Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri

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Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri


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ich möchte Freude in diesen Augen sehen«, sagte Hedwig einstimmend. »Aber Ihnen, Herr Baron, möchte ich als alte Freundin einen guten Rat geben: beherzigen Sie doch die Briefe Ihrer Mutter wohl und besonders, was sie darin von den Töchtern des Landes und den Gefahren der Fremde schreibt.«

      »Daß Gott erbarm', nun fangen auch Sie noch an!« rief der Baron jammervoll. »Fehlt nur noch, daß Sie mir auch den goldenen Haarwuchs noch ins Gedächtnis rufen.« Damit lief er fort.

      Es folgten mehrere graue, dunkle Regentage. Die Freundinnen saßen meistens in ihrer Stube beisammen. Als am vierten Tage die Sonne strahlend über den Bergen aufgegangen war und das Gefilde frisch erwacht im Herbstschmuck prangte, zog es Hedwig früh hinaus; sie wollte einen Strauß der duftigen Feldblumen holen, denn heute war der angekündigte Geburtstag: der durfte nicht vergessen werden. Welch unvergleichliches Festgewand hatten doch der Himmel und die Erde angezogen, ihn zu begrüßen!

      Als Hedwig nach einigen Stunden reichbeladen zurückkehrte, suchte sie gleich Alice auf, damit auch sie sich an den lieblichen Feldblumen erfreuen möge. In ihrem Zimmer war sie nicht zu finden. Hedwig ging nach ihrer eigenen Stube. Hier stand Alice marmorweiß an einen Stuhl gelehnt und hielt einen Brief in der Hand. Hedwig ging es wie ein Messer durchs Herz: das mußte der lang erwartete Brief der Schwester sein.

      »Lesen Sie selbst«, sagte Alice, das Blatt hinhaltend; sie zitterte so sehr, daß es ihrer Hand entfiel; sie selbst sank auf den Sessel nieder und legte ihren Kopf in beide Hände. Hedwig ergriff das Blatt und las:

      »Sei mir nicht böse, liebe Alice, daß ich Dir so lange nicht geschrieben habe. Ich konnte es nicht tun, ich hatte allen Mut und alle Freudigkeit verloren. Wie wirst Du aber erstaunen über die Mitteilung, die ich Dir heute zu machen habe: zwischen Eduard K. und mir ist alles abgebrochen. Ich werde nie nach Indien gehen, Major K. ist schon abgereist.«

      Dann folgte die Erklärung der veränderten Lage.

      Major K. hatte durch sein gewalttätiges Wesen Lucy mehr und mehr niedergedrückt. Vor dem Vater hatte er Respekt, in seiner Gegenwart ließ er sich nie gehen, so daß der Vater ihn nur von seiner einnehmenden Seite kannte. Lucys leise Klagen wurden daher vom Vater immer bestimmt abgewiesen als kindische Empfindlichkeiten, die sich geben würden, sobald sie mit dem Manne vereinigt wäre und sie sich erst recht kennen würden. Lucy verlor allen Mut, schwieg stille und suchte ihre wachsende Angst damit zu beschwichtigen, daß sie sich des Vaters Worte vorsagte, wenn sie auch kaum daran glauben konnte. Der Tag der Hochzeit war festgesetzt. Noch sollte sie im nahen Kurorte einen Tag zubringen; ein alter Freund ihres Vaters war mit seiner Familie dort angekommen. Lucy kehrte am Abend nicht zurück, wie festgesetzt worden war. Der alte Herr hatte darauf bestanden, sie am folgenden Tage selbst nach Hause zu bringen, um ihren Vater zu begrüßen. Major K. war am Abend gekommen, sie zu sehen, und hatte vergebens auf sie gewartet. Am folgenden Tage trat er mit funkelnden Augen in das Haus; er traf Lucy allein. Bevor sie reden konnte, übergoß er sie mit den heftigsten Vorwürfen über ihr Ausbleiben, da sie doch gewußt habe, daß er solches nicht ertrage; es sei zum letzten Male vorgekommen, er werde Mittel finden, ihr verständlich zu machen, daß sie sich nach ihm zu richten habe, nicht nach ihren Launen. Als sie sich leise entschuldigen wollte, sie sei festgehalten worden, und der Freund ihres Vaters werde alle Verantwortung auf sich nehmen, brach der Zorn über den alten Herrn und seine Familie los und wurde so heftig, daß der Major sich bis zu rohen Schimpfworten vergaß, mit denen er bald die Freunde, bald seine Braut bewarf. Lucy saß zitternd da und weinte. Der Major machte solchen Lärm, daß beide nicht gehört hatten, wie der Vater eingetreten war und vielleicht schon länger zugehört hatte. Auf einmal stand er zwischen den beiden. So hatte Lucy den Vater in ihrem Leben nie gesehen, sie hielt sich die Augen zu vor Schrecken. Nun ertönte seine Donnerstimme: »Major K., ich habe mein Kind einem Manne gegeben, der sein Freund und Beschützer sein soll, nicht einem Tyrannen und unwürdigen Wüterich. Wir haben uns heute zum letzten Male gesehen.« Damit hatte der Vater die Türe geöffnet, Major K. war fort. Dann folgte in dem Briefe der Schwester ein großer Erguß von Glück und Freude über die Befreiung und die Aussicht, wieder bei dem Vater und Alice bleiben zu können. Zur Erfrischung aller hatte der Vater für die nächste Zukunft eine Reise beschlossen, die auch für Alice die beste Erholung sein werde. In wenig Tagen werde er mit ihr über Genf nach dem Rhonetal kommen, um Alice abzuholen auf dem Wege nach Italien.

      Das war der mit Zittern und Zagen lange erwartete Brief. Hedwig schaute auf Alice. Noch saß diese unbeweglich, ihr Gesicht in die Hände legend. Hedwig trat zu ihr heran, und, ihren Arm um Alicens Hals legend, sagte sie mit frohlockendem Herzen:

      »Wenn die Stunden

       Sich gefunden,

       Bricht die Hilf' mit Macht herein.

       Und dein Grämen

       Zu beschämen,

       Wird es unversehens sein,«

      Alice war so ergriffen, daß sie nicht sprechen konnte. Sie saß schweigend neben Hedwig, deren Hand fest in der ihrigen haltend; ein Ausdruck unaussprechlichen Dankes lag auf ihrem Gesichte. Dann ging sie auf ihr Zimmer, es verlangte sie danach, allein zu sein. Sie mußte wohl ihr volles Herz vor dem ausschütten, der die schwere Last von ihr genommen und ihr Herz wieder fröhlich gemacht hatte.

      Gegen Abend, als der wolkenlose Himmel über den Gebirgen golden zu leuchten begann, traten die Freundinnen aus der Türe. Hedwig hatte Alice den Geburtstag in Erinnerung gebracht, den sie auf der Bank des Barons mitzufeiern versprochen hatte. Alice war schnell bereit, ihr Versprechen zu lösen. Eilig gingen die beiden dem Nebenhügel zu. Schon kündeten die Purpurstreifen an den Felsen droben das Glühen der untergehenden Sonne an. Dort stand auch schon der Baron, an den Baum gelehnt, in dessen Schatten die Bank sich barg.

      »Endlich«, rief er aus, sobald er die beiden gewahr werden konnte. Er lief ihnen entgegen, den Hügel hinunter, um sie im Triumph auf seinen auserwählten Sitz zu führen. Alice brachte ihre Glückwünsche zum Feste mit der gewinnendsten Freundlichkeit dar.

      »Und die Pfeffernüsse, Herr Baron?« fügte sie bei, »sind sie richtig eingetroffen, so daß die echten Festgedanken sich entfalten können?«

      »Gewiß, gewiß«, erwiderte er lebhaft, schaute aber mit großen, erstaunten Augen auf Alice. Es war das erste Scherzwort, das er aus diesem Munde vernahm. Es gibt Zustände, da die leiseste Veränderung des Tones empfunden wird; der Baron empfand sie sichtlich.

      Die drei waren nun bei der Bank angelangt. Die Damen setzten sich hin, der Baron lehnte sich an den Baumstamm. Die Sonne war eben im Scheiden. Südlich warm erglänzte der Himmel gegen Italien hin. Die Felsenzacken ringsum standen rotglühend auf dem wolkenreinen Horizont. Über die Kastanienwälder schimmerte weithin der goldene Abendschein, bis hinauf zum grauen Turme, um den es leuchtend aufzuckte, wie Erinnerungen alter Herrlichkeit, und majestätisch schauten über Fels und Wald und das weite Tal hinab die flammenden Gletscher der fernen Montblanc-Kette.

      Schweigend hatten alle drei in den Abend hinausgeschaut. Jetzt rief Alice plötzlich mit einer Summe, die wie die helle Freude klang:

      »Daß diese Erde so schön sein kann, das wußte ich nicht bis zu diesem Abend, und daß ich noch heute diese Schönheit gesehen habe, das danke ich Ihnen, Herr Baron. In meinem Leben werde ich diesen Geburtstag nicht vergessen.«

      Der Strahl, der jetzt aus diesen Augen leuchtete, mochte dem Baron seinen Wunsch in Erinnerung bringen; das wachsende Erstaunen auf seinem Gesichte zeigte, wie wenig er erwartet hatte, ihn so bald in Erfüllung gehen zu sehen.

       »Diese Bank wirkt Wunder!« war der Ausspruch, mit dem er seinem Erstaunen Luft machte. »Hier müssen wir mehr Feste feiern! Den ganzen Monat November machen wir zu einem ununterbrochenen Festtag.«

      »Da werden die Gäste Platz auf der Bank haben«, meinte Hedwig. »Wir beide bleiben übrig, Herr Baron. Wenn wir Fräulein Alice noch drei Tage behalten, so ist es alles.«

      Einen Augenblick sah der Baron aus, als wäre er vom Schlage getroffen. Er wollte etwas sagen, aber es war, als müsse er seine Stimme erst weit heraufholen.

      »Sie denken doch an kein Fortgehen«, sagte er jetzt, zu Alice gewandt.

      »Von


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