Philosophische und theologische Schriften. Nicolaus Cusanus

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Philosophische und theologische Schriften - Nicolaus Cusanus


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allem ist, aus Mitleid mit unserer Schwachheit, weil wir es anders als in sinnlicher und uns ähnlicher Form nicht erfassen konnten, um dasselbe nach dem Maße unserer Empfänglichkeit zu offenbaren, in die menschliche Natur, durch den hl. Geist, der gleichen Wesens mit ihm ist. Und wie der Hauch aus der an sich gezogenen Luft die Stimme, so hat der hl. Geist aus der reinen Fruchtbarkeit des jungfräulichen Blutes den Leib Jesu gebildet (contexuit), auf daß der Mensch das Wort Gottes des Vaters wäre, und hat diesen Leib innerlich so sehr mit sich geeint, daß er das Zentrum der Substanz der menschlichen Natur wurde. Alles dies ist nicht in zeitlicher Reihenfolge, wie bei der menschlichen Empfängnis, sondern in einer momentanen überzeitlichen Wirksamkeit, durch den der unendlichen Allmacht konformen Willen vollzogen worden.

      Niemand wird zweifeln, daß die tugendreiche Mutter, welche die Materie (für die Menschwerdung des ewigen Wortes) darbot, alle Jungfrauen durch die höchste Tugend und Vollkommenheit übertroffen habe und unter allen fruchtbaren Weibern die gesegnetste gewesen. Sie, die zu einer so ausgezeichneten, ja einzigen jungfräulichen Geburt vorherbestimmt war, mußte notwendig von allem frei sein, was der Reinheit oder lebenskräftigen Einheit einer so ausgezeichneten Geburt im Wege stehen konnte. Wäre die Auserwählte nicht Jungfrau gewesen, wie hätte sie sich zu jungfräulichem Gebären ohne Zutun eines Mannes geeignet? War sie nicht ganz heilig und reich gesegnet von Gott, wie hätte sie das heilige Gefäß (sacrarium) des hl. Geistes, in welchem dieser für den Sohn Gottes den Leib bildete, werden können? Blieb sie nicht nach der Geburt Jungfrau, so hätte sie nicht für jene ganz einzige Geburt den Mittelpunkt der mütterlichen Fruchtbarkeit in deren höchster Vollkommenheit verwendet, sondern ihre Tätigkeit wäre geteilt und geschwächt gewesen, wie es sich für einen solchen, einzigen und höchsten Sohn nicht geziemte. Hat also die heiligste Jungfrau sich ganz Gott hingegeben, dem sie in der Wirksamkeit des hl. Geistes auch die ganze Natur der Fruchtbarkeit mitgeteilt hat, so ist in ihr die unbefleckte Jungfräulichkeit vor, bei und nach der Geburt, ganz über das Gesetz des gewöhnlichen Gebärens hinaus unversehrt geblieben. Somit ist der Gottmensch Jesus Christus aus dem ewigen Vater und einer zeitlichen Mutter, der glorreichen Jungfrau Maria, geboren: aus dem größten Vater von absoluter Fülle, aus einer Mutter in der Fülle jungfräulicher, reich gesegneter Fruchtbarkeit –, in der Fülle der Zeit. Der Mensch konnte nämlich aus der jungfräulichen Mutter nur zeitlich, aus Gott dem Vater nur ewig hervorgehen; aber die zeitliche Geburt erforderte hinsichtlich der Zeit die Fülle der Vollendung, wie in der Mutter die Fülle der Fruchtbarkeit. Als daher die Fülle der Zeit kam, wurde er in der geeignetsten Zeit und Raum, der jedoch allen Geschöpfen ganz verborgen blieb, geboren. Denn die höchste Fülle verträgt sich nicht mit den sonstigen Ereignissen des Tages. Daher kein Zeichen, an dem irgendwelcher Verstand jene Fülle der Zeit hätte wahrnehmen können, obwohl durch eine ganz geheimnisvolle prophetische Eingebung einige dunkle Andeutungen, verhüllt in menschliche Bilder, überliefert waren, an denen die Verständigen die Menschwerdung des Worts in der Fülle der Zeit hätten vorhersehen können. Doch genau den Ort, die Zeit und Art und Weise hat nur der ewige Vater gewußt, der es anordnete, daß, während alles in der Stille der Mitternacht ruhte, im Verlaufe der Nacht der Sohn aus der Himmelsburg in den Leib der Jungfrau hinabstieg und zur festgesetzten geeigneten Zeit in Knechtsgestalt sich der Welt offenbarte.

      SECHSTES KAPITEL

      Das Mysterium des Todes Jesu Christi

      Ich muß mir eine kurze Digression erlauben, um das Mysterium des Kreuzes deutlicher darzustellen.

      Der Mensch besteht aus Sinn und Vernunft, zwischen welchen sich der Verstand als Verbindungsglied befindet. Der Ordnung nach ist der Sinn dem Verstande, dieser der Vernunft untergeordnet. Die Vernunft ist nicht zeitlich und weltlich, sondern hiervon frei; der Sinn ist weltlich (de mundo), der Zeit und Bewegung unterworfen. Der Verstand ist der Horizont der Vernunft, das Auge des Sinnes; in ihm koinzidiert, was unter und über der Zeit ist. Der Sinn ist unfähig für das Überzeitliche und Geistige. Das Tier versteht nicht, was Gottes ist, da Gott ein Geist, ja mehr als ein Geist ist. Daher bewegt sich die Sinnenerkenntnis in einer Finsternis der Unkenntnis der ewigen Dinge; ihre Bewegung geht fleischlich nach den fleischlichen Gelüsten vermöge der Begierlichkeit, während sie vermöge der Zornmütigkeit nicht imstande ist, jene zurückzudrängen. Der Verstand, der sein Übergewicht durch die Teilnahme an der vernünftigen Natur gewinnt, bewahrt in sich einige Gesetze, durch die er die leidenschaftlichen Begierden regiert, leitet und auf das rechte Maß zurückführt, auf daß der Mensch nicht das Sinnliche sich zum Ziele setze und so der Sehnsucht nach dem Geistigen und Vernünftigen verlustig gehe. Ein Hauptgesetz des Verstandes ist, nichts dem andern zu tun, was man selbst nicht wünscht, das Ewige dem Zeitlichen, das Lautere und Heilige dem Vergänglichen und Unlautern vorzuziehen. Behilflich sind hierzu auch jene Gesetze, die als ein Erzeugnis des Verstandes von heiligen Gesetzgebern nach Verschiedenheit von Ort und Zeit als Heilmittel für den Verstand der Sünder gegeben wurden. Allein die Vernunft erkennt auf ihrem höheren Standpunkte, daß, wenn auch der Sinn sich in allen Stücken dem Verstande unterwirft und den ihm angebornen Affekten nicht huldigt, der Mensch gleichwohl aus sich das Ziel seines vernünftigen und ewigen Sehnens nicht erreichen kann. Denn da der Mensch aus dem Samen Adams in fleischlicher Lust gezeugt ist, so daß das Tierische durch die Fortpflanzung über das Geistige das Übergewicht hat, so ist die menschliche Natur in ihrer Wurzel (in radice originis) in das fleischliche Begehren eingetaucht (carnalibus deliciis immersa), in welchem jeder Mensch durch den Vater gezeugt ist, und er bleibt daher gänzlich unfähig, über das Zeitliche hinweg das Geistige zu ergreifen. Wenn nun das Gewicht der fleischlichen Gelüste Verstand und Vernunft abwärts zieht, daß beide diesen Gelüsten zustimmen, ohne ihnen Widerstand zu leisten, so ist klar, daß der solchergestalt abwärts gekehrte Mensch, von Gott abgewandt, des Genusses des höchsten Gutes, das für die Vernunft im Himmel und ewig ist, vollständig beraubt ist. Herrscht aber der Verstand über den Sinn, so ist noch weiter erforderlich, daß auch die Vernunft über den Verstand herrsche, damit der Mensch über den Verstand hinaus in lebendigem Glauben (fide formata) an den Mittler sich anschließe, und so durch Gott zur Glorie erhoben werden kann. Kein Mensch war je imstande, erhoben über sich selbst und seine Natur, die von Anfang an den Sünden der fleischlichen Begierden unterworfen ist, über die Wurzel seines Lebens zum Ewigen und Himmlischen sich zu erheben. Nur der vom Himmel herabgestiegen ist, Jesus Christus, ist derjenige, der auch in eigener Kraft wieder hinaufgestiegen; in ihm ist die menschliche Natur nicht aus dem Willen des Fleisches, sondern aus Gott geboren und fand daher kein Hindernis, mit Macht zu Gott dem Vater zurückzukehren. In Christus ist daher die menschliche Natur durch jene Einigung zur höchsten Macht erhoben und dem Gewichte der zeitlichen und beschwerenden Begierden entrissen. Christus der Herr wollte nun alle Sünden der menschlichen Natur, die uns zum Irdischen herabziehen, an seinem menschlichen Leibe nicht um seinetwillen (da er keine Sünde begangen), sondern um unsertwillen gänzlich ertöten und durch das Ertöten wegschaffen, auf daß alle Menschen von gleicher Menschheit mit ihm die vollständige Reinigung von ihren Sünden in ihm erlangten. Der freiwillige und so unverschuldete, so schmähliche und grausame Kreuzestod des Menschen Christus war für alle fleischlichen Begierden der menschlichen Natur deren Tilgung, Genugtuung und Reinigung. Was nur immer nach Menschenweise gegen die Liebe des Nächsten geschehen kann, das ist in der Fülle der Liebe von Christus, indem er sogar für seine Feinde sich dem Tode hingab, wirklich vollbracht worden. Die Menschheit in Christo Jesu hat demnach das Mangelhafte aller Menschen ergänzt (omnes omnium hominum defectus adimplevit). Denn da diese Menschheit die größte ist, so umfaßt sie die ganze Potenz der Gattung und ist gegen jeden Menschen die Gleichheit des Seins, so daß Christus mit einem jeden Menschen weit inniger als der Bruder oder vertrauteste Freund verbunden ist. Das bewirkt das Vollmaß (maximitas) der menschlichen Natur, daß Christus in jedem Menschen, der sich in lebendigem Glauben an ihn anschließt, eben dieser Mensch ist, in vollkommenster Einigung, unbeschadet der Selbständigkeit des Einzelnen (cuiuslibet numero salvo). So bewahrheitet sich, was er selbst sagt: »Was ihr einem der Geringsten aus den Meinigen tuet, das habt ihr mir getan«, woraus umgekehrt folgt, daß, was Jesus Christus durch sein Leiden verdient hat, die verdient haben, die eins mit ihm sind, wobei jedoch verschiedene Grade des Verdienstes stattfinden, nach dem Grade der Einigung eines jeden mit ihm in einem von Liebe


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