Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri

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Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri


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mich schauen!«

      »Sollte das Leben schon so schwer auf Ihnen liegen?« fragte Hedwig. »Es tut mir weh, Sie so traurig und gedrückt zu sehen und Ihnen nicht zeigen zu können, wie sehr es mir zu Herzen geht, wie gerne ich etwas für Sie tun möchte.«

      »Eine warme Teilnahme fühlt man sich bald ab, wie die Sympathie des Herzens. Aber« – das Fräulein zögerte – »beide sind so leicht zu verscheuchen.«

      »Doch nicht, indem wir andere wissen lassen, daß wir Leid tragen«, wandte Hedwig ein.

      »Krankheiten, die nicht zu heilen sind, müssen die Menschen abschrecken; Sie kennen wohl keine solchen«, gab das Fräulein zurück und blickte bei diesen Worten fast scheu auf ihre Begleiterin.

      Hedwig entgegnete, sie glaube, alle wahre Teilnahme am Leiden hänge mit dem Einblick in dasselbe nah zusammen. Wer einmal selbst in tiefem Leid gelegen, der könne nie mehr solchem begegnen, ohne es mitzufühlen und das Verlangen zu haben auch mitzutragen, wo dies Erleichterung bringen könnte.

      »Es gibt Leiden, die kein Recht haben auf solche Teilnahme« – das Fräulein hielt einen Augenblick zögernd inne –; »wie können sie nur ausgesprochen werden vor guten Menschen, die keine Schuld kennen?«

      »Wo sind diese?« fragte Hedwig.

      Das Fräulein schaute sie erstaunt an. Sie schwiegen beide.

       Die Walliser Höhen standen dunkelragend auf dem klaren Abendhimmel; drüben an den grauen Felsen der Dent du Midi verglomm der letzte Strahl der Sonne; nun war sie fort. In den Bäumen im nahen Walde hatte sich der Abendwind gelegt, es wurde völlig still rings um sie her. Ob das kranke Wesen neben ihr nicht wohltuend von der Abendfülle angeweht wurde? dachte Hedwig, ihre Nachbarin anblickend. Diese schaute nicht auf; unverwandt waren ihre Blicke auf den Boden geheftet, sie bemerkte nicht, was um sie, nur was in ihr war. Auf einmal fuhr sie aus ihren Gedanken empor:

      »Wenn ich doch das Kind sehen könnte in seiner Freude! Können wir nicht gleich noch hingehen?« fragte sie bittend. »O könnte ich dem Kinde meine Lebenskraft geben und es gäbe mir sein fröhliches Herz dafür!«

      »So lassen Sie uns schnell gehen«, sagte Hedwig aufstehend; »sonst finden wir das Kind nicht mehr unter dem Baume sitzend. Aber lassen Sie ihm sein fröhliches Herz, der liebe Gott hat wohl auch noch eines für Sie, wenn Sie es von ihm begehren.«

      »Wie dürft' ich!« war die kurze, wie abschließende Antwort.

      Beide wanderten schweigend nebeneinander den Berg hinunter, an den Häusern des Fleckens vorbei nach dem Weg unter den Nußbäumen hin. Hier, im langsamen Aufwärtsgehen, bat Hedwig das Fräulein, ihr doch einmal ihren Familiennamen auszusprechen, sie kenne ihn immer noch nicht genau.

      »Er ist auch so weitläufig«, gab das Fräulein zur Antwort; »ich heiße Alice und mag es sehr gern, wenn Sie mich so nennen wollen.«

      Hedwig und Alice waren bei dem Kirschbaum angekommen; aber da war niemand mehr zu sehen; das Kind mit all seinen Herrlichkeiten war verschwunden. Sonst war es um diese Zeit noch da zu finden, wenn die Luft mild war, wie heute. Jetzt trat die Mutter aus dem Hause; sie hatte die Damen gesehen und kam, sie zu benachrichtigen. Das Kind hatte sich so müde gefreut, daß es plötzlich, noch ganz früh, in seinen Sessel zurückgefallen und in tiefen Schlaf gesunken war. Es mußte mit all seinen Schätzen ins Haus getragen werden, wo es nun fortschlief.

      »Wie glücklich wird das Kind beim Erwachen sein!« sagte Fräulein Alice.

      »Jawohl«, meinte die Frau. So etwas sei auch noch gar nie erlebt worden. Sie kenne ja keinen Menschen, der das hätte tun können; nur an eine Dame habe sie gedacht, weil diese so oft das Kind besuche. Damit schaute die Frau fragend auf Hedwig hin. Diese erklärte aber entschieden, da sei die Frau im Irrtum, die Überraschung sei ihr wohl von jemand gemacht worden, der Teilnahme für die kranke Juliette habe, wenn sie den Wohltäter auch nicht kenne.

      »Dann weiß ich nicht, wie so etwas sein kann«, sagte die Frau, sichtlich aufs neue verwundert. »So hat es unser Herrgott im Himmel selbst einem ins Herz gegeben, daß er eine solche Tat tue.« Nicht nur all das schöne Zeug, das dem Kinde vor Freude darüber fast den Kopf verdrehe, meinte sie, auch so manches gute Stück zum Warmhalten, nun es bald nötig werde, habe der Wohltäter ausgesucht, und ein paar Sachen, die sie schon so lange für die Kinder nötig gehabt hätte und zu denen sie nicht gelangen konnte, das sei ihm auch sicher extra ins Herz gegeben worden, denn der liebe Gott wisse wohl, wie schwer es ihr oft werde mit all den Kindern und Sorgen und zu aller Not noch immer die Mühe und den Kummer um das kranke, bei dem gar kein Gesundwerden abzusehen sei. Die Frau seufzte schwer auf und wischte sich die Augen.

      »Ach Frau«, sagte Fräulein Alice, »Ihr habt es noch gut, Ihr könnt Euch trösten im Gedanken, daß Ihr unverschuldetes Elend leidet; das drückt nicht wie eigene Schuld, und man hat den lieben Gott für sich.«

      Die Frau wischte sich die Augen heftiger.

      »Wenn einem nur nicht die schweren Gedanken noch dazu kämen«, sagte sie schluchzend; »aber es weiß auch niemand, wie's unsereinem werden kann, wenn ihm die Sorgen über den Kopf zusammenschlagen, daß man keinen Weg mehr vor sich sieht und auf alle Art das Kind verwünscht, das noch kommen soll, die Not zu vermehren. Und nachher frißt es einem am Herzen, wenn das Kind da ist und so elend daliegt und so ist, daß man denkt, es müsse die Verwünschung an seinem Leibe herumtragen.«

      Alice mußte die Gewissensnot der Frau besser verstanden haben, als ihr äußeres Elend. Mit einem Ausdruck des Schreckens sagte sie: »O, arme Frau, so möge Euch Gott helfen!«

      Sie wandte sich sogleich und ging. Hedwig blieb noch einige Augenblicke bei der Frau stehen, es drängte sie, der Weinenden noch ein Wort der Teilnahme zu sagen und sie darauf hinzuweisen, daß wir ja doch in jeder Not Trost finden können, wenn wir uns an den rechten Tröster wenden. Die Frau war sehr bewegt und sagte, die Sache habe sie lange schon geplagt und sie habe mit niemand darüber reden können; daß sie es jetzt doch einmal habe aussprechen können, habe ihr schon das Herz erleichtert, und wenn einem so mit Teilnahme eine Hand gereicht werde, so komme man auch eher wieder zum Gefühl, daß der liebe Gott auch barmherzig sei und ein armes Geschöpf nicht vergessen und verlassen wolle.

      Fräulein Alice mußte eilig zurückgegangen sein, Hedwig holte sie nicht mehr ein. Am Gartenpförtchen stand der Baron.

      »Auf was für Pfaden irren denn Sie umher, daß man Sie gar nicht mehr sieht?« rief er ihr entgegen.

      »Auf solchen, die ohne Zweifel Ihren Beifall haben werden«, entgegnete Hedwig eintretend, und nun mit dem Baron durch den Garten wandernd, erzählte sie ihm, daß sie schon gute Bekanntschaft mit seiner Römerin geschlossen habe, schneller und tiefer, als sie sich's möglich gedacht hätte; daß sie in ihr aber gar nicht die stolze, kalte Majestät, die sie erwartet, sondern ein herzgewinnendes, ganz menschlich fühlendes Wesen entdeckt habe, das aus lauter Menschenfreundlichkeit auch den Wunsch hege, den Baron kennen zu lernen.

      Er war sehr erfreut darüber und hatte gleich noch ein Dutzend Fragen bereit, die neue Bekanntschaft betreffend; aber die Glocke, die eben als Ruf zum Teetisch ertönte, schnitt alle weiteren Besprechungen ab. Nur das Versprechen mußte Hedwig ihm noch geben, daß sie gleich den Abend noch die Vorstellung herbeiführen werde.

      Zum ersten Male, seit die Gesellschaft sich zusammengefunden, saß an diesem Abend im Saale die als Eremitin bekannte Dame nicht mehr allein in ihrer Ecke: Hedwig saß neben ihr; vor ihnen stand der Baron. Er war ganz Leben, Witz und Humor. Solche Rednergabe hatte er noch nie entwickelt; er sprühte völlig von geistreichen Einfällen und überraschenden Wendungen. Wurde er hier und da vom Komischen der Begebenheiten, die er schilderte, selbst so überwältigt, daß plötzlich sein helles Lachen hervorbrach wie ein Wasserstrom, dann ging ein leises Lächeln auch über Alicens Züge und einen Augenblick schauten die dunkeln Augen erglänzend auf – aber es ging schnell vorüber; die Schatten lagen gleich wieder tief auf den schönen Zügen. Die Arbeit ließ sie heute ruhen. Früh schon stand das Fräulein auf, um den Saal zu verlassen. Hedwig trat mit ihr hinaus auf die Veranda. Die Nacht war mild und sternenhell. An dem dunkelblauen Himmel stand der junge Mond, ringsum flüsterten


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