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Читать онлайн книгу.„Norwood… ich hab´s!“ Sie sah Helen forschend an. „Northbury, stimmt´s?“
Helen senkte den Kopf. „Das ist – war – mein Vater.“
„War? Soll das heißen, er ist – tot? Nun, ehrlich gesagt war das ja wohl irgendwann zu erwarten: Dieser Lebenswandel… auch für einen Gentleman wirklich zu exzessiv. Hat er wirklich alles verspielt?“
„Alles“, bestätigte Helen mit gesenktem Blick, dann sah sie wieder auf und der Lady fest in die Augen. „Aber er ist nicht tot. Nur auf den Kontinent geflohen. Das hat er unserem Butler zumindest zum Abschied gesagt.“
„Oh.“ Die Lady starrte einen Moment lang vor sich hin, dann lächelte sie. „Lady Helen Norwood also… und Sie sind jetzt mittellos. Was wollen Sie jetzt tun?“
„Ich werde mir eine Arbeit suchen. Als Gouvernante vielleicht. Das habe ich mir mit meiner alten Gouvernante überlegt.“
„Ich bin Lady Brincknell. Sagen Sie, Mädchen – ach, kommen Sie, setzen sie sich zu mir in den Wagen, ja? Wir sollten das besprechen.“
Helen überlegte. Sollte die Dame womöglich üble Absichten verfolgen? Linny hatte einiges über die Gefahren der sündigen Großstadt zu sagen gehabt. Nur - was einem arglosen Mädchen genau zustoßen konnte, darüber hatte sie sich recht ungenau geäußert.
Andererseits aber hatte die Dame mit ihrem Namen etwas anzufangen gewusst. Sie hatte Pferd und Wagen, und zwar von der kostspieligsten Sorte – und sie hatte eine respektable Zofe bei sich. Helen wollte der Dame deshalb schon in den Wagen folgen, da fielen ihr die Stickereien wieder ein. „Mylady, sehr gerne, aber ich müsste zuerst noch ganz rasch diese Stickereien abgeben. Es ist gleich hier in der Straße – wenn ich Sie einen Augenblick lang warten lassen dürfte?“
Lady Brincknell lächelte. „Stickereien? Ach – für Madame Angélique womöglich? Ihre Créationen sind zurzeit wirklich sehr gefragt. Und Sie haben einige der Stickereien angefertigt?“
„Zusammen mit Miss Linhart, bei der ich im Moment wohne, Mylady. Wenn ich also darf, laufe ich schnell hinüber und liefere die Arbeiten ab, dann bin ich sofort wieder da.“
„Laufen Sie, Kindchen.“
Helen gab die Stickereien ab, empfing ein Lob für die sorgfältige Arbeit und den vereinbarten Lohn (viel war es nicht) und kehrte sofort zum Wagen von Lady Brincknell zurück.
„Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange warten lassen, Mylady?“
„Steigen Sie ein, Kindchen. Wir fahren jetzt zu mir, um uns einmal ausführlich zu unterhalten, und danach bringe ich Sie zu Ihrer Gouvernante zurück, einverstanden?“
„Sehr gerne, Mylady – wenn es nur nicht zu lange dauert. Ich möchte nicht, dass Miss Linhart in Aufregung gerät. Sie ist so gut zu mir.“
„Miss Linhart? Soso. Nun, fahren wir!“ Sie tippte mit ihrem geschlossenen Sonnenschirm dem Kutscher auf die Schulter, und die Pferde zogen an. In raschem Tempo näherte sich der Wagen dem Wohnviertel der Reichen und Vornehmen, was Helen auch ohne Ortskenntnisse an den eleganten Fassaden, den gepflegten Grünanlagen und den wenigen, aber erlesen gekleideten Passanten und Reitern ablesen konnte. Dazu kam noch die Nähe zu einem riesigen Park. Lady Brincknell hatte die Freundlichkeit, ihr zu erklären, dass es sich dabei um den Hyde Park handelte.
In der Mount Street hielt der Wagen vor einem großen, aber nicht protzigen Stadthaus, das relativ neu und sehr elegant aussah.
Lady Brincknell hatte Helens beeindruckten Blick wohl bemerkt, denn sie sagte: „Mein verstorbener Mann hat es erbauen lassen. Georgianisch nennt man das, nach König George, dem Armen. Ich wohne gerne hier – alle Freunde und Bekannten hat man in der Nähe, der Park ist nicht weit, um auszufahren und“ – sie zwinkerte – „auf dem Laufenden zu bleiben. Außerdem bietet das Haus jeden modernen Komfort.“ Helen starrte sie verblüfft an. Was meinte sie denn wohl damit?
Als die Lady energisch auf die Haustür zuschritt, flüsterte die Zofe Helen zu: „Ihre Ladyschaft meint, dass wir sogar über eins dieser neuartigen Wasserklosetts verfügen. Unter der Treppe.“
„Oh!“, machte Helen, teils beeindruckt, teils etwas peinlich berührt. Davon hatte sie schon gehört, aber noch nie eines mit eigenen Augen gesehen – wie denn auch, in der Abbey wurde schließlich kein Penny auf Neuerungen verwendet.
Sie folgte der Lady mit der Zofe und fühlte sich schon ganz als Dienstbotin – nun, warum auch nicht? Etwas anderes hatte sie schließlich selbst auch nicht ins Auge gefasst, und etwas anderes konnte sie auch nicht mehr erwarten. Für alles andere war sie zu arm und für eine lukrative Laufbahn in der Halbwelt wohl auch zu streng, was die Moralvorstellungen betraf.
Sie hatte zwar nur sehr nebelhafte Vorstellungen davon, was eine junge Dame tun musste, um in der Halbwelt Erfolg zu haben, aber es klang bedenklich. Halbwelt, das war der Bereich, in dem eine anständige junge Dame keinesfalls etwas zu suchen hatte – nur die Herren trieben sich dort herum. Herren durften so etwas, ihr Ruf litt nicht darunter.
Ungerecht war das, wenn man es einmal genauer bedachte.
Innen war das Haus mindestens so elegant wie außen, hell, freundlich, großzügig und sparsam-klassisch mit Gold und Schnitzereien akzentuiert. Die Zofe nahm ihrer Herrin den Umhang und das gerettete Retikül ab; Lady Brincknell winkte Helen gebieterisch, ihr zu folgen, und schritt in einen hellen Raum zur linken Hand.
„Mein grüner Salon“, erläuterte die Hausherrin unnötigerweise. Helen musterte die zartgrünen Tapeten, die grüngolden gepolsterten Möbel und murmelte ein Kompliment. Lady Brincknell sah sie kurz scharf an und lachte dann. „Sehr grün, nicht wahr? Sie haben ja Recht, wahrscheinlich habe ich ein wenig des Guten zu viel getan. Aber mir gefällt es so. Setzen Sie sich doch, Kindchen!“
Sie selbst hatte sich schon gesetzt und klopfte nun auf die Polsterung neben sich. Helen folgte der Aufforderung, setzte sich aber artig auf eines der stramm gepolsterten Sesselchen und faltete die Hände im Schoß.
„Wie brav Sie dreinschauen!“, bewunderte die Lady sie prompt. „Trotzdem glaube ich, dass mehr in Ihnen steckt. Wollen Sie für mich arbeiten?“
„Als Gouvernante, Mylady?“
„Nein, danke. Ich hatte nie Kinder, nur einen Neffen und zwei Nichten, die Kinder meines älteren Bruders. Für eine Gouvernante habe ich keine Verwendung, aber eine Gesellschafterin könnte ich gut gebrauchen. Sie würden mir vorlesen, mit mir ausfahren, mich auf Veranstaltungen, Bälle und so weiter begleiten, gerne auch mit mir sticken, sollte mich bei Gelegenheit die Lust darauf überkommen“ – sie grinste eher undamenhaft – „mit mir über alle Mögliche diskutieren und mir ganz generell die Langeweile vertreiben. Trauen Sie sich das zu?“
Helen lächelte. „Gewiss, Mylady. Aber ehrlich gesagt, klang mir das eben eher, als wollten Sie mich in die Gesellschaft einführen. Diese Arbeit scheint das reinste Paradies zu sein. Möchten Sie mich wirklich einstellen?“
„Aber gewiss doch. Und Sie haben nicht ganz Unrecht mit Ihrer Vermutung, Kindchen. Ich meine, eine Lady Helen Norwood sollte nicht irgendwo ein klägliches Dasein fristen, indem sie die unerzogenen Bälger einer neureichen Familie unterrichtet und womöglich die unerwünschten Aufmerksamkeiten ihres Arbeitgebers abwehren muss. Warum sollte ich Sie nicht der Welt präsentieren, damit Sie einen Platz im Leben finden, der Ihnen zukommt?“
„Aber – ich könnte Ihnen das nie vergelten!“
„Das weiß ich doch. Das müssen Sie auch nicht, Kindchen – ach, ich werde einfach Helen und du sagen, einverstanden? Kindchen wirkt auf die Dauer auch etwas monoton. Also, Helen, ich habe wirklich mehr Geld, als ich jemals ausgeben kann, und außerdem war mir durchaus ein wenig langweilig. Die Saison steht vor der Tür, und ich denke, wir werden viel Spaß miteinander haben. Na los, Helen, sag ja.“
Helen nickte zaghaft, noch ganz benommen.
Lady Brincknell klatschte in die Hände. „Gut, dann lasse