Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

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Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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nicht sehr ein­neh­men­de Sei­te sei­nes We­sens ken­nen­lern­te. Die Fol­gen wa­ren ein völ­lig zer­schla­ge­ner Schus­ter, ein Ot­sche mit ei­nem ge­bro­che­nen Bein und ein Lies­mann, der nun sei­ner­seits für acht Wo­chen den Ar­rest be­zog. Als er wie­der zu uns zu­rück­kam – ihn hat­te kei­ner mit Son­der­ga­ben ver­sorgt –, war Schmeid­ler aus un­se­rer Mit­te ver­schwun­den – in ir­gend­ein Ju­gen­der­zie­hungs­heim, in das er längst ge­hört hät­te.

      49

      Ich keh­re nun zu mei­nen ei­ge­nen Er­leb­nis­sen zu­rück. Es ist noch im­mer der An­kunfts­tag in der Heil- und Pfle­gean­stalt; eben habe ich die Frei­stun­de hin­ter mich ge­bracht, habe ers­ten Ein­blick ge­tan und ers­te Be­kannt­schaf­ten ge­schlos­sen und ste­he nun wie­der auf dem lan­gen, düs­te­ren Kor­ri­dor, der auch am schöns­ten, hells­ten Som­mer­tag düs­ter bleibt. Stun­de um Stun­de wan­de­re ich dort auf und ab, un­be­schäf­tigt, zer­quält und doch stumpf. Froh bin ich, wenn der Ober­pfle­ger oder ein Wacht­meis­ter ein­mal vor­über­kommt, mit ei­nem Kran­ken, die Wä­sche zur Kam­mer tra­gen, oder mit ei­nem Stoß al­ter Ak­ten. Es ge­schieht doch was! Es geht mich nichts an, was ge­schieht, und ei­gent­lich ge­schieht auch gar nichts, aber ich wer­de von mir und mei­nem so un­ge­wis­sen Schick­sal ab­ge­lenkt: Ich mag, ich kann mit mir nichts mehr zu tun ha­ben!

      Manch­mal stel­le ich mich auch an das eine mir zu­gäng­li­che Fens­ter – das an­de­re ist durch den Glas­kas­ten ver­baut – und star­re hin­aus, über die sta­chel­be­wehr­te Mau­er hin­weg, in die Frei­heit, die dort son­neng­lit­zernd »drau­ßen« liegt. Vor mir ra­gen, wie­der­um »drau­ßen«, hohe Bäu­me. Lin­den sind es wohl; sie be­schat­ten eine Chaus­see, auf der Au­tos ei­lig vor­bei­ra­sen, ich sehe Mäd­chen auf ih­ren Rä­dern in hel­len Klei­dern vor­bei­tre­ten – aber ich wen­de den Kopf fort und tre­te wie­der tiefer in den düs­te­ren Gang hin­ein. Das Le­ben da drau­ßen quält mich, es ge­hört nicht mehr zu mir, ich bin da­von ab­ge­trennt, nichts wis­sen will ich mehr von ihm! Fahrt alle vor­über und fort, wer­de das Land leer von euch! Die Bäu­me sol­len ver­dor­ren, der Sand über Wie­sen und Äcker we­hen, Wüs­te müss­te um ein sol­ches To­ten­haus sein, dür­re, tote Wüs­te.

      Manch­mal tre­te ich auch in einen der bei­den Ta­ges­räu­me ein, in den großen oder in den klei­nen, und sit­ze da fünf oder zehn Mi­nu­ten bei mei­nen Lei­dens­ge­fähr­ten. Lei­dens­ge­fähr­ten? Sie kön­nen nicht so lei­den wie ich, ihr Schick­sal hat sich schon ent­schie­den, es ist die Un­ge­wiss­heit, die mich so quält! Man­che schla­fen, den Kopf auf den Tisch ge­legt (denn das Schla­fen auf den Bet­ten ist ver­bo­ten!), an­de­re dö­sen stumpf vor sich hin, ein klei­nes, völ­lig schief ge­bau­tes, noch jun­ges Men­schen­bün­del, das auf bei­den Au­gen schielt (aber auf je­dem an­ders!), mit ei­nem bir­nen­för­mi­gen Kopf, hat ein un­glaub­haft schmut­zi­ges Spiel Kar­ten vor sich und legt lang­sam eine Kar­te nach der an­de­ren vor sich hin, be­trach­tet sie sehr lan­ge und grinst blö­de da­bei. Ei­ner hat eine Zei­tung vor sich, über die er hin­weg­starrt. Und ei­ner hat sich so­gar die Hose aus­ge­zo­gen und un­ter­sucht mit schmerz­ver­zo­ge­ner Mie­ne die eit­ri­gen und blu­ti­gen Fu­run­kel an sei­nem Bein – an un­se­rem Ess­tisch!

      Ich flie­he vor Ekel und ste­he wie­der auf dem Kor­ri­dor. Ich lese die Na­mens­ta­feln an den Zel­len; ich lese da: Go­ther, Gra­matz­ki, Deutsch­mann, Brandt, West­fahl, Bur­mes­ter, Röh­rig, Klin­ger. Und im Wei­ter­ge­hen wie­der­ho­le ich es mir, wie­der­ho­le es wie die Vo­ka­beln, die ich als Jun­ge lern­te: Go­ther, Gra­matz­ki, Deutsch­mann, Brandt … Wie­der­ho­le es im­mer wie­der, bis es sitzt. Und gehe zur nächs­ten Ta­fel über … So ler­ne ich, brin­ge die Zeit hin, die­se end­lo­se Zeit, zwei­ein­halb end­lo­se Stun­den! Was sind drau­ßen zwei­ein­halb Stun­den? Aber was sind sie hier! Aber schließ­lich rücken die Haus­ar­bei­ter aus ih­ren Ar­beits­zel­len ein, die Mat­ten­flech­ter und Bürs­ten­ma­cher; Tü­ren wer­den ge­schla­gen, Rufe wer­den laut, im Wasch­raum läuft Was­ser, Pfei­fen wer­den an­ge­brannt. Gott sei Dank, Le­ben, ein biss­chen Le­ben!

      Und schon er­tönt der Ruf: »Die Fa­brik rückt ein!« und gleich dar­auf der an­de­re: »Es­sen­ho­ler an­tre­ten!«

      We­nig spä­ter sit­zen wir in dem nun wie­der voll be­setz­ten Ta­ges­raum; die in der Fa­brik wa­ren, sol­len Neu­ig­kei­ten be­rich­ten und er­zäh­len um­ständ­lich, dass sie dies­mal Kis­ten zu tra­gen hat­ten, die an­dert­halb Zent­ner wo­gen, ges­tern wa­ren es Kis­ten, die nur einen Zent­ner zwan­zig Ge­wicht hat­ten. So­fort wird mit wü­ten­der Er­bit­te­rung ein Streit dar­über ge­führt, wie sich die­se Ge­wichts­dif­fe­renz er­klä­ren las­se.

      Um un­ser Es­sen brau­chen wir uns da­bei nicht zu küm­mern, es isst sich von selbst, es ist Was­ser mit ei­ni­gen Kohl­ra­bi­stücken. Ich bin noch so fein, dass ich die­se Stücke, die voll­kom­men hol­zig sind, ne­ben mei­ne Schüs­sel lege. Eine große, ver­ar­bei­te­te Hand fährt über den Tisch, reißt die Stücke mit und schiebt sie in ein weit ge­öff­ne­tes Maul.

      So­fort schreit mich von der an­de­ren Sei­te eine wü­ten­de Stim­me an: »Wa­rum gibst du, ver­dammt noch mal, dem Jahn­ke dei­nen Kohl­ra­bi?! Der Kerl frisst al­les in sich rein, was er zu se­hen kriegt, der wür­de auch Schei­ße fres­sen, der Kerl!«

      Und Jahn­ke brüllt wü­tend zu­rück: »Was geht dich Rotz­jun­gen an, was ich fres­se? Wenn der Neue mir den Kohl­ra­bi gibt, ist das sei­ne Sa­che! Bist du sein Vor­mund? Aber je­der jun­ge Rotz­jun­ge möch­te hier Vor­mund spie­len …«

      Gott­lob bin ich bei die­sem neu sich ent­spin­nen­den Streit, in den sich na­tür­lich auch so­fort an­de­re mi­schen (»Hört doch end­lich mit die­sem Ge­sab­bel auf, Gott­ver­damm­mich! Könnt ihr nie Ruhe hal­ten?!« – »Was geht’s dich an?!« – »Recht hat er! Ruhe wol­len wir ha­ben!« – »Und ich schreie, so­viel ich will!«). Gott­lob wer­de ich in all dem nun ent­ste­hen­den Tu­mult ganz ver­ges­sen. Der Wacht­meis­ter aber im Glas­kas­ten, der auch ein Fens­ter in un­se­ren Ta­ges­raum hat, hebt bei dem Ge­brüll gar nicht den Kopf, liest sei­ne Zei­tung ru­hig wei­ter.

      Das Es­sen ist vor­über, ich habe das ges­tern noch für un­mög­lich Ge­hal­te­ne voll­bracht: Ich habe einen schie­ren Li­ter war­mes Was­ser in mich hin­ein­ge­löf­felt. Im Au­gen­blick kom­me ich mir ge­sät­tigt vor. In der Nacht aber wird mich das Knur­ren mei­nes Ma­gens dar­über be­leh­ren, dass ich ganz und gar nicht ge­sät­tigt bin. Da­für aber wer­de ich von nun an auch zu den häu­fi­gen Kü­bel­gän­gern ge­hö­ren.

      Der Ober­pfle­ger holt die Leu­te zu­sam­men, die zum Arzt sol­len oder wol­len, letz­te­re nur, so­weit er ihr Vor­ha­ben bil­ligt. Von un­se­rer Ab­tei­lung al­lein an die zwan­zig Mann, ich ge­hö­re nicht dazu. In der Haupt­sa­che sind es Arm- und Bein­ver­letz­te, in der Ar­beit er­wor­be­ne Schä­den. Es gibt er­staun­lich vie­le der­ar­ti­ge Schä­den, ent­we­der taugt die Un­fall­ver­hü­tung in der Fa­brik nichts, oder die­se geis­tes­schwa­chen Ar­bei­ter sind be­son­ders un­ge­schickt. (Aber in die­sem Fall müss­te man ih­nen doch eine un­ge­fähr­li­che­re Ar­beit ge­ben?)

      Vor dem Git­ter aber, das un­se­ren Kor­ri­dor ge­gen das Trep­pen­haus ab­schließt, ha­ben sich an­de­re Kran­ke aus den bei­den Häu­sern drü­ben an­ge­sam­melt, ich zäh­le über drei­ßig. Und nun rücken »die Wei­ber« an, meist Mäd­chen, auch an die zwan­zig, un­ter der Füh­rung ih­rer Auf­se­he­rin. Sie wer­den ganz dicht


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