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      Helen nickte wieder und zwickte sich unauffällig, um aus diesem Traum aufzuwachen. Die Lady bemerkte dies aber doch und lachte. „Kein Traum, meine Kleine. Also, auf jetzt. Jenny, meine Zofe, wird dich begleiten. Alles ganz achtbar.“

      9

      Sir Adam saß in seinem Arbeitszimmer und blätterte müßig durch den kleinen Stapel Einladungen, den Rathesom ihn auf den Schreibtisch gelegt hatte. Nicht gerade viele goldgeränderte Karten – aber die Saison hatte noch nicht richtig begonnen, und der begehrteste Gast war er nun auch nicht.

      Nicht, dass ihn das sonderlich gestört hätte; die meisten Veranstaltungen waren seiner Ansicht nach völlige Zeitverschwendung: hohles Geplapper hohlköpfiger Mitglieder der feinen Gesellschaft.

      Ab und zu allerdings musste man sich doch auf ausgewählten Festlichkeiten sehen lassen, um nicht als Sonderling zu gelten. Seltsamer Nebeneffekt: Je seltener man Bälle und ähnliches besuchte, desto begehrter wurde man. Sogar auf Adam selbst traf das in begrenztem Maße zu – hätte er mehr als den Titel eines Baronets aufzuweisen gehabt, hätte er sich wahrscheinlich vor potenziellen Bräuten kaum noch retten können. Das Gleiche wäre wohl eingetreten, wenn er den Umfang seines Vermögens publik gemacht hätte, aber dazu war er zu vorsichtig, außerdem wollte er nicht als neureich gelten.

      Nun, irgendwann musste er heiraten. Der Titel war zwar nicht so wichtig, dass er unbedingt vererbt werden musste, aber der Besitz – Oakwood, Norwood Abbey und ein nicht unbeträchtliches Vermögen – sollte ja nun auch nicht einfach so an die Krone fallen. Außerdem stellte er es sich recht hübsch vor, Kinder zu haben, Söhne, die man erziehen, und Töchter, die man verwöhnen konnte. Ja, und eine Frau, mit der man vertrauten Umgang pflegte, die man vielleicht sogar liebte? Die einen verstehen konnte? Die möglicherweise nicht so hohlköpfig war wie viele der Schönheiten auf den üblichen Geselligkeiten…

      Warum dachte er jetzt an Helen Norwood? Ob sie hohlköpfig war oder nicht, wusste er schließlich gar nicht. Die Tatsache, dass sie ihm ihren Schmuck überlassen, aber eine Quittung verlangt hatte, hatte ihm gefallen. Damit hatte sie Stil bewiesen. Und Stolz.

      Aber wo, beim Jupiter, war das Mädchen? Sie konnte sich doch unmöglich alleine durchschlagen, schon gar nicht in London! Was ihr da alles zustoßen konnte…

      Sollte er nun eine dieser Veranstaltungen beehren?

      Eine Kartenpartie bei Lord Bernard Tamlin, morgen Abend… das nun ganz gewiss nicht, das letzte Spiel hatte ihm genügt. Der Abend, an dem er wider Willen die Abbey gewonnen hatte, war ihm heute noch peinlich. Tamlin würde ihn nur ausfragen, was er mit der Abbey vorhatte und was aus dem unbelehrbaren Northbury geworden war – aber vielleicht wusste er etwas über Helen Norwood, immerhin war er doch mit ihr verlobt gewesen?

      Er würde ihn bei Gelegenheit diskret aushorchen, aber nicht bei dieser Kartenpartie. Lieber auf einer anderen Festivität, wo er ihm bei Bedarf besser aus dem Weg gehen konnte. Vielleicht heiratete er Lady Helen nun ja, dann war sie wenigstens versorgt…

      Ein Konzert bei den Riddletons… auf gar keinen Fall! Lady Riddletons nötigte stets ihre Tochter und ihre beiden Söhne, das Publikum akustisch zu quälen, denn alle drei waren leider vollkommen unmusikalisch, wenn auch eifrig bemüht. Die Geige quietschte, das Cello brummte falsch dazwischen, und Miss Riddleton hatte auch keine nennenswerte Stimme. Da halfen dann auch die erlesenen Erfrischungen nichts, die Lady Riddleton nach der Tortur servieren ließ.

      Außerdem würde Tamlin dort keinesfalls erscheinen, und Sir Adam konnte sich auch sonst niemanden denken, der etwas über Helen Norwood wissen konnte und sich zu den Riddletons wagte.

      Er legte die Einladung beiseite.

      Ein Tanzabend… hm. Lady Overtons Veranstaltungen waren eigentlich durchaus angenehm – nicht zu voll, kein zu arrogantes oder zu dümmliches Publikum. Ein, zwei Pflichttänze würden ihn nicht umbringen. „James?“

      „Ja, Sir? Was kann ich für Sie tun?“

      „Sagen Sie Lady Overton zu. Morgen, glaube ich.“

      „Sehr wohl, Sir.“ Rathesom verbeugte sich und verließ das Zimmer.

      Sir Adam, froh, für die morgige Unterhaltung gesorgt zu haben, wandte sich wieder seinen Geschäften zu und vertiefte sich in den Bericht, den ihm der Leiter von St. Michael geschickt hatte. Dort wurde wohl allmählich eine Erweiterung notwendig. Kein Wunder angesichts des Elends in London…

      Gab es ein geeignetes Gebäude in der Nähe? Oder ein brachliegendes Grundstück? Er sollte sich vielleicht bald einmal selbst dort umsehen…

      10

      Helen war immer noch leicht benommen. Sie hatte sich zwar brav zu Linny fahren lassen, ihr alles erklärt und die Begeisterung ihrer Gouvernante etwas verblüfft registriert – legte Miss Linhart denn gar kein Misstrauen an den Tag? Hatte sie keinen Verdacht, Lady Brincknell könne finstere Absichten hegen? Helen wusste selbst nicht, welche finsteren Absichten das eigentlich sein sollten, aber Miss Linhart konnte doch eigentlich misstrauischer sein?

      Nein, sie jubelte über das Glück, das Helen mit dieser Stellung zuteil wurde: Gesellschafterin! Bei Lady Brincknell, einer steinreichen, hoch angesehenen Dame der besten Gesellschaft! Vielleicht ergab sich dabei sogar noch die Chance auf eine annehmbare Partie?

      Helen war freilich der Ansicht, sie selbst sei keine annehmbare Partie mehr, verarmt, wie sie war – aber davon wollte ihre treue Linny natürlich nichts wissen. Sie half Helen eifrig, ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken, küsste ihre ehemalige Schülerin herzlich zum Abschied und bat darum, durch gelegentliche Billets auf dem Laufenden gehalten zu werden, was Helen gerührt versprach.

      Zurück bei Lady Brincknell, wurde sie von Jenny in ein sehr hübsches und großes Zimmer im zweiten Stock geleitet, ganz in der Nähe vom Schlafzimmer Ihrer Ladyschaft, wie Jenny versicherte, die sich danach daran machte, die schäbige Reisetasche auszupacken.

      „Miss – Verzeihung, Lady Helen – ich fürchte, das geht gar nicht. Als Begleiterin von Lady Brincknell müssen Sie sehr viel besser gekleidet sein.“

      „Das tut mir sehr leid, Jenny, aber etwas Besseres kann ich mir nicht leisten. Wenn man aber das Graue hier einmal gründlich aufbügelt und vielleicht mit einigen neuen Bändern verziert, wenn so etwas vorrätig sein sollte…“

      „Nun, vorläufig vielleicht. Aber ich bin sicher, Mylady schwebt eine andere Lösung vor.“

      Jenny sollte nur zu recht behalten, wie Helen feststellen musste – sofort am nächsten Tag wurde Helen, in das geschmähte graue Kleid, immerhin ihr bestes, gekleidet, in einer geschlossenen Kutsche zu Myladys Schneiderin geschleppt, Madame Lafleur.

      „Madame Angélique ist zwar der letzte Schrei, aber sie verwendet mir etwas zu viele Stickereien“, begründete sie ihre Wahl. „Wir brauchen zunächst einige Tageskleider, zwei, drei Abendroben und einige Hüte und wenigstens zwei Mäntel. In diesem dünnen Umschlagtuch siehst du wirklich zu armselig aus, mein Kind.“

      Helen lächelte bitter. „Ich bin ja auch arm, Mylady!“

      „Deshalb musst du aber doch nicht so aussehen! Außerdem möchte ich mit dir Ehre einlegen, und es gehört zu deinen Pflichten, meine Wünsche zu erfüllen, ist es nicht so?“

      Helen senkte den Kopf. „Gewiss, Mylady.“

      Seltsame Situation, dachte sie. Sie war Lady Brincknell ungemein dankbar, gewiss – aber dieses Gnadenbrot hatte auch etwas Demütigendes an sich. Sie fühlte sich als Objekt der Wohltätigkeit und damit auf einer Stufe mit Menschen wie dem kleinen hungrigen Straßendieb von vorhin. Unerfreulicher Gedanke – aber war sie denn wirklich noch etwas Besseres als dieser Kleine?

      „Helen, hörst du mir eigentlich zu?“

      Sie fuhr zusammen. „Verzeihung, Mylady. Die Situation ist noch so neu für mich. Was wollten Sie mir sagen?“

      „Nur, dass wir jetzt zu Madame Lafleur hineingehen. Mut gefasst, mein Kind!“


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