Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

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Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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Ende des Gan­ges war. Ich habe ihn nicht zu Ge­sicht be­kom­men. Aber das macht nichts, ich kom­me heu­te doch nicht vor. Es ist auch bes­ser so, bei über sieb­zig Kran­ken hat er doch nicht recht Zeit für mich. Bes­ser ist es, einen an­de­ren Tag ab­zu­war­ten, an dem es ru­hi­ger ist. Ich muss ihm mei­ne Ge­schich­te in al­ler Aus­führ­lich­keit er­zäh­len.

      Der Ober­pfle­ger ruft: »Fuß­kran­ke vor, Füße frei­ma­chen!«

      Und nun geht es los, in ei­nem atem­be­rau­ben­den Tem­po. Im­mer zu sechs Mann wer­den sie in das Arzt­zim­mer ge­las­sen, und spä­tes­tens nach ei­ner Mi­nu­te taucht schon der Ers­te wie­der drau­ßen auf: ver­arz­tet und be­han­delt! Der Ober­pfle­ger ruft: »Die an­de­ren den Ober­kör­per frei­ma­chen! Hin­ter­ein­an­der an­tre­ten!«

      Die Mäd­chen guck­ten, wie die Män­ner aus ih­rem Hem­de schlüpf­ten. Das er­reg­te die Wut der Auf­se­he­rin, ei­ner der­ben ält­li­chen Per­son mit ro­tem Ge­sicht. Sie stürz­te auf ein Mäd­chen zu, der ein paar Lo­cken un­ter dem Kopf­tuch in die Stirn hin­gen. »Was soll das Ge­zot­tel?!«, schrie sie zor­nig. »Nur Män­ner im Kopf, was? War­te, ich will es dir zei­gen, dich hier hübsch zu ma­chen!« Und sie riss dem Mäd­chen roh das Tuch vom Kopf. »Was?!«, schrie sie dann em­pört. »So­gar Lo­cken hast du dir auf­ge­steckt?! Habe ich dir nicht hun­dert­mal ge­sagt, du sollst einen ein­fa­chen Schei­tel tra­gen? Aber ich will es dir zei­gen!« Und sie riss das Mäd­chen an den Haa­ren, riss die paar dürf­ti­gen Haar­löck­chen aus­ein­an­der. Das Mäd­chen be­weg­te ge­dul­dig, ohne auch nur eine Mie­ne von Pro­test oder Schmerz, den Kopf hin und her, ganz wie ihre Pei­ni­ge­rin an den Haa­ren riss.

      Aber ich hat­te nicht Zeit, die­sem em­pö­ren­den Vor­gang (den ich als Ein­zi­ger em­pö­rend zu fin­den schi­en) wei­ter zu fol­gen. Der Ober­pfle­ger kam auf mich zu: »Rasch, Som­mer, pa­cken Sie Ihr Bett­zeug und Ihre Sa­chen zu­sam­men, Sie wer­den ver­legt!«

      Das Bett­zeug und die Sa­chen wa­ren rasch ge­nug in ein Bün­del ge­packt, und ich folg­te dem Ober­pfle­ger, der in der Nähe des Glas­kas­tens eine Zel­len­tür öff­ne­te. Die Zel­le war klei­ner als mei­ne bis­he­ri­ge, aber es stan­den auch nur vier Bet­ten in ihr. Gott­lob schlief man hier nicht in zwei Eta­gen. Die Zel­le war auch hel­ler, luf­ti­ger, es roch nicht schlecht in ihr. Ich hat­te mich ent­schie­den ver­bes­sert; mit Recht schob ich das auf die Ein­wir­kung des Arz­tes. ›Gott­lob, er ist mir güns­tig ge­sinnt‹, dach­te ich. ›Al­les steht gut.‹

      Un­ter­des hat­te der Ober­pfle­ger einen al­ten Mann aus dem Bett ge­jagt. »Los, los, auf, Mei­er!«, schalt er. »Ma­chen Sie doch ein biss­chen schnell! Sie kom­men auf Sta­ti­on 2.«

      »Ach Gott!« jam­mer­te der alte Mann. »Muss ich denn wirk­lich schon wie­der um­zie­hen, Herr Ober­pfle­ger? Im­mer wer­de ich rum­ge­schubst! Dies Bett habe ich doch erst ein paar Wo­chen! Und es war so ru­hig hier und so schö­ne Luft …«

      Aber der Ober­pfle­ger war nicht ge­son­nen, die Je­re­mi­a­den ei­nes al­ten Man­nes an­zu­hö­ren. »Raus mit Ih­nen, Mei­er!«, rief er dem al­ten Mann zu und gab ihm einen kräf­ti­gen Stoß. »Un­ter­las­sen Sie dies Ge­me­cker!«

      Der Alte tau­mel­te auf sei­nen ste­cken­haft dür­ren Bei­nen aus der Zel­le mit sei­nem Bett­bün­del; das kur­ze Hemd be­deck­te kaum sei­ne Hin­ter­ba­cken. (Üb­ri­gens wa­ren alle un­se­re Hem­den zu kurz, man­che be­deck­ten nicht ein­mal ganz die Ge­schlechts­tei­le; oft bo­ten die Män­ner im Wasch­raum einen trau­rig-lä­cher­li­chen An­blick. Wahr­schein­lich war es wie­der­um der Geiz der Ver­wal­tung, der so­gar un­se­re Hem­den zur Stof­fer­spar­nis kürz­te.)

      »Sie kön­nen Ihr Bett nach­her über­zie­hen!«, sag­te der Ober­pfle­ger ei­lig. »Kom­men Sie jetzt mit zum Arzt! Er war­tet schon.«

      50

      Wirk­lich, der Arzt war­te­te schon für mich – kaum war eine Stun­de ver­gan­gen, und reich­lich sieb­zig Pa­ti­en­ten wa­ren be­reits be­han­delt. Me­di­zi­nal­rat Dr. Stie­bing, im wei­ßen Ärz­teman­tel, lä­chel­te mir freund­lich ent­ge­gen, er for­der­te mich auf, Platz zu neh­men, und reich­te mir so­gar die Hand. War­tend, mit wach­sa­men Au­gen, stand der Ober­pfle­ger im Hin­ter­grund, kei­ne Be­we­gung, kein Wort ließ er sich ent­ge­hen. Ich fand es gut, dass er sah, mit wel­cher Aus­zeich­nung mich der Me­di­zi­nal­rat be­han­del­te, jetzt die­ser freund­li­che Empfang, vor­her die Ver­le­gung auf eine bes­se­re Zel­le – er wür­de sich schon in acht neh­men, mich zu hart zu be­han­deln.

      »Also«, sag­te der Me­di­zi­nal­rat lä­chelnd, »nun sind Sie also doch bei mir ge­lan­det, Herr Som­mer. Vor vier­zehn Ta­gen hät­ten wir Sie noch in eine et­was kom­for­ta­ble­re Um­ge­bung ge­bracht, der Kol­le­ge Mans­feld und ich. Nun, nun, Sie wer­den es auch hier aus­hal­ten. Es ist ein or­dent­li­ches Haus, es wird Ih­nen hier schon Ihr Recht wer­den. Ein biss­chen Dis­zi­plin ist je­dem Men­schen gut, nicht wahr?«

      Er war wirk­lich die Freund­lich­keit selbst. Gerührt dank­te ich ihm für den mir zu­ge­wie­se­nen bes­se­ren Schlaf­platz.

      »Schon gut, schon gut«, wehr­te der Me­di­zi­nal­rat ab. »Was wir tun kön­nen, Ih­nen den Auf­ent­halt hier zu er­leich­tern, das wer­den wir schon tun. Na­tür­lich gibt es ge­wis­se un­um­stöß­li­che ei­ser­ne Haus­ge­set­ze …« Er sah mich mit ei­nem freund­li­chen Be­dau­ern an. Dann: »Und auch Sie wer­den al­les tun, um uns un­se­re Auf­ga­be zu er­leich­tern, nicht wahr, Herr Som­mer?«

      Ich ver­si­cher­te es, ich frag­te, ob der Me­di­zi­nal­rat ein Gut­ach­ten über mich zu er­stat­ten habe?

      »Nein, noch nicht«, sag­te er rasch. »Ich neh­me an, man wird ei­nes von mir an­for­dern, aber vor­läu­fig sind Sie mir nur zur Un­ter­brin­gung hier zu­ge­wie­sen, Herr Som­mer.«

      »Aber dann dau­ert das al­les doch so lan­ge!«, rief ich kla­gend. »Wa­rum denn nicht so­fort die­ses Gut­ach­ten er­stat­ten? Der Fall liegt doch ganz klar. Es liegt doch nur eine klei­ne Be­dro­hung vor, und ich bin über­zeugt, dass Mag­da, dass mei­ne Frau aus­sa­gen wird, dass sie sich gar nicht von mir be­droht ge­fühlt hat. We­gen ei­ner sol­chen klei­nen Sa­che kann man mich doch nicht wo­chen­lang hier fest­hal­ten!« Ich hat­te im­mer erns­ter und im­mer über­zeu­gen­der ge­spro­chen, von vorn­her­ein woll­te ich klar­stel­len, ein wie großer Ab­stand zwi­schen mei­nem Fehl­tritt und der Un­ter­brin­gung hier be­stand.

      »Aber, aber!«, rief der Arzt und leg­te mir be­ru­hi­gend die Hand auf den Arm. »Wa­rum denn so ei­lig? Erst ein­mal müs­sen Sie sich gründ­lich aus­ru­hen und wie­der ganz ge­sund wer­den …«

      »Aber ich bin ganz ge­sund!«, ver­si­cher­te ich.

      »Kein Schwin­del?«, frag­te der Arzt. »Kei­ne Schweiß­aus­brü­che? Kein Ap­pe­tit­man­gel und dann plötz­li­cher Heiß­hun­ger? Kei­ne Sehn­sucht nach Al­ko­hol?«

      »Ich den­ke über­haupt nicht an Al­ko­hol!«, rief ich, ent­setzt über einen sol­chen ge­fähr­li­chen Ver­dacht. »Ich füh­le mich ganz ge­sund!«

      »Also wirk­lich gar kei­ne Absti­nen­zer­schei­nun­gen?«, frag­te der Arzt zwei­felnd. »Nun, wie steht es da­mit, Ober­pfle­ger, ha­ben Sie et­was be­ob­ach­tet?«

      Er­war­tungs­voll sah ich in das har­te dunkle Ge­sicht des Ober­pfle­gers. Er konn­te nicht das Ge­rings­te be­ob­ach­tet ha­ben, des­sen war ich si­cher.


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