Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

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Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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Hand hin­hielt, be­kam kaum ge­nug für eine Zi­ga­ret­te. Dann gin­gen die bei­den im Gras­gar­ten um­her, Arm in Arm, eng an­ein­an­der­ge­lehnt. Ich war ver­ges­sen.

      An die­sem Abend wein­te Emil Bra­cho­wi­ak wie­der: Schmeid­ler hat­te ihn völ­lig ab­ge­kocht und woll­te wie­der nichts mehr von ihm wis­sen. Und am nächs­ten Tage mach­te Emil Bra­cho­wi­ak wirk­lich Lam­pen, nicht beim Me­di­zi­nal­rat, aber doch beim Ober­pfle­ger.

      Aber es er­folg­te nichts, nicht das Ge­rings­te. Wa­rum nicht, das weiß ich nicht. Die Ver­wal­tung hat­te alle Macht­mit­tel in den Hän­den, sie konn­te die Schul­di­gen be­stra­fen, sie aus­ein­an­der­le­gen, die Ju­gend­li­chen, die­se Quel­le stän­di­ger Beun­ru­hi­gung, in an­de­re An­stal­ten ver­brin­gen. Sie tat nichts, wie sie nichts ge­gen un­se­ren Hun­ger tat.

      Ich neh­me an, weil es ihr ganz gleich­gül­tig war, wie wir leb­ten und in wel­chem Schmutz wir ver­ka­men. Un­ter sechs­und­fünf­zig wa­ren eben kei­ne sechs, die je die Frei­heit wie­der­se­hen wür­den. Alle, fast alle wa­ren dazu ver­ur­teilt, im­mer in die­sem Haus zu le­ben. Es war ganz gleich­gül­tig, wie sie das ta­ten, es kam nicht mehr dar­auf an. Sie hat­ten zu ar­bei­ten, so­lan­ge noch ein biss­chen Leis­tung aus ih­ren aus­ge­mer­gel­ten Kör­pern aus­zu­pres­sen war, und al­les an­de­re in­ter­es­sier­te nicht! Moch­ten sie glück­lich sein oder ver­re­cken, drau­ßen war das Le­ben, und dies war das Haus der To­ten!

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      Ich habe es schon ge­sagt, ich habe die­sen Hans Ha­gen nur kur­ze Zeit er­lebt. Ich be­daue­re das, ich wäre ger­ne län­ger mit ihm zu­sam­men ge­we­sen. Er war grund­schlecht, aber er war so schön, sein Ge­sicht strahl­te wie das Lu­zi­fers, des ge­fal­le­nen En­gels. Für uns war er wirk­lich Lu­zi­fer, der Licht­brin­ger, ge­we­sen, er hat­te in un­ser ödes, grau­es Le­ben Licht hin­ein­ge­tra­gen, Be­we­gung, so­gar La­chen. Ich habe ihn sehr be­wun­dert – nie­mand ist seit­dem mehr ge­kom­men, der ihn er­setzt, der auch nur ein we­nig von sei­nem Ch­ar­me und sei­ner Le­ben­dig­keit be­ses­sen hät­te. Vi­el­leicht bin ich in die­sem trau­ri­gen Haus schon sehr tief ge­sun­ken, aber ich wage es, zu sa­gen: Mag ein Mensch schon schlecht sein, wenn er nur Le­ben in sich hat und Glanz, al­les bes­ser als die­ses graue, ver­schlis­se­ne, zer­lump­te Da­sein, das wir jetzt Tag für Tag – ohne ir­gend­ei­ne Aus­sicht auf Hel­le – her­un­ter­le­ben.

      Es war schon ge­mur­melt wor­den: »Der Ha­gen kommt fort«, aber nie­mand hat­te so recht dar­an ge­glaubt. Wo­hin soll­te er denn kom­men? In die Frei­heit? Das hät­ten we­der Arzt noch Ver­wal­tung zu­ge­las­sen. Die­ser Kö­nig des To­ten­hau­ses, der hier nur Übles an­ge­stif­tet hat­te, die­ser bru­ta­le Schlä­ger, der sei­nem bes­ten Freun­de die Kinn­la­de ein- und das Auge aus­schlug, wie soll­te er sich drau­ßen in der Frei­heit be­wäh­ren? Sein Va­ter hat­te die Hand von ihm ab­ge­zo­gen – wo­von wür­de er le­ben? Nie wür­de die­ser Mensch, der ja nichts ge­lernt hat­te, als ein­fa­cher Ar­bei­ter le­ben wol­len. Da­für war sei­ne Ge­nuss­sucht viel zu stark. Nein, Hans Ha­gen, ein­und­drei­ßig Jah­re alt, von glän­zen­den Ga­ben, viel­ge­bil­det und ein be­stri­cken­der Un­ter­hal­ter, war dazu ver­ur­teilt, den gan­zen Rest sei­nes Le­bens in sol­chen Häu­sern zu ver­brin­gen, nie wie­der wür­de er als frei­er Mensch über die Stra­ßen ei­ner Stadt ge­hen, kein Mäd­chen wür­de ihm lä­cheln, kei­ne rech­te Ar­beit von ihm ge­tan wer­den.

      »Da geht der Hans!«, sag­te der Kal­fak­tor zu mir, und da sah ich ihn un­ten auf dem Hof, ein Zi­vil­be­am­ter führ­te ihn am Kett­chen, er trug die An­stalt­stracht: eine schilf­lei­ne­ne Jop­pe und eine brau­ne man­che­s­ter­ne Hose. Der Kal­fak­tor er­zähl­te mir noch, dass der Ober­pfle­ger so ge­mein ge­we­sen war, ihm nicht ein­mal das Tra­gen von Zi­vil zu er­lau­ben. Auch war dem Hans Ha­gen ver­bo­ten wor­den, das Brot und den Ta­bak, den er noch be­saß, dem Ot­sche Schmeid­ler zu schen­ken, eben­so wie er sei­nem viel­ge­schla­ge­nen Freun­de Lies­mann nicht sei­nen Ra­sier­ap­pa­rat und sei­ne selbst­ge­mach­ten San­da­len schen­ken durf­te.

      »Da geht der Hans!« Wo­hin? In eine an­de­re An­stalt na­tür­lich, hier hat er sechs Jah­re lang Schwie­rig­kei­ten ge­macht, mö­gen sich nun an­de­re mit ihm pla­gen! Sein Ruf reist ihm in sei­nen Ak­ten vor­aus, das wird ihn nicht hin­dern, wie­der das gan­ze Haus zu char­mie­ren, sein Kö­nig zu wer­den, Tri­bu­te zu emp­fan­gen und klei­ne Ver­schwö­run­gen an­zu­zet­teln, die ihm selbst nie ge­fähr­lich wer­den.

      Und ich sehe ihn äl­ter wer­den, den Hans Ha­gen, sein schön ge­well­tes schwar­zes Haar wird dünn und grau; an­de­re, Jün­ge­re sind ihm jetzt an Kraft über­le­gen. Er muss List ge­brau­chen, wo er frü­her nur sei­ne ge­ris­se­nen Jiu-Jit­su-Grif­fe ein­setz­te, und ei­nes Ta­ges ver­fängt auch die List nicht mehr. Der Schim­mer der Ju­gend ist ver­flo­gen, er ist alt, ein ab­ge­ta­ner Kö­nig. Aber im­mer noch ste­hen vor sei­nem Blick die star­ken Ei­sen­git­ter der Ge­fäng­nis­se, ein Men­schen­le­ben hat er nur durch sie hin­aus­schau­en kön­nen in die Frei­heit. Um­sonst ha­ben für ihn die Mäd­chen ge­lacht, um­sonst ha­ben für ihn die schim­mern­den Jach­ten ihre wei­ßen Flü­gel ent­fal­tet – im To­ten­haus hat er ge­lebt, im To­ten­haus wird er ster­ben. Ar­mer Hans Ha­gen – so jung, so schön, so schil­lernd!

      Ar­mer Hans Ha­gen? Ach, wir Ar­men alle! Bei uns al­len fing es mit et­was Klei­nem an, bei mir war es eine Fla­sche Rot­wein, die, ein ver­ges­se­nes Ge­schenk, ge­ra­de zur schlim­men Stun­de im Bü­fett stand – bei ihm wird es ähn­lich ge­we­sen sein. Es fängt im­mer mit et­was Klei­nem an, und dann ver­strickt es uns, es wächst rie­sen­groß auf über uns – und durch Git­ter se­hen wir nur noch die Frei­heit. Die Turm­uhr schlägt die Stun­den, Hun­der­te, Tau­sen­de, Zehn­tau­sen­de – um­sonst! Der Wind weht aus Nord, aus Ost, aus Süd und West, er weht weich und bit­ter­kalt – nicht für uns mehr, nie für uns! Ach, dass wir wis­send ge­we­sen wä­ren! Ar­mer Hans Ha­gen!

      Ich muss noch ei­ni­ge we­ni­ge Wor­te sa­gen über die Hin­ter­blie­be­nen von Hans Ha­gen, ich kann sie nicht an­ders nen­nen. Denn für uns alle war er mit sei­nem Fort­gang ge­stor­ben, wir wür­den ihn nie wie­der­se­hen, nie eine Zei­le von ihm zu le­sen be­kom­men.

      Wo­chen­lang sa­hen wir Lies­mann und Schmeid­ler jede Stun­de, die sie sich von ih­rer Ar­beit frei­ma­chen konn­ten, stumm bei­ein­an­der am Gan­gen­de ste­hen. Der fri­sche Jun­ge sah sehr bleich aus, sei­ne Au­gen wa­ren oft rot­ge­weint. Lies­mann war noch fins­te­rer und ag­gres­si­ver als je; beim ge­rings­ten Wort, das ihm nicht ge­fiel, schlug er ohne jede War­nung los, und so bru­tal wie nur mög­lich. Es war rüh­rend, wie die bei­den für­ein­an­der sorg­ten, sie hal­fen sich in al­lem, im Rau­chen, im Es­sen. Und bei­de im­mer fast stumm ne­ben­ein­an­der, ver­eint durch den einen ge­mein­sa­men Ge­dan­ken an den, der ge­gan­gen war. An den frei­en Sonn­tagnach­mit­tagen, wenn ich mit dem fins­te­ren Zei­se und dem Que­ru­lan­ten Red­de­min mei­nen Skat spiel­te, sa­ßen sich die bei­den ge­gen­über, Schmeid­ler und Lies­mann, und spiel­ten »Mensch är­ge­re dich nicht«. Sie spiel­ten es stun­den­lang, ohne ein Wort zu wech­seln, nur manch­mal lach­te der Jun­ge auf, wenn es ihm ge­lun­gen war, sei­nen Geg­ner ganz auf den An­fang zu­rück­zu­wer­fen. Sie muss­ten knapp mit Ta­bak sein, die Pfei­fe wech­sel­te stän­dig zwi­schen dem einen und dem an­de­ren Mun­de.

      Aber schon da­mals, als noch das bes­te Ein­ver­neh­men zwi­schen den bei­den herrsch­te, als sie die ge­mein­sa­me Trau­er


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