Gesammelte Werke. George Sand
Читать онлайн книгу.Ich fühle mich noch nicht stark genug, um den Anblick ihrer Sonne und das Schauspiel ihres Wahnwitzes auszuhalten. Ich muss noch dich anschauen, dich vernehmen.
Zudem auch habe ich noch niemals meine Zelle mit plötzlichem Entschluss und ohne viele Überlegungen verlassen, meinen grauenvollen, wohltätigen Zufluchtsort, die schreckliche und heilsame Stätte meiner Buße, zu der ich beflügelt eile und ohne mich umzuschauen, in die ich mich in wildem Rausche stürze und aus der ich nur mit allzuwohl begründetem Zögern und mit nur allzu lange anhaltendem Bedauern scheide.
Du weißt nicht, was für mächtige Bande mich an dieses freiwillige Gefängnis ketten, Consuelo! Du weißt nicht, dass ich hier mein Ich lasse, den wahren Albert, der nicht von hier fort kann, ein Ich, das ich hier immer wiederfinde und dessen Gespenst mich ruft und drängt, wenn ich wo anders bin. Hier ist mein Bewusstsein, mein Glaube, mein Licht, meine Kraft, mit einem Worte, mein wirkliches Leben.
Verzweiflung, Furcht und Tollheit bringe ich mit her, sie hängen sich oft an meine Fersen und überliefern mich hier noch einem schrecklichern Kampfe.
Aber, siehst du, hinter dieser Tür ist ein Allerheiligstes, wo ich sie niedertrete und mich neu gebäre. Beladen, schwindelnd gehe ich hinein, gereinigt gehe ich daraus hervor und keiner weiß, unter welchen Qualen ich die Geduld und Unterwürfigkeit errungen habe, die ich mit zurückbringe.
Reiße mich nicht von hier, Consuelo! vergönne mir, dass ich mich langsamen Schrittes entferne und erst, nachdem ich gebetet.
– Treten wir ein und beten wir miteinander, sagte Consuelo. Und dann wollen wir gehen. Die Zeit eilt, es ist vielleicht bald Tag. Man soll den Weg nicht wissen, der ins Schloss führt, man muss uns nicht kommen sehen, vielleicht muss man uns auch nicht miteinander kommen sehen: denn ich will das Geheimnis Ihrer Zufluchtsstätte nicht verraten, Albert! und bis jetzt ahnt niemand meine Entdeckung. Ich will nicht gefragt sein, ich will nicht lügen. Ich muss ein recht haben Ihren Angehörigen gegenüber, mich in ein ehrfurchtsvolles Schweigen zu hüllen und ihnen den Glauben zu lassen, dass meine Verheißungen und Ahnungen nur Träume waren. Wenn man mich mit Ihnen zurückkommen sähe, so würde man meine Zurückhaltung für Eigensinn halten, und obgleich ich fähig bin, allem Ihretwegen, Albert, Trotz zu bieten, so will ich doch nicht ohne Not mich um das Zutrauen und die Gewogenheit Ihrer Familie bringen.
Eilen wir denn! Ich bin erschöpft, und wenn ich hier noch lange weilte, so könnten mir die Kräfte vollends ausgehen, deren ich doch für den Rückweg noch bedarf. Fort, beten Sie, sage ich Ihnen, und gehen wir dann!
– Du bist erschöpft! ruhe doch hier, meine Geliebte! Schlafe, ich werde dich sorglich bewachen, oder wenn dir meine Gegenwart Unruhe macht, so sollst du mich in der Grotte nebenan einschließen, sollst diese eiserne Tür zwischen dich und mich setzen, und bis du mich zurückrufst, will ich für dich beten in meiner Kirche.
– Und indes Sie beten, indes ich mich der Ruhe überlasse, wird Ihr Vater noch lange qualvolle Stunden zu erdulden haben, bleich und regungslos, wie ich ihn einmal sah, gebeugt unter der Last des Alters und des Kummers, seine schwachen Knie in das Pflaster seines Oratoriums bohrend, als harre er, dass ihm die Nachricht von Ihrem Tode seinen letzten Seufzer auspresse!
Und Ihre arme Tante wird unruhig wie im Fieber auf alle Türme steigen, mit den Augen Sie auf allen Stegen des Gebirges zu suchen! Und auch diesen Morgen wieder wird man im Schlosse zusammenkommen und diesen Abend aus einander gehen mit der Verzweiflung in den Mienen und dem Tod im Herzen!
Albert, Sie haben also Ihre Angehörigen nicht lieb, da Sie sie ohne Mitleid und ohne Reue so lauern und so leiden lassen?
– Consuelo, Consuelo! schrie Albert und schien aus einem Traume zu erwachen, sprich nicht so, du tust mir furchtbar weh. Welches Verbrechen habe ich denn begangen? Welches Unglück habe ich denn verursacht? Warum sind sie so in Unruhe? Wie viele Stunden sind es denn, seit ich von ihnen gegangen bin?
– Wie viele Stunden, fragen Sie; Sie sollten fragen, wie viele Tage und Nächte, fast wie viele Wochen!
– Tage, Nächte! Still, still, Consuelo, lassen Sie mich mein Unglück nicht erkennen. Ich wusste wohl, dass ich hier das Maß der Zeit verlöre und dass das Andenken dessen, was oben auf der Erde geschieht, nicht in dieses Grab herunterstiege … aber das dachte ich nicht, dass die Dauer dieser Vergessenheit, dieser Bewusstlosigkeit nach Tagen, nach Wochen gezählt werden könnte.
– Ist es nicht eine freiwillige Vergessenheit, mein Freund? Nichts erinnert Sie hier an das Scheiden und Kommen des Tages; hier in der ewigen Dunkelheit ist es ewig Nacht. Sie haben, glaube ich, nicht einmal eine Sanduhr hier, um die Stunden zu zählen. Ist die Sorgfalt, mit der Sie jedes Mittel entfernt halten, um den Lauf der Zeit zu messen, nicht eine Vorsicht, welche Ihre wilde Laune gebraucht, um die Stimme der Natur und die Mahnungen des Gewissens zu ersticken?
– Ich bekenne, dass es mir Bedürfnis ist, wenn ich hierher gehe, allem abzusagen, was in mir rein menschlich ist. Aber ich wusste das nicht, o mein Gott, dass Schmerz und Selbstbetrachtung so meine Seele dahinnehmen konnten, dass mir unterschiedlos Stunden wie Tage oder Tage wie Stunden däuchten. Was für ein Mensch bin ich denn, und warum hat man mich nie aufgeklärt über dieses neue Unglück meiner Organisation?
– Unglück? Nein, es beweist vielmehr eine ungemeine geistige Kraft, die aber nicht auf die rechte Art gebraucht und die im Dienste schlimmer Vorurteile vergeudet ist. Man hat es sich zum Gesetz gemacht, das Unheil, das Sie stifteten, Ihnen zu verbergen, man hat geglaubt, aus Rücksicht für Ihr Leiden, die Leiden der anderen Ihnen verschweigen zu müssen. Aber meiner Meinung nach hieß das, Ihnen wenig Achtung zollen, hieß an Ihrem Herzen zweifeln; ich aber, die ich nicht daran zweifle, Albert! ich verberge Ihnen Nichts.
– Gehen wir, Consuelo! eilen wir! sagte Albert hastig seinen Mantel um die Schultern werfend. Ich bin ein Unglücklicher! Ich habe meinem Vater Leiden verursacht, den ich anbete, meiner Tante, die ich liebe! Ich bin kaum wert sie wieder zu sehen. Ach! ehe ich eine solche Grausamkeit wieder auf mich lade, lieber will ich mir das Opfer auferlegen, niemals wieder hierher zu kommen. Aber nein, ich bin glücklich; ich habe ein Freundesherz gefunden, mich zu warnen, mich zur Vernunft zurückzuführen. Ist doch endlich jemand, der mir über mich die Wahrheit sagt, und sie mir immer sagen wird; nicht wahr, meine geliebte Schwester?
– Gewiss, Albert, ich schwöre es Ihnen.
– Himmlische Güte! Ja, dieses Wesen, das mir beispringt, ist das einzige, das ich hören, dem ich glauben kann! Gott weiß was er tut. Ohne meine eigene Verrücktheit zu ahnen, habe ich immer die der anderen angeklagt.