Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel. Iris Weitkamp

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Weil Inga aus dem Kirschbaum fiel - Iris Weitkamp


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Flasche. Er strauchelte, fing sich wieder. Mal joggend, mal taumelnd trieb Rob durch die Nacht. Erst als der Morgen graute, hinkte er in seine Wohnung und in Richtung Bett. Im Fallen, noch bevor sein Kopf das Kissen berührte, verlor er das Bewusstsein.

      Es war ein wunderschöner Frühsommertag. Inga saß am Steuer von Ralfs gelbem Bulli und sang aus voller Kehle.

      Neben ihr schüttelte Sabije ihre Locken im warmem Fahrtwind und fiel ein: „I`ve got a feeling ... that tonight`s gonna be a good night, that tonight`s gonna be a good good ni-i-ight ...”

      Fröhlich die Black Eyed Peas grölend, bogen sie in den Dannenberger Ortskern ein und parkten die Gelbe Gefahr vor der Polizeiwache. Nebenan bei Tante Lina wurde draußen ein Tisch frei. Glücklich seufzend plumpste Sabije in einen bequemen Rattansessel. Inga setzte sich ihr gegenüber und schlüpfte unter dem Tisch aus den Sandaletten, um ausgiebig mit den Zehen zu wackeln. Pippi Langstrumpf wusste schon, was gut war, dachte Inga. Mit den Zehen zu wackeln war eine der lustigsten Möglichkeiten, seine Lebensfreude auszudrücken. Sie bestellten Antipasti und Mineralwasser. Sabije trank keinen Alkohol. Doch dieselbe Toleranz, die sie für sich selbst wünschte, brachte sie auch anderen entgegen und bot sich bereitwillig als Fahrerin an.

      „Gönn dir ruhig einen Merlot. Ich bekomme den Wagen schon heil zu Drossels zurück.“

      Während Inga ihren Stuhl hin und her rückte, um möglichst viel Sonne zu tanken, fragte sie sich, warum es ihr nie gelungen war, eine so tiefe und gleichzeitig entspannte Gläubigkeit an einen Gott zu entwickeln wie ihrer Freundin. Es schien das Leben so viel leichter und zufriedener zu machen. Sabije wohnte allein, hatte weder einen Lebensgefährten noch Kinder, nicht einmal ein Haustier. Ihre Angehörigen lebten weit entfernt. Und doch fühlte sie sich niemals einsam. Jeden Tag, hatte sie Inga einmal erklärt, beten etliche, tausende Brüder und Schwestern zur selben Stunde wie ich. Wir sind verbunden miteinander, und mit Allah.

      Sie spendete den Zakah, den vorgeschriebenen Teil ihrer Einkünfte, für wohltätige Zwecke, fastete während des Ramadan und versäumte nur dann ihr Salat, das fünfmal täglich zu verrichtende Glaubensgebet, wenn sie in einer wichtigen Verhandlung saß und den Richter nicht zu einer Pause bewegen konnte. War der Anblick einer Dr. jur., die am Ende des Flures oder im Hof auf ihrem Gebetsteppich kniete, anfangs als irritierend empfunden worden, hatte man sich mittlerweile an die muslimische Frau Dr. Rahmani gewöhnt. Bei aller Gottesfürchtigkeit war sie jedoch eine moderne Frau, die sich figurbetont kleidete und selbstbewusst mit Männern flirtete. Sabijes geschulter Verstand unterschied sehr genau zwischen Allahs Willen und diktatorischem Eigennutz. Die aggressive Unterwerfung der Frau durch radikalislamische Männer durchschaute sie als das Bestreben, andere klein zu machen, um selber größer zu wirken. Nur ein starker Mann, wusste Sabije, ertrug, ja wünschte sich eine starke Frau. Allahu akbar - Gott war groß. Es gab keinen Gott außer Allah, und er machte keinen Unterschied zwischen seinen Propheten. Für Sabije wäre es vollkommen undenkbar, einem anderen Menschen ihren Glauben aufzureden, nicht einmal ihrer besten Freundin. Für sie beten, ihr Trost anbieten wenn sie traurig war, ja. Sie bekehren, nein.

      Die Bedienung brachte die Getränke, schenkte Wein aus einer kleinen Karaffe in ein ballonförmiges Rotweinglas, goss stilles Wasser in zwei Gläser. Nachdem sie zum Nachbartisch weitergegangen war, konnte Inga endlich Sabije über Magnus ausfragen.

      „Hast du dich mittlerweile mit ihm getroffen? Irgendwie sind wir immer wieder davon ab gekommen. Du hast erwähnt, dass Ihr Euch bei der Arbeit kennengelernt habt. Wo genau, bei Gericht?“

      „Fast. Im Kühlraum des Rechtsmedizinischen Instituts. Seine Leiche war verschwunden. Ich wollte einen Autopsiebericht abholen, aber der zuständige Mediziner verspätete sich. Wahrscheinlich rannte er mit den anderen Kollegen umher und suchte die Leiche, auf die wie gesagt Magnus wartete. Wir standen also beide da und konnten nicht viel tun als Kaffee aus dem Automaten zu trinken und uns zu unterhalten.“

      „Wie meinst du das, seine Leiche war verschwunden?“

      „Genau wie ich es sage. Magnus ist als Spezialist hinzugezogen worden, um die Schussverletzungen eines Opfers mit den Einschüssen in seiner Kleidung abzugleichen. Als er zum verabredeten Termin in der Rechtsmedizin eintraf, waren alle Beteiligten im Autopsieraum versammelt - bis auf den Toten. Schließlich fand man ihn in einem falschen Kühlfach. Am nächsten Tag rief Magnus mich in der Kanzlei an.“ Sabijes Augen glänzten. „Wir sind dann in der Mittagspause gemeinsam essen gegangen ... Und stell dir vor, er hat mir Blumen geschickt. Einen Riesenstrauß Lilien mit einem Kärtchen: ‚Bewährtes Hausmittel gegen Leichengeruch. Ich würde Sie gerne wiedersehen, M.H.’ Bei Fleurop werden sie sich sicherlich gewundert haben.“

      Beide Frauen lachten.

      „Da ist aber was dran. Wozu sonst die ganzen Kränze und Gestecke bei Beerdigungen?“ Inga vermutete, dass es diesen Brauch nicht gäbe, wenn das Raumspray einige hundert Jahre früher erfunden worden wäre. Jedenfalls schien Magnus Sinn für Humor zu haben. „Und? Hast du ihn wiedergesehen?“ Sie wünschte ihrer Freundin so sehr ein wenig mehr Glück in der Liebe.

      Obwohl Sabije gern und häufig flirtete, hielt sie sich und ihr Herz zurück, sobald es ernst wurde. Viele männliche Muslime betrachteten sie als Gotteslästerin, da sie sich nicht blind unterwarf. Andersgläubigen Männern blieben ihre Gebete, ihr Fasten suspekt.

      Es hatte einmal eine große Liebe in ihrem Leben gegeben, als sie siebzehn war. Gemeinsam waren sie in der Anti-Atom-Bewegung aktiv gewesen, zwei junge verliebte Menschen mit großen Idealen. Staatsangehörige der Freien Republik Wendland. Bei der radikalen Räumung des Hüttendorfes in Gorleben zerbrach unter den Gummiknüppeln der Polizei alles. Sabijes Freund war nie wieder derselbe, betäubte ständige Kopfschmerzen und ohnmächtigen Frust mit Alkohol, verlor seinen Job und jeglichen Zugang zu positiven Gefühlen. Schließlich stürzte er sich von einem Baugerüst. Eine schreckliche Zeit, in der Inga keinen Moment von Sabijes Seite wich, mit ihr im selben Bett schlief und sie überallhin mitschleppte.

      Dies und ihr tiefer Glaube halfen Sabe schließlich wieder auf die Füße. Hartnäckiger als zuvor kämpfte sie gegen Atomkraft und für die Rechte friedlicher Demonstranten. Sie beriet Teilnehmer gewaltfreier Aktionen und verteidigte Aktivisten vor Gericht wie eine Löwin ihre Jungen. Nie wieder sollte in diesem Land ein Mensch, der keinem etwas zuleide tat, dafür zusammengeschlagen werden, dass er einfach nur unbequem war. Kein Farbiger von einer Rotte Neonazis, kein Demonstrant von einer Hundertschaft überforderter Beamter. Ein oft unerreichbar scheinendes Ziel.

      Jetzt lächelte Sabe, als sie an Magnus dachte, und sah dabei jung und unbeschwert aus. „Wir sind zum Abendessen in einen urigen Landgasthof gefahren. Weißt du, was Magnus tat, als es Zeit für mein Maghrib, mein Abendgebet, war? Ich habe ihn gebeten, kurz anzuhalten. Da fragt er mich, ob ich noch einen Moment warten kann. Und er biegt von der Bundesstraße ab, durch die Felder und zeigt mir einen wunderbaren Platz auf einem Hügel. Als ich nach dem Maghrib zum Wagen zurück kam, meinte er, er verstünde zwar nichts vom Islam, aber er glaube, jeder Gott mit einem guten Geschmack müsse sich über diesen Ort freuen.“

      „Womit bewiesen wäre, dass er mehr vom Islam versteht, als er ahnt. Und dass er sich wirklich Gedanken um dich macht.“

      „Ja ... Ich habe das Gefühl, man kann mit ihm über alles sprechen. Magnus ist so ... offen. Alles interessiert ihn, und dabei ist er ganz unvoreingenommen.“ Sabe geriet ins Schwärmen.

      „Wie sieht er denn aus? Hast du ein Foto?“

      „Leider nicht. Er wirkt auf den ersten Blick wie ein Rausschmeißer, groß und muskulös und kahlrasiert. Dabei ist er ein ganz Lieber ...“

      Unwillkürlich musste Inga einen Seufzer unterdrücken. Sabe sollte nicht glauben, dass sie neidisch war. Aber natürlich erriet die Freundin Ingas Gedanken.

      „Gibt es bei dir Fortschritte an der Herzensfront?“

      „Nicht viele. Wenn überhaupt, dann in Millimetern. Er hat angefangen mich zu duzen, und darüber bin ich echt froh. Es fühlte sich irgendwie komisch an, den Mann den man liebt mit ‚Sie’ anzusprechen. Ich spüre einfach, dass wir auf einer Wellenlänge liegen. Aber falls da bei ihm etwas ist, lässt er es nicht zu. Du brauchst mir nicht


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