Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel. Iris Weitkamp

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Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel - Iris Weitkamp


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aus, dieses Gefühl von Sicherheit und nach-Hause-kommen, das sie bei ihm empfand. Und da wusste sie, was sie zu tun hatte.

      Statt quer durch die Innenstadt zu ihrem Arbeitsplatz zu eilen, ging sie zurück zum Auto und fuhr an die Elbe.

      In ihrem schicken Kostüm und mit hochhackigen Schuhen stapfte Inga unbeholfen durch den Sand am Ufer bis zu ihrem Lieblingsplatz. Sie setzte sich in eine geschützte Mulde, schaltete ihr Handy aus und wickelte sich in die alte Decke, die stets im Kofferraum bereit lag. Mittlerweile würde das Meeting mit ihrem wichtigsten Kunden in vollem Gange sein. Und ihr Chef im roten Bereich drehen. Doch das ließ sie seltsam unberührt, gerade so, als ginge es sie nichts mehr an. Ihre unerwartete Begegnung mit der Liebe auf den ersten Blick ging so tief, war ein solches Wunder, dass Inga das Bedürfnis verspürt hatte, sie wie einen kostbaren Schatz an einen sicheren Ort zu schleppen und in Ruhe zu betrachten. Sie ließ den Blick über den Fluss schweifen, über die Felder ringsum und die Bäume am anderen Ufer. Kein Mensch weit und breit. Ja, es war richtig gewesen, hierher zu kommen. In Ruhe über diesen Mann nachzudenken, der in ihr unaufgeräumtes Leben platzte und es noch mehr durcheinanderwirbelte.

      Da - konnte das sein? Ein großer Schatten, mächtige Schwingen ... Inga rührte sich nicht. Ein Fischadler flog über der Elbe dahin, dicht an ihrem Versteck am Ufer vorbei. Jetzt kam er ganz nahe. Sie konnte den kräftigen Schnabel erkennen, das dunkle Brustband auf der schneeweißen Unterseite des Tieres. Ein tiefes Glücksgefühl durchströmte Inga, machte ihr Herz weit und ruhig. Ihr war, als habe sie ein wertvolles Geschenk erhalten. Beim Anblick des Adlers fühlte sie sich eng mit der Natur verbunden, von einer höheren Macht behütet, als Teil eines großen Ganzen. Majestätisch flog der Raubvogel stromaufwärts, und während sie ihm nachblickte, schweiften ihre Gedanken zu der Frage, wo sie selber eigentlich hin wollte im Leben. An die große Liebe, an eine Ehe, daran, Hausfrau und Mutter zu werden, hatte sie schon lange nicht mehr geglaubt. Detlef war eine Notlösung gewesen, eine dürre Hoffnung wenigstens auf ein Kind, irgendwann nebenbei. Und mittlerweile, mit fast vierzig, schien dieser Zug ja wohl längst abgefahren. Stattdessen war sie auf einen anderen Zug aufgesprungen, einen schnelleren, moderneren.

      Bedeutete aber die Agentur wirklich das Richtige für sie, die Erfüllung? Es hatte eine Zeit gegeben, als es sie reizte, dem Konkurrenzkampf standzuhalten, dem Termindruck. Sich immer wieder neu zu beweisen, sich durchzusetzten, zu merken, dass sie gut war. Als jüngste, noch dazu weibliche, Teilhaberin in die Firma einzusteigen. Dann war der Unfall dazwischen gekommen, und mit ihm die Schattenseiten ihres Berufs. Vieles in ihrem Leben war nicht mehr, wie es schien. Anderes, nie beachtetes, dagegen barg ungeahnte Werte. In den letzten Wochen hatte sie begonnen, Vergleiche zu ziehen zwischen den Leuten in ihrem Dorf und ihren Kollegen. Einem Leben in Achtsamkeit, im Einklang mit der Natur und den Menschen um sich herum gegenüber der Hektik und dem Stress einer kurzlebigen Werbewelt. Im Grunde habe ich es schon lange gewusst, dachte Inga, ich wollte es nur nicht wahrhaben.

      Sie schaltete ihr Handy ein, ignorierte alle Nachrichten im Display und wählte die Nummer von Sabije Rahmanis Kanzlei. Nach wenigen Sätzen beendete sie das Gespräch mit einigen beschwichtigenden Worten, unterbrach die Verbindung und schaltete das Gerät wieder aus.

      Lange saß Inga am Wasser und wartete darauf, dass die Sonne elbabwärts im Fluss versank, dort, wohin der Adler gezogen war.

      Michael Levin klappte seine Lehrbücher zu und knipste die Schreibtischlampe aus. Er reckte sich gähnend und trat ans Fenster seines Arbeitszimmers. Der Mond stand hell über dem Waldrand und tauchte die Felder in ein märchenhaftes Licht. Michaels Blick ging automatisch ein wenig nach rechts, zu den dunklen Bäumen, in die Richtung, in der sich die kleine Waldlichtung befand - und Flo. Michael wartete auf das vertraute Ziehen in seiner Brust wie auf einen Fuchs, der stets zur Dämmerung an denselben Weiher kam um zu trinken. Und da war sie schon, die Trauer. Aber das machte nichts, sie gehörte nun einmal dazu. Ob auch die Hirsche auftauchen würden, oder eine Eule? Michael hätte es nicht gewundert, wenn sogar Fabelwesen über die Wiese gelaufen kämen wie in einem Gemälde von Kay Konrad.

      Beim Gedanken an Kays Naturgeschöpfe musste er an die hellblonde Patientin denken, die heute zum ersten Mal in seine Praxis gekommen war. Sie hatte etwas eigenartig gewirkt, geistesabwesend. Diese Abwesenheit, ihre zarte Figur und ihr helles, fast weißblondes Haar hatten sie im Gegenlicht wie eine Fee aus der Artus-Sage wirken lassen. Wenn sie wirklich aus einer anderen Welt aufgetaucht wäre, könnte dies zumindest ihre Zerstreutheit und Atemlosigkeit erklären ...

      Ach, ich bin ein hoffnungsloser Romantiker, dachte Michael. In Wirklichkeit gingen ihr wahrscheinlich einfach nur eine Menge Dinge im Kopf herum.

      Mit einer Tüte frischer Biobrötchen unter dem Arm wartete Inga am nächsten Morgen vor der Kanzlei auf Sabije, um sich bei ihrem Schritt in die Arbeits- und Wohnungslosigkeit unterstützen zu lassen.

      „Moin Sabe, schaffen wir das bis um zehn?“

      „Mit Allahs Hilfe habe ich dich bis dahin zur Umkehr bewegt.“ Sabije war mit leerem Magen nicht zu genießen.

      Inga beeilte sich, den kleinen Besuchertisch zu decken und Sabije die Brötchentüte hinzuhalten. Während ihre Rechtsanwältin kaute, versuchte Inga, die Notwendigkeit ihres Tuns zu erklären.

      „Ich weiß, es klingt ein bisschen verrückt ... Es hat eigentlich nichts damit zu tun, dass ich verliebt bin, jedenfalls nicht direkt. Aber mir ist gestern so allerhand klar geworden. Im Grunde war der Armbruch doch ein Glück. Ohne den Unfall würde mein ganzes Geld jetzt schon in der Werbeagentur stecken, und ich müsste bis an mein Lebensende in dieser Tretmühle ackern. Ja, schon gut“, sie hob abwehrend beide Hände, „Bis vor kurzem war ich ganz wild drauf. Oder dachte es zumindest. Aber ich bin mir absolut sicher: Das kommt für mich nicht mehr in Frage ...“

      „Ist dir bewusst, dass Herr Levin gebunden ist? Er lebt mit einer Frau und deren Kindern zusammen und hat mit seiner Exfrau zwei erwachsene Töchter.“

      „Ja, ich weiß. Du hast so etwas erwähnt.“ Irgendwann in der Nacht hatte Inga sich an Sabijes beiläufige Bemerkung erinnert: ‚Seine Freundin ist bei Janne in der Tanzgruppe’. „Aber es ändert nichts. Ganz egal, wie es mit ihm weitergeht, ob es mit ihm weitergeht, ich werde gleich in die Agentur gehen und kündigen. Und ich ziehe nicht zurück in die Stadt. Du musst mir helfen, aus dem Mietvertrag wieder raus zu kommen.“

      „Und was wirst du stattdessen tun? Entschuldige dass ich frage, aber hast du eine Idee, wovon du in Zukunft leben wirst? Und wo du wohnen willst, wenn du die Wohnung in Marunthien räumen musst?“

      „Zunächst mal kann ich von dem Geld zehren, das ich sonst in die Agentur gesteckt hätte. Im Wendland brauche ich nicht viel. Und danach ...“, Inga zuckte die Schultern, „Keine Ahnung. Ich könnte bei Drossels jobben oder bei einem Bauern. Mich ein paar Wochen auf den Kartoffelroder stellen ...“

      „Auf den Kartoffelroder! Für fünf Euro die Stunde.“

      „Es wäre ja nicht für immer. Irgend etwas wird sich schon ergeben. Und wohnen ... Meine Güte, wenn die Wohnungsbesitzer wiederkommen, ist Sommer. Zur Not schlafe ich auf Petersens Heuboden.“

      Sabije konnte nicht umhin, der Freundin zu ihrem Mut zu gratulieren. Vor ein paar Monaten hatte sie eine Heidenangst gehabt, Inga würde sich nie von der schrecklichen Trennung von Detlef erholen.

      Als Inga damals die lieblose Beziehung, in der die von ihr so ersehnten Zukunftspläne niemals Gestalt annehmen würden, löste und ausziehen wollte, hatte er ihr die schrecklichsten Beschimpfungen an den Kopf geworfen. Und sie dann, als sie anfing Widerworte zu geben statt sich wie gewohnt seinem aufgeblasenen Ego unterzuordnen, ins Gesicht geschlagen. Wobei der körperliche Schmerz nicht so schlimm gewesen war wie die Erkenntnis, jahrelang Wasser an eine längst verdorrte Hoffnung verschwendet zu haben.

      Glücklicherweise gab es so viele positive männliche Bezugspersonen in Ingas Leben, den sanften Vater, Bruder Ben und ihren Kumpel Jörg, dass sie keine pauschale Abneigung gegen das andere Geschlecht zurückbehalten hatte. So blieb ihr die männerfeindliche Verbitterung erspart, mit der nicht wenige von Sabijes Klientinnen jeden Vertreter dieses Geschlechts angifteten, egal ob Mistkerl oder Heiliger. Ingas grenzenlose Lebensfreude, ihre


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