Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

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Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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klag­te an, es klag­te an mit tau­send, mit zwei­tau­send, mit drei­tau­send Stim­men, schrie das Tier sei­ne An­kla­ge aus tau­send, zwei­tau­send, drei­tau­send Mäu­lern.

      Und die Alarm­glo­cke schrill­te, und sie trom­mel­ten mit den Fäus­ten ge­gen die Ei­sen­tü­ren, mit den Sche­meln rann­ten sie da­ge­gen an. Die Ei­sen­bet­ten fie­len, knal­lend in ih­ren Schar­nie­ren, und wur­den wie­der hoch­ge­ris­sen und knall­ten neu. Schep­pernd fuh­ren die Ess­schüs­seln auf dem Bo­den her­um, die Kü­bel­de­ckel lärm­ten, und das gan­ze Haus, die­ses Rie­sen­ge­fäng­nis, stank plötz­lich wie eine ver­hun­dert­fach­te La­tri­ne.

      Und die Be­reit­schaf­ten fuh­ren in ihre Klei­der und grif­fen nach ih­ren Gum­mi­knüt­teln.

      Und Zel­len­tü­ren wur­den auf­ge­schlos­sen: Knack­knack!

      Und der klat­schend dump­fe Laut von Gum­mi­knüt­teln auf die Schä­del her­nie­der wur­de laut und das Ge­brüll wü­ten­der, ver­mischt mit dem Ge­scharr kämp­fen­der Füße, und die ho­hen, tier­haf­ten Schreie der Epi­lep­ti­ker und das Juhu-Ge­jo­del idio­ti­scher Spaß­ma­cher und die gel­len­den Lu­den­pfif­fe …

      Und Was­ser klatsch­te in die Ge­sich­ter der ein­drin­gen­den Auf­se­her.

      Und in der Lei­chen­kam­mer lag Kar­li Her­ge­sell ganz still mit ei­nem kind­haft klei­nen, fried­li­chen Ge­sicht.

      Und all das war eine wil­de, pa­ni­sche, grau­si­ge Sym­pho­nie, ge­spielt zu Ehren Tru­dels, ver­wit­we­te Her­ge­sell, ge­bo­re­ne Bau­mann.

      Aber sie lag un­ten, halb auf dem Lin­ole­um, halb auf dem schmut­zig­grau­en Ze­ment­bo­den der un­te­ren Sta­ti­on I.

      Sie lag da ganz still, ihre klei­ne graue Hand, die noch so viel Mäd­chen­haf­tes hat­te, war leicht ge­öff­net. Ihre Lip­pen wa­ren von ein we­nig Blut ge­färbt, ihre Au­gen sa­hen blick­los in eine un­be­kann­te Ge­gend.

      Aber ihre Ohren schie­nen auf den to­sen­den, auf- und ab­schwel­len­den Höl­len­lärm zu lau­schen, und ihre Stirn war ge­fal­tet, als grü­bele sie dar­über nach, ob die­ses wohl der Frie­de sei, den ihr der gute Pas­tor Lo­renz ver­spro­chen.

      In Ver­folg aber die­ses Selbst­mor­des wur­de der Ge­fäng­nis­geist­li­che Fried­rich Lo­renz von sei­nem Amte sus­pen­diert, und nicht der ver­sof­fe­ne Arzt. Ein Ver­fah­ren wur­de ge­gen den Geist­li­chen er­öff­net. Denn es ist ein Ver­bre­chen und die Be­güns­ti­gung ei­nes Ver­bre­chens, wenn ei­nem Ge­fan­ge­nen ge­stat­tet wird, selbst sein Le­bens­en­de zu be­stim­men: dazu sind al­lein der Staat und sei­ne Die­ner be­rech­tigt.

      Wenn ein Kri­mi­nal­be­am­ter einen Mann mit sei­nem Pis­to­len­kol­ben so ver­letzt, dass er ster­bens­krank wird, und wenn ein be­trun­ke­ner Arzt den Ver­letz­ten ster­ben lässt, so ist das al­les in Ord­nung. Aber wenn ein Geist­li­cher einen Selbst­mord nicht ver­hin­dert, wenn er ei­nem Ge­fan­ge­nen, der kei­nen ei­ge­nen Wil­len mehr ha­ben darf, den ei­ge­nen Wil­len lässt, so hat er ein Ver­bre­chen be­gan­gen und muss da­für bü­ßen.

      Lei­der ent­zog sich Pas­tor Fried­rich Lo­renz – ge­nau wie die­se Her­ge­sell – der Süh­ne sei­nes Ver­bre­chens, in­dem er an ei­nem Blut­sturz starb, gra­de in dem Au­gen­blick, als er ver­haf­tet wer­den soll­te. Es war näm­lich auch der Ver­dacht auf­ge­taucht, dass er un­sitt­li­che Be­zie­hun­gen zu sei­nen Be­treu­ten un­ter­hielt. Er aber hat­te den Frie­den, wie er selbst ge­sagt hät­te, ihm blieb viel er­spart.

      Aber so kam es, dass Frau Anna Quan­gel bis zur Haupt­ver­hand­lung nichts von dem Tode von Tru­del und Karl Her­ge­sell er­fuhr, denn der Nach­fol­ger des gu­ten Pas­tors war zu ängst­lich oder un­wil­lig, Bo­ten­gän­ge un­ter den Ge­fan­ge­nen zu über­neh­men. Er be­schränk­te sich strik­te auf die Seel­sor­ge, da, wo sie ge­wünscht wur­de.

      61. Die Hauptverhandlung: Ein Wiedersehen

      Auch bei dem raf­fi­nier­test aus­ge­klü­gel­ten Sys­tem kön­nen Feh­ler vor­kom­men. Der Volks­ge­richts­hof zu Ber­lin, ein Ge­richts­hof, der nichts mit dem Vol­ke zu tun hat­te und zu dem das Volk nicht ein­mal als stum­mer Zuschau­er zu­ge­las­sen war, denn sei­ne meis­ten Sit­zun­gen wa­ren ge­heim – die­ser Volks­ge­richts­hof war so ein raf­fi­niert aus­ge­klü­gel­tes Sys­tem: ehe der An­ge­klag­te noch den Ver­hand­lungs­saal be­tre­ten hat­te, war er prak­tisch schon ver­ur­teilt, und nichts schi­en es zu ge­ben, das da­für sprach, dass ein An­ge­klag­ter in die­sem Saa­le et­was Er­freu­li­ches er­le­ben könn­te.

      An die­sem Mor­gen stand nur eine klei­ne Sa­che an: ge­gen Otto und Anna Quan­gel we­gen Lan­des- und Hoch­ver­rats. Der Zu­hö­rer­raum war kaum zu ei­nem Vier­tel ge­füllt: ein paar Par­tei­uni­for­men, ei­ni­ge Ju­ris­ten, die aus un­er­forsch­li­chen Grün­den die­ser Ver­hand­lung bei­zu­woh­nen wünsch­ten, und in der Haupt­sa­che Stu­den­ten der Ju­rispru­denz, die ler­nen woll­ten, wie die Jus­tiz Men­schen aus der Welt schafft, de­ren Ver­bre­chen dar­in be­stand, ihr Va­ter­land mehr ge­liebt zu ha­ben, als es die ver­ur­tei­len­den Rich­ter ta­ten. Alle die­se Leu­te hat­ten nur durch »Be­zie­hun­gen« Ein­tritts­kar­ten be­kom­men. Wo­her der klei­ne Mann mit dem wei­ßen Spitz­bärt­chen und den von klu­gen Fält­chen um­ge­be­nen Au­gen, wo­her also der Kam­mer­ge­richts­rat a.D. Fromm sei­ne Kar­te be­zo­gen hat­te, bleibt un­be­kannt. Er saß je­den­falls un­auf­fäl­lig zwi­schen den an­de­ren, in ei­nem klei­nen Ab­stand von ih­nen, das Ge­sicht ge­senkt und häu­fig sei­ne gold­ge­fass­te Bril­le put­zend.

      Um fünf Mi­nu­ten vor zehn Uhr wur­de Otto Quan­gel von ei­nem Schu­po in den Ge­richts­saal ge­führt. Man hat­te ihm die Klei­der an­ge­zo­gen, die er bei sei­ner Ver­haf­tung in der Werk­statt ge­tra­gen hat­te, ein sau­be­res, aber viel­fach ge­flick­tes All­tags­ge­wand, bei dem die dun­kelblau­en Fli­cken sehr leb­haft von dem ver­wa­sche­nen Blau der Grund­far­be ab­sta­chen. Sein im­mer noch schar­fes Auge glitt gleich­gül­tig von den noch lee­ren Plät­zen hin­ter der Ge­richts­schran­ke zu den Zuschau­ern hin­über, leuch­te­te einen Au­gen­blick auf beim An­blick des Kam­mer­ge­richts­rats – und Quan­gel setz­te sich auf die Bank der An­ge­klag­ten.

      Kurz vor zehn Uhr wur­de die zwei­te An­ge­klag­te, Anna Quan­gel, von ei­nem zwei­ten Schu­po her­ein­ge­führt, und nun ge­sch­ah eben je­nes Ver­se­hen: kaum hat­te Anna Quan­gel ih­ren Mann ge­se­hen, so ging sie, ohne zu zö­gern, ohne die Men­schen im Saal zu be­ach­ten, zu ihm hin und setz­te sich ne­ben ihn.

      Otto Quan­gel flüs­ter­te hin­ter der vor­ge­hal­te­nen Hand: »Sprich nicht! Noch nicht!«

      Aber ein Auf­leuch­ten in sei­nem Auge sag­te ihr, wie er­freut er über die­ses Wie­der­se­hen war.

      Es war na­tür­lich nie und nir­gends in der Ge­schäfts­ord­nung die­ses er­lauch­ten Hau­ses vor­ge­se­hen, dass zwei An­ge­klag­te, die seit Mo­na­ten sorg­fäl­tig von­ein­an­der iso­liert wor­den wa­ren, eine Vier­tel­stun­de vor Be­ginn der Ver­hand­lung sich zu­sam­men­set­zen und ge­müt­lich mit­ein­an­der plau­dern konn­ten. Aber sei es nun, dass die bei­den Schu­pos zum ers­ten Male die­sen Dienst ver­sa­hen und ihre Vor­schrif­ten ver­ges­sen hat­ten, oder sei es, dass sie die­ser Strafsa­che kei­ne große Be­deu­tung bei­ma­ßen, oder sei es, dass ih­nen die bei­den ein­fa­chen, fast dürf­tig an­ge­zo­ge­nen


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