Tom Sawyers Abenteuer und Streiche, Tom Sawyer als Detektiv & Huckleberry Finns Fahrten (Illustrierte Ausgabe). Марк Твен
Читать онлайн книгу.man alle Kugeln, die man nur jemals besessen und verloren hatte, beisammen, und wären sie auch noch so weit zerstreut gewesen. Und nun war das auf so schmerzliche Weise und so augenscheinlich fehlgeschlagen. Toms ganzer Glaube war in seinen Grundfesten erschüttert. Er hatte wohl sehr oft von derartigen geglückten Unternehmungen, niemals aber von fehlgeschlagenen gehört. Es fiel ihm nicht ein, daß er es schon mehrmals versucht und nachher den Platz des Begräbnisses nicht hatte wiederfinden können. Er grübelte eine Zeitlang darüber nach und entschied schließlich, daß irgend eine Hexe den Zauber gestört haben müsse. Er dachte sich von diesem Punkt zu überzeugen, so suchte er, bis er eine Sandstelle mit einer trichterartigen Vertiefung darin fand. Gleich legte er sich nieder, preßte den Mund fest darauf und rief:
„Wanze, komm herauf vom Grund,
Tu mir, was ich möchte, kund!“
Der Sand begann sich zu heben und eine kleine, schwarze Wanze erschien für einen Augenblick, verschwand aber schleunigst wieder.
„Sie wagt‘s nicht! Es war also eine Hexe! Ich wußte es ja!“
Er sah sofort die Nutzlosigkeit eines Kampfes gegen Hexen ein und gab es mutlos auf. Aber wenigstens hätte er die eben fortgeworfene Glaskugel gern wieder gehabt und begann sofort umherzusuchen, konnte sie aber nicht finden. Nun ging er zu seiner Schatzkammer zurück und stellte sich genau so, wie er vorher gestanden, als er die Kugel fortwarf. Dann zog er eine andere aus der Tasche, warf sie ebenso fort und deklamierte dabei: „Bruder, such den Bruder!“ Er paßte genau auf, wo sie niederfiel, ging dorthin und suchte umher. Aber sie mußte entweder näher oder weiter geflogen sein — er wiederholte also den Versuch noch zweimal. Der letzte Versuch hatte Erfolg. Die beiden Kugeln lagen kaum einen Fuß voneinander.
In diesem Augenblick drang der Ton einer Zinntrompete durch den Wald herüber. Tom entledigte sich blitzartig seiner Jacke und Hose, machte sich aus einem Hosenträger einen Gürtel, räumte einen Haufen Gestrüpp hinter dem hohlen Baum fort, holte einen rohgeschnitzten Bogen und Pfeil hervor, ein hölzernes Schwert, eine Zinntrompete, raffte alles zusammen und raste davon, barbeinig, in flatterndem Hemd. Bald hielt er unter einer großen Ulme, stieß antwortend in die Trompete und schlich auf den Zehen vorwärts, um vorsichtig nach allen Richtungen auszulugen. Zu einer eingebildeten Heldenschar gewandt, flüsterte er:
„Halt, tapfere Gefährten! Haltet hier, bis ich blase!“
In diesem Augenblick erschien Joe Harper, ebenso gekleidet und bewaffnet wie Tom. Tom rief: „Halt! Wer kommt ohne meine Erlaubnis in den Sherwood-Wald?!“
„Guy von Guisborne wagt‘s! Wer bist du, daß — daß —“
„Daß du es wagen darfst, so zu sprechen,“ ergänzte Tom prompt, denn sie spielten „nach dem Buch“ und deklamierten aus dem Gedächtnis.
„Daß du es wagen darfst, so zu sprechen?“
„Wer ich bin? Robin Hood, wie dein schuftiger Leichnam bald fühlen soll!“
„Du wärest in der Tat jener berühmte Geächtete? Mit Vergnügen will ich mit dir um die Herrschaft dieses herrlichen Waldes streiten! Paß auf!“
Sie zogen ihre hölzernen Schwerter, warfen alle anderen Waffen auf die Erde, nahmen eine Fechterstellung an, Fuß bei Fuß, und begannen einen heißen, kühnen Kampf „zwei oben und zwei unten.“ Plötzlich sagte Tom:
„Du, wenn‘s dir recht ist — stärker!“
So gingen sie denn noch stärker los, schnaufend und schwitzend.
Zuweilen stieß Tom hervor: „Fall‘, fall‘, warum fällst du nicht?!“
„Fällt mir nicht ein! Warum fällst du nicht selbst? Du bekommst die meisten Schläge!“
„Ach, das ist ja gleich! Ich kann doch nicht fallen! Das steht doch nicht im Buch! Im Buch steht doch: Und mit einem schrecklichen Hieb fällte er den armen Guy von Guisborne! Du mußt dich umdrehen, und ich geb dir eins hinten drauf!“
Gegen solche Autorität ließ sich nicht streiten, Joe drehte sich um, erhielt seinen Hieb und fiel. „So,“ sagte er, sich wieder aufrappelnd, „nun laß du mich dich töten. Das ist recht und billig!“
„Gibt‘s nicht, steht nicht im Buch!“
„So? Na, meinetwegen. ‘s ist aber eine rechte Gemeinheit von dem Buch! — So, jetzt kannst du Friar Tuck sein, Tom, oder Much, des Müllers Sohn, und mich mit einem Zaunpfahl lahm prügeln; oder ich bin der Sheriff von Nottingham, und du bist jetzt mal Robin Hood und tötest mich.“
Tom war‘s zufrieden, und auch diese Abenteuer wurden durchgefochten. Dann war wieder Joe Robin Hood und bekam von der verräterischen Nonne die Erlaubnis, all seine furchtbare Kraft mit dem Blut seiner Wunden davonfließen zu sehen. Zuletzt schleifte ihn Joe, der jetzt eine ganze Bande weinender Geächteter repräsentierte, vorsichtig davon, gab ihm seinen Bogen in die schwache Rechte, und Tom flüsterte mit ersterbender Stimme:
„Wo dieser Pfeil niederfällt, da begrabt den armen Robin Hood unter grünen Bäumen.“ Dann schoß er einen Pfeil ab, fiel zurück und würde tot gewesen sein — aber er hatte sich in Nesseln geworfen und sprang in die Höhe — etwas zu schnell für einen Toten.
Sie zogen sich wieder an, verbargen ihre Kriegsgeräte und gingen fort, bedauernd, daß es keine Geächteten mehr gab, und sich fragend, was die moderne Zivilisation getan habe, um diesen Verlust verschmerzen zu lassen. Sie waren sich beide vollkommen klar, daß sie lieber ein Jahr hindurch Geächtete im Sherwood-Walde gewesen wären als für Lebenszeit Präsident der Vereinigten Staaten.
Neuntes Kapitel.
Um halb neun wurden Tom und Sid, wie gewöhnlich, zu Bett geschickt. Sie sprachen ihre Gebete, und Sid war bald eingeschlafen. Tom lag wach und wartete in peinvoller Ungeduld. Als es ihm schien, daß es bald wieder Tag werden müsse, hörte er es zehn Uhr schlagen. Das war zum Verzweifeln. Er hätte um sich schlagen mögen, wie es seine Nerven verlangten, aber er fürchtete, Sid aufzuwecken. So lag er still und starrte in die Dunkelheit. Es war so schrecklich still! Allmählich begannen aus der Stille heraus kleine, geheimnisvolle, kaum hörbare Stimmen sich bemerkbar zu machen.
Zuerst vernahm er nur das Ticken der Uhr. Dann begannen morsche Balken geheimnisvoll zu brechen. Auch im Fußboden regte es sich. Es war kein Zweifel, daß Geister ihr Wesen trieben. Ein dumpfer, sich regelmäßig wiederholender Ton drang aus Tante Pollys Schlafzimmer herauf. Und jetzt begann das eintönige Zirpen einer Grille, das keine menschliche Macht zum Schweigen zu bringen vermag. Dann wieder ließ das unheimliche Klopfen des Totenkäfers in einem Balken über seinem Kopf Tom erschauern — gewiß waren irgend jemandes Tage gezählt. Jetzt erfüllte das langgezogene Heulen eines Hundes die nächtliche Stille und wurde sofort durch ein noch entfernteres Heulen beantwortet. Tom lag halb betäubt. Er glaubte, alle Zeit habe aufgehört und die Ewigkeit beginne. Trotz aller Anstrengung schlief er ein. Die Uhr schlug elf, aber er hörte nichts mehr. Und dann mischte sich in seine halbbewußten Träume ein höchst melancholisches Katzengeheul. Das Aufreißen eines benachbarten Fensters schreckte ihn in die Höhe. Der wütende Ruf: „Hol der Teufel die verfluchte Katze!“ und der Anprall einer leeren Flasche gegen die Rückwand von Tante Pollys Holzschuppen ermunterten ihn vollends; eine Minute später war er völlig angekleidet, stieg aus dem Fenster und noch auf allen Vieren am Dach eines kleinen Anbaues entlang. Während dieses Spazierganges miaute er ein- oder zweimal halblaut, dann kletterte er auf das Dach des Holzschuppens und sprang von dort zur Erde. Huckleberry Finn war da mit seiner toten Katze. Die Jungen machten sich davon und verschwanden in der Dunkelheit. Eine halbe Stunde später wateten sie durch das nasse Gras des Kirchhofes.