. Morgens hatte sie geduscht, aber danach war sie in der Hitze durch die Stadt gelaufen ...

      „Ihr Haarband nehmen Sie lieber raus, das drückt sonst.“

      Natürlich, da hätte sie auch selber drauf kommen können. Während Inga, bereits im Liegen, an ihrer Frisur herumnestelte, griff er nach dem Band und löste es, legte es zur Seite und strich Ingas Haar mit gleichmäßigen Bewegungen in Richtung Kopfende, wo es lang herunter hing. Viermal, fünfmal glitten seine Hände sanft über ihren Kopf. Inga hielt den Atem an. Er ging an das Fußende, setzte sich auf einen Hocker und nahm ihre Fersen in die Hände. Verblüfft wollte Inga sich aufrichten um zu sehen, was er tat. Doch er schüttelte lächelnd den Kopf, und so blieb sie flach auf dem Rücken liegen. Eine ganze Weile saß er mit ihren Füßen in den Händen da und schaute konzentriert geradeaus. Warme Wellen breiteten sich von Ingas Füßen her aus, zogen in ihre Beine und den gesamten Körper. Nun stand er auf, griff hierhin und dorthin, bog ihre Beine, murmelte leise Anweisungen wie ‚ganz ruhig halten’ ... bitte einmal gegendrücken’ ... Und dann:

      „Ich schnappe mir jetzt dein Sitzbein. Mach gar nichts, bleib einfach ruhig liegen.“

      Inga hielt den Atem an. Hatte sie eben richtig gehört? Er hob ihr Becken an, drückte hier und schob dort, ließ sie wieder herunter. Als seine Hände sich auf ihren Bauch legten, seine Fingerspitzen sich an ihren Hosenbund schoben, stieg leises Unbehagen in ihr auf. Die letzten männlichen Hände, die sie dort gespürt hatte, waren die von Detlef gewesen. Und dessen Avancen waren nicht immer besonders zärtlich gewesen, sondern eher zweckorientiert ... Nein, sie wollte nicht mehr an Detlef denken und daran, wie sie sich selbst klein gemacht, ihre Wünsche zurückgestellt hatte ....

      Michael Levin sah ihr prüfend ins Gesicht, ohne jedoch loszulassen. Als könne er in ihr lesen wie in einem offenen Buch, mit dessen Sprache er vertrauter war als sie selbst.

      „Geht`s?“ Er flüsterte fast.

      Und alles Schreckliche löste sich auf, wurde weggewischt von der liebevollen, ruhigen Stimme und seinen sicheren Händen.

      „Ja“, antwortete Inga. Tiefe Erleichterung erfasste sie. Es ging tatsächlich, gut sogar. Nicht, dass die schlechten Erfahrungen aus ihrem Kopf gelöscht wären, nein, Inga erinnerte sich nach wie vor an jedes Detail. Doch die Erinnerung regte sie nicht mehr auf. Bitterkeit und Selbstvorwürfe blieben aus. Die ehemals belastenden Bilder fühlten sich bedeutungslos an, wie auf ein Abstellgleis rangiert, wo sie künftig unbeachtet vor sich hin rosten und langsam verfallen würden.

      Detlef hatte sie verletzt und ihr Vertrauen erschüttert, doch es war ihm nicht gelungen, sie zu brechen. Nach den körperlichen verschwanden nun auch die seelischen Schmerzen, die er ihr zugefügt hatte. Und Inga ging aus einem langen, ungleichen Kampf als Siegerin hervor.

      Der Mann, der ihr dazu verhalf, setzte sich nun an das obere Ende der Liege. Noch einmal strich er ihre Haare zurück, sehr vorsichtig, und nahm ihren Kopf in seine Hände, beugte sich ganz nah über sie. Inga konnte seinen Atem riechen, jedes kleine Lachfältchen um seine Augen sehen. Am liebsten hätte sie sich in seine Arme gekuschelt, um für immer so liegen zu bleiben ...

      Da stand er mit einer raschen, geschmeidigen Bewegung auf, fuhr abschließend mit beiden Händen an ihrem Körper entlang und sagte: „So, das war`s für heute.“

      Fast wäre Inga von der Liege gepurzelt. Sie blinzelte sich zurück in die Wirklichkeit, richtete sich langsam auf.

      Michael erklärte wortreich, was er festgestellt und behandelt hatte. Noch leicht benommen, war Inga gar nicht in der Lage, alles aufzunehmen, was da auf sie ein strömte. Zwei wichtige Informationen jedoch drangen zu ihr durch: Er beschrieb eine Verkrampfung, die sich in ihrem Körper festgesetzt habe, und kam ihrer Lebenssituation, ihrer missglückten Suche nach einer Beziehung, in der sie Wurzeln schlagen durfte, überraschend nahe. Und er duzte sie immer noch.

      Sie musste unbedingt sicher sein und konzentrierte sich, während sie fragte: „Ich dachte, du wolltest meinen Arm behandeln?“

      „Ja, das auch. Aber wenn du daran denkst, wie alles miteinander in Verbindung steht ...“

      Als merke er, dass Inga keine neuen Informationen mehr verdauen konnte, wechselte Michael das Thema. Sie unterhielten sich über die letzten Anti-Atom-Aktionen, ob das sogenannte ‚Schottern’ eine gute oder schlechte Idee darstellte und wie sehr der Einsatz der Bäuerlichen Notgemeinschaft sie beeindruckte. Auf dem Flur knarrte bereits der nächste Patient ungeduldig über den Holzfußboden, doch sie redeten immer weiter. Schließlich beendete er das Gespräch, widerstrebend wie es schien. Auch Inga fiel es schwer, sich zu verabschieden. Am Tor sah sie sich noch einmal um. Michael stand auf der Türschwelle und hob grüßend die Hand. Er hat Recht, dachte Inga, man sollte nicht immer hundert Prozent verlangen. Wer auch einmal mit neunzig Prozent zufrieden sein konnte, bekam letzten Endes mehr vom Leben.

      Gerne hätte Inga sich an ihren Lieblingsplatz an der Elbe zurückgezogen, um die letzte Stunde in Ruhe zu überdenken. Stattdessen wartete Mariannes Mann Geert mit einem Arbeitsangebot auf sie. Da die de Vries keine Landwirtschaft betrieben, konnte Inga sich nicht vorstellen, worum es sich wohl handeln mochte. Marianne arbeitete halbtags in der mobilen Krankenpflege. Über Geerts Tätigkeit wusste sie nichts.

      „Hallo Inga, schön dich zu sehen. Komm rein.“ Janne packte die Hunde am Schlafittchen, bevor sie an Inga hochspringen konnten. „Geert hängt noch am Telefon. In der Firma geht es drunter und drüber, keine Ahnung wie lange wir das noch durchhalten ...“

      „Hör dir diese unmögliche vrouw an! Erst bringt es nicht genug Geld und das ist nicht richtig. Op de andere keer bringt es te veel Geld und es ist ook verkeert.“ Geert, der während Mariannes Klagen in der offenen Tür


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