Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel. Iris Weitkamp

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Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel - Iris Weitkamp


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tat so, als würde sie die gaffenden Exkollegen nicht bemerken. Die grell Lackierte reckte den Hals. Im Hintergrund hörte sie ihren ehemaligen Chef sagen:

      „Detlef, ich hätte dich gern für eine Minute in meinem Büro gesprochen.“

      Ohne zurück zu schauen, kehrte Inga sechs Jahren ihres Lebens und dem Mann, mit dem sie einmal Tisch und Bett geteilt hatte, den Rücken.

      Am selben Abend platzte Ingas Wohnung fast aus allen Nähten. Sie hatte spontan beschlossen, ihre neue Freiheit zu feiern, und so viele Freunde zusammengetrommelt wie möglich. In einer launigen Ansprache bedankte sie sich bei ihren treuen Heinzelmännchen vom Winter und bot sich für Gelegenheitsarbeiten aller Art an. Fast aller Art, korrigierte sie hastig, als Witze und Gelächter erklangen. Ralf versprach, ihr so viel Brennholz zu liefern, wie sie brauchte. Falls sie etwas Warmes in den Bauch bekommen wolle, sei sie jederzeit an ihrem Tisch willkommen, lächelte Hilke. Es hagelte Einladungen zum Essen und Tipps, wo sie kostenlos Obst pflücken konnte ,damit sie nicht verhungerte’.

      Inga hob ihr Glas. „Darauf lasst uns trinken, solange ich den Wein noch bezahlen kann. Auf das Leben und die Liebe!“

      Jemand fing an, auf seiner Gitarre zu klimpern, ein Akkordeon setzte ein. Bald sangen und tanzten alle Gäste, wo immer sie Platz dazu fanden, sogar auf dem Klo.

      Gleichmäßig schnurrte der mitternachtsblau lackierte Spider auf der leeren Autobahn dahin. Robson lehnte sich im Fahrersitz zurück, eine Hand am Sportlenkrad, die andere lässig auf der Mittelkonsole. Über einen an den Bordcomputer angeschlossen BlackBerry hörte er sich Mitschnitte des gestrigen Konzerts an.

      Mann, das war einfach nur geil gelaufen. Das Publikum hatte ihm vom ersten Song an praktisch aus der Hand gefressen. Alle Bandmitglieder in Hochform, kein einziger Patzer, jeder Ton saß. Natürlich strichen wieder viele hübsche Frauen um ihn herum, angezogen vom Ruhm wie die Motten vom Licht. Er nahm eine knackige Blondine mit ins Hotel, deren phantasielose Anhimmelei ihm jedoch bald auf die Nerven fiel. Leider stellte sich außerdem heraus, dass ihre Haare schlecht gefärbt und ihre Fingernägel abgekaut waren. Rob hatte an ihrem ungepflegten dunklen Haaransatz vorbei an die Wand gestarrt, während er mühsam in ihr kam. Sie würde wahrscheinlich in diesem Moment all ihre Freundinnen anrufen, um damit anzugeben, mit dem Sänger der Muddy Blue Waters gebumst zu haben.

      Geschieht mir ganz recht, dachte Rob, ich hätte lieber mit einem guten Buch ins Bett gehen sollen. Na, Schwamm drüber. Alles was zählte war die Musik. Rob drehte die Lautstärke auf und sang aus voller Kehle mit.

      Dr. Stefan Prudens starrte stumm in seinen Tee. Er war vor seinem Schreibtisch geflüchtet, auf dem zwei OP-Berichte darauf drängten, fertiggestellt und an den Oberarzt weitergeleitet zu werden. Und nun fühlte er sich zwischen den schwatzenden Kollegen im Aufenthaltsraum ebenso fehl am Platz wie im Büro, wie in diesem gesamten verdammten Gebäude.

      Immer häufiger dachte er, dass es ein Fehler gewesen war, dem Wunsch seines Vaters zu folgen und Medizin zu studieren. Er hätte mit Holz arbeiten, Zimmermann werden wollen. Stattdessen beugte er sich der Familientradition. Wobei er einen krummeren Buckel bekam als durch jeden Handwerksberuf. Es schien, als würde es ihm nie wieder gelingen, den Rücken gerade zu machen. Eingesperrt in der Klinik, im Auto, im Schlafzimmer, träumte er nachts davon, über Dächer zu balancieren, frische Balken zu riechen.

      „Na, Prudens, fertig mit dem Papierkram?“ Dr. Rettig schlenderte herein, machte sich auf dem freien Stuhl neben Stefan breit und beugte sich vertraulich zu ihm hinüber. „Nicht, dass unser Schönling noch ungeduldig wird ...“

      Stefan ging Rettigs Distanzlosigkeit zusehens auf die Nerven. Zum Einen dieselte der Mann sich mit einem Parfüm voll, das für jede Nase, die sich nach Holzgeruch sehnte, eine schallende Ohrfeige darstellte. Stefan bemühte sich, durch den Mund zu atmen, wie er es in der Pathologie gelernt hatte. Zum Anderen schien seine Neugierde keine Grenzen zu kennen, schnüffelte und huschte er durch die Flure wie eine Ratte. Woher wusste der Kerl, dass Oliveira bereits auf seine Berichte wartete? Es fiel in die Zuständigkeit des Oberarztes, die Assistenzärzte zu beurteilen, zu fördern oder wenn nötig feuern zu lassen. Stefan hatte kein Problem damit. Zwar fand er Dr. Oliveira etwas schroff, und es wäre ihm lieber gewesen, wenn der nicht ganz so gute Chancen beim weiblichen Geschlecht gehabt hätte. Aber er konnte nichts wirklich Negatives über seinen Vorgesetzten sagen.

      Die Tür flog auf, und Bärbel Lohmann wirbelte mit zerzausten roten Locken in den Raum. „Hallo zusammen, ich will nur mal schnell ...“ Sie versuchte, drei schmutzige Tassen, durch deren Henkel sie ihre Finger gehakt hatte, neben der Spüle abzustellen. Im anderen Arm hielt sie einen Stapel Aktenmappen.

      Stefans Miene erhellte sich. „Frau Lohmann! Warten Sie ...“ Er sprang auf und griff vorsichtig nach den Tassen. „Machen Sie jetzt Pause?“

      Bärbel bewegte ihre befreiten Finger. „Würde ich gern. Aber ich muss für Dr. Oliveira die neuen OP-Pläne vorbereiten, die braucht er morgen früh.“ Sie packte ihre rutschende Aktenlast mit beiden Händen und wandte sich zur Tür. „Danke für Ihre Hilfe.“

      „Jaja, so ist das ...“ Rettigs Aftershave stieg von neuem in Stefans Nase. „Casanova pfeift, und die Weiber springen.“

      Stefan seufzte. Er selbst hatte einfach keine Chancen bei den Frauen. Nie gehabt. Wer würde einen unscheinbaren Typen wie ihn schon wahrnehmen? Nicht groß und nicht klein, weder dick noch dünn, mit einer Haarfarbe zwischen blond und braun ... Der ideale Mörder, so unauffällig, dass sich kein Zeuge an ihn erinnern könnte. Als Frau würde er sich selber auch nicht sehen neben diesem charismatischen Halbgott in Weiß, dem die brasilianischen Gene einen leicht gebräunten Teint wie aus dem Solarium geschenkt hatten, dessen durchtrainierter Körper sogar im OP-Kittel toll aussah. Er wirkte so ekelhaft perfekt! Jede zweite Schwester war hinter Oliveira her, und die Patientinnen flogen auf ihn. Stefan wusste ziemlich sicher, dass der Oberarzt nicht die Dummheit besaß, sich mit einer Patientin einzulassen. Was das Personal anging, fand er das vielleicht weniger heikel. Stefan dachte an Bärbel Lohmann und biss die Zähne zusammen.

      „Kopf hoch, Kollege“, raunte Rettig, der schon wieder viel zu dicht neben im stand. „Casanovas Tage hier sind gezählt ...“

      Was hatte Rettig nur immer mit Dr. Oliveira? Stefan achtete eigentlich nicht auf solche Dinge, doch allmählich kam es ihm vor, als hege Rettig einen ganz besonderen Groll. Ob die Panne mit der Gipsschiene damit zusammenhing, die Rettig einer hübschen blonden Dame voreilig abgenommen hatte? Die Radiusfraktur der Dame war verrutscht, Rettig hatte einen ordentlichen Einlauf kassiert - mehr nicht. Es musste doch selbst ihm klar sein, dass er den Rüffel verdient hatte. Dass er froh sein konnte, wenn die Patientin ihn nicht verklagte.

      „Hier.“ Rettig blieb hartnäckig. Er klappte sein Handy auf und hielt es Stefan triumphierend unter die Nase.

      Das Foto im Display zeigte Dr. Oliveira, wie er am Krankenbett einer hellblonden Frau stand, die Hand nach ihr ausgestreckt. War das nicht die mit der Gipsschiene? Stefan konnte problemlos deutsches Kiefernholz von nordischem unterscheiden, erkannte auf der Straße aber kaum seine Nachbarn. Und im Profil, halb verdeckt ... schwer zu sagen. Es gab noch zwei weitere Aufnahmen, offensichtlich durch einen Türspalt fotografiert, auf denen Oliveira ihr die OP-Haube abnahm. Unten rechts im Bild standen Datum und Uhrzeit eingeblendet.

      „Da muss man sich doch fragen“, grinste Rettig anzüglich, „was ein Chirurg um zwei Uhr dreißig ganz allein am Bett einer jungen, hübschen Patientin zu suchen hat?“

      „Wer möchte noch eine Portion ‚Red Beauty’?“ Hilke lud großzügig Nudeln und Hackfleischsauce auf die Teller.

      Inga langte zu. Nachdem sie den ganzen Morgen bei den Schafen geholfen hatte, war sie hungrig wie ein Wolf. „Was ist ‚Red Beauty’?“

      „Du meinst wohl: Wer war ‚Red Beauty’.“ Ralf lachte. „Unsere Kuh bekommt jedes Jahr ein Kalb, und wenn das in die Flegeljahre kommt, also ungefähr zehn, elf Monate alt ist, schlachten wir es. Glaub mir, so niedlich die kleinen Kälbchen am Anfang sind, so froh ist man später, wenn der Schlachter auf dem Hof steht. Red Beauty war besonders nervig. Er hat den ganzen Tag Schafe gescheucht und zwei Pferche zerlegt.“


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