Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri
Читать онлайн книгу.Hedwig öffnete ihn mit bangender Erwartung. Wie mochte Alice nach allen ihren Erfahrungen in der alten Umgebung zu Mute sein? Nach den herzlichen Worten der Begrüßung und den letzten Nachrichten über den Aufenthalt in Deutschland hieß es weiter in dem Briefe:
»Doch nun zu unserer Ankunft in der Heimat und allem seither Erlebten. Kaum hatten wir unsere Villa betreten, als mein Vater sogleich nach seinem Freunde, dem Prediger, ausschickte, der ihm doch über die ganze Zeit der Reise empfindlich gemangelt und ihm das Heimkommen lieb gemacht habe, wie er uns sagte. Pastor A. erschien. Er kam uns allen so schweigsam und zurückhaltend vor, daß es uns schien, die Zeit der Trennung habe ihn uns völlig entfremdet und von uns abgelöst. Es war eine peinliche Stunde. Wie er fortging, sagte ihm mein Vater, nun möge der Pastor nur sein gewohntes Wesen wieder herauskehren; so ginge es nicht, er wisse auch nicht, wie man in der Zeit der Trennung sich hätte fremd werden können, im Gegenteil gedenke er des alten Freundes sich mehr zu freuen als je, nun er der oberflächlichen Beziehungen ein ganzes Jahr durch genug gepflegt habe. Er forderte den Pastor auf, seine alten Gewohnheiten wieder aufzunehmen und uns seine Abende zu schenken. Der Pastor sagte einige ausweichende Worte von In-Anspruchgenommen-sein. Nun ergriff der Vater seine Hand und sagte mit gebieterischer Herzlichkeit: ›Pastor A., für Ihren Sonnabend und Sonntag geben wir Sie frei, die anderen Tage gehören Sie uns; dabei bleiben wir‹.
»Pastor A. mußte versprechen, in den nächsten Tagen wiederzukommen und fortzufahren wie in alter Zeit. So saßen wir einige Tage darauf in alter, gewohnter Weise um das Kamin herum, und es war, als könnten einmal noch die vergangenen schönen Tage wiederkommen. Aber alles war doch so anders, als es gewesen war. Pastor A. saß wohl wie ehemals mit gekreuzten Armen in seinem Lehnstuhl, aber er war still, und seine Stimme hatte einen ganz kalten Ton bekommen, vornehmlich, wenn er zu mir sprach, was er freilich nur tat, wenn es die Höflichkeit gebot. Mein Vater saß neben ihn, und erzählte von unserer Reise.
»›Und nun sind wir wieder hier‹, schloß er seine Erzählung ab, ›und Sie hier wieder zu finden, Pastor, das ist meine Freude. Ohne Sie wäre es doch kaum erfreulich, den Winter hier zu verweilen.‹
»Pastor A. sagte einige Worte von Dank, den er meinem Vater schulde, dessen Haus ihm hier im fremden Lande eine Heimat geboten habe, die er nie vergessen werde, auch in der eigenen, alten Heimat nicht, wohin er in kurzer Zeit zu ziehen gedenke, denn er habe einen Ruf nach Schottland angenommen. Mein Vater war so überrascht, daß er einen Augenblick kein Wort sprechen konnte. Dann sprang er auf und lief im Zimmer hin und her. Endlich stellte er sich vor den Pastor hin und rief erregt aus: Haben Sie das wirklich getan, Pastor? Wie konnten Sie! Wie können Sie dies herrliche Land gleich wieder dran geben und die grauen Nebel suchen? Ist Ihnen nicht wohl genug hier? Es ist nicht möglich!‹
»Dann lief der Vater wieder im Zimmer herum in steigender Aufregung.
»Pastor A. sagte, er habe immer danach verlangt, nach den Hochlanden zurückzukehren, wo er seine Kindheit verlebt habe, der Tausch werde ihm nicht schwer.
»›Was, nach den Hochlanden?‹ rief mein Vater aus und stand vor Erstaunen mitten in seinem Laufe still. ›Nicht einmal nach Edinburg? Das ginge noch an! Doch nicht nach den Einöden der Trossecks, wo Sie einmal gelebt haben?‹
»Das war gerade der Ort, wohin der Pastor berufen war, nach dem er sich auch lange schon gesehnt hatte, wie er sagte, wohin er vor allen anderen gewünscht hatte versetzt zu werden.
»›Gesehnt‹, brummte mein Vater vor sich hin, ›Jugenderinnerungen, Einbildungen!‹ Dann brach er wieder los: ›Das ist nichts, Pastor! Bin ich nicht auch ein Schotte? Kenne ich unser Land nicht auch? Glauben Sie mir: ein paar Sommer lang als Junge sich in den Hochlanden herumtreiben und als lebensreifer Mann da sich festsetzen, die endlosen Wintermonate in dieser Abgeschiedenheit eingeschneit in seiner Hütte verleben, das ist zweierlei. Abgetrennt zu sein von allem, was lebt und denkt, wie wollen Sie das fertig bringen? Und dann Sie, Pastor, allein wie Sie stehen, Sie haben ja nicht einmal eine Frau!‹ Mein Vater hatte sich in volle Aufregung hinein gesteigert, sonst hätte er ihm dies Wort wohl nicht so frei hingeworfen.
»Völlig ruhig entgegnete der Pastor:
»›Die Gegend der Trossecks ist meine Heimat, sie ist mir lieb, und ich freue mich, dahin zu gehen. Als ich die Stelle annahm, wußte ich, daß ich allein dahin gehe und allein da bleiben werde. Ich weiß, daß eine Frau von geistigem Wesen es nicht in jener Einsamkeit aushalten würde, daß sie nicht wüßte, was sie da mit ihrem Leben anfangen sollte, daß es ihr als ein Begrabstein erschiene. Das soll der Mann sich sagen, der sich eine solche Lebensstellung wählt.‹
»Mein Vater, der keine Ahnung hatte, wessen Worte Pastor A. wiederholte, sagte nun beschwichtigend:
»›Bah, bah, Pastor, so schlimm ist's nicht, so könnte nur eine Frau reden, die Sie nicht kennt.‹
»Pastor A. schwieg. Es trat eine große Stille ein. Nun stand ich auf, hielt Pastor A. meine Hand hin und sagte:
»›Oder eine, die ihr eigen Herz nicht kannte und die des Ihrigen nie wert gewesen wäre. Aber ich bin durch viel Reue und Buße gegangen und habe bitter gelitten um meiner Worte willen. Nun vergeben Sie auch und lassen Sie uns die alten Freunde sein, solange wir Sie noch bei uns behalten dürfen.‹
»Pastor A. schaute mich an, als spräche ich eine Sprache, die er erst nach und nach verstehen könnte. Dann ergriff er meine Hand, und dann – dann hat er sie gar nicht wieder losgelassen, und so kam es dahin, daß ich heute seine Verlobte bin, seiner durchaus nicht wert in der Armut meines Wesens, aber unaussprechlich froh und reich durch den Reichtum seines inneren Lebens und die Fülle seiner großen Liebe. Im Frühjahr ziehen wir nach den Hochlanden. Keine Gegend der Erde wäre mir zu einsam an seiner Seite, und was ich mit meinem Leben anfangen kann, weiß ich auch. Wieviel habe ich gelernt auf dem unvergeßlichen Fleckchen Erde im Rhonetal! Es wird ja der Leidenden und Traurigen genug geben unter der Herde von Pastor A., daß auch mir mein Teil zu lindern und zu helfen zufallen wird, und ich kenne keine herzerfreuendere Tätigkeit. Der Vater und Lucy ziehen mit; wenn auch nicht ganz zu uns, so doch in unsere Nähe, auf das alte Gut am Tay. Der Vater sagt, wer einmal mit Pastor A. gelebt habe, der könne nicht mehr ohne ihn sein; so müsse er denn, gern oder ungern, wieder in die Hochlande zurück.«
Alice schloß, noch einmal in warmer Weise der Tage im Rhonetale gedenkend, an die sich für sie die tiefst bewegenden, ihr innerstes Leben umgestaltenden Erinnerungen knüpften. In keinem ihrer Briefe hatte sie des lebensfrohen Gefährten aus jenen Tagen vergessen, auch in diesem fragte sie mit Herzlichkeit nach ihm.
Von dem Baron hatte Hedwig lange Zeit keine Kunde mehr, bis sie endlich durch eine gemeinsame Bekannte hörte, er sei zum großen Leiden und Kummer seiner Mutter für immer nach Amerika gegangen. –
Wieder war das Jahr herum; wieder lag der Herbsthauch auf den Gefilden und erregte in Hedwigs Herzen Erinnerungen an vergangene Tage, als sie über die Gartenhecke hin nach den fallenden roten Blättern schaute. Der Brief, den ihr eben das Mädchen übergab, stimmte völlig zu ihren Gedanken: es war die Hand des alten Freundes, von dem sie so lange nicht einen Ton mehr vernommen hatte.
Der Brief kam nicht aus Amerika. Hedwig las: »Der alten Freundin eine frohe Botschaft zu verkünden, ergreife ich die Feder; für die schlimmen lasse ich sie lieber liegen. Ich war nach fernen Landen gezogen, weil ich es daheim nicht mehr aushalten konnte. Fort mußte ich – am liebsten über den Ozean. So tat ich. Aber ich bin herumgeholt worden. Erst ging unser Schiff fröhlich dahin, das Meer wogte im Sonnenschein, und ich sagte: Woge nur immer höher und trage mich so weit weg, daß ich gar nichts mehr weiß von allem, was dahinten liegt! Dann kam ein Sturm über uns hereingebrochen, den keiner vergessen wird, der ihn mit erlebt hat. Wir waren alle unseres Endes gewärtig. Da wird es einem armen Menschenwesen elend zu Mute. Ich lag unten in meiner Kabine; die Wogen brüllten ringsum und drangen herein. Ich sagte mir: Es ist der Tod, wenn nicht Gott im Himmel uns noch helfen will. Und ich wollte beten und sagen, ich habe ja auch meine Pflicht getan und recht gelebt und wollte es weiter tun; nun solle Er mir auch beistehen in der Not. Aber vor mir stieg das gerade Gegenteil von alle dem auf, und aus allen Zeiten meines Lebens stand alles Unrecht und schlechte Tun, das ich lange vergessen hatte, auf einmal klar vor meinen Augen und fing an mich zu brennen