Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri
Читать онлайн книгу.das Wort ins Herz, das mir einmal Eindruck gemacht hatte: ›Doch, ich weiß etwas, das helfen kann‹ – und ich fiel auf meine Kniee nieder und rief: ›Ach, lieber Gott, sei du dem armen Sünder gnädig!‹ Es war ein Gebet aus der Tiefe heraus, das können Sie mir glauben.
»Wir wurden gerettet. Wie wir ans Land stiegen, war mir, als lägen Jahre hinter mir, seit ich die Heimat verlassen hatte, und als sei ich ein anderer, als da ich drüben abgereist war. Was wollte ich da tun im fremden Lande? Warum war ich denn fort von dort, wo mir wohl sein konnte und wo ich daheim war? Warum war ich von der Mutter weggelaufen, die nun einsam drüben saß und weinte? So fragte ich mich und setzte mich hin und tat gerade dasselbe, was drüben die Mutter tat. Nur wieder heim, war mein einziger Wunsch. Ihn gleich auszuführen, ging ja nicht an; aber mich für Jahre oder für immer im fremden Lande niederzulassen, wie ich gedacht hatte, davon konnte keine Rede mehr sein. Ich brachte ein Jahr drüben zu, es wurde mir lang genug; aber gelernt habe ich manches und weiß auch für mein ganzes Leben, daß der die Heimat zu schätzen weiß, den einmal das Heimweh bis auf die Knochen abgezehrt hat. Was ich in den Todesschrecken der Sturmnacht auf dem Schiffe gelernt, das habe ich seither auch nicht wieder vergessen und will es, so mir Gott helfe! mein Leben lang im Gedächtnis behalten! Aber als ich endlich wieder auf meinem heimatlichen Boden stand, da war mir, als müsse ich allen um den Hals fallen, die auch darauf standen.
»Und so fuhr ich am sonnigen Morgen die Straße hinauf, wo rechts das Haus der Mutter steht, und links steht auch eins. Und wie ich bei diesem an die Fenster hinaufschaue, da seh' ich auf dem Balkon ein Mägdlein stehen, dem fielen die Ringellocken über die Achseln herunter wie lauter Gold in dem hellen Sonnenschein, und das Mägdlein erkennt mich und lacht und winkt mit Augen und Händen und ist das lieblichste Wesen, das je die Sonne beschienen hat. Und ich lache und winke wieder, und wir winken noch einmal, und dann geht's rechts und hinein zur Mutter.
»Und nun dieses Willkommen und diese Freudentränen! Denn ich fiel der guten Mutter als völlige Überraschung ins Haus, und mitten drin sag' ich: ›Da hast du mich wieder, Mütterchen, und weil es dir Freude macht, so will ich denn auch gleich heiraten.‹ Schreckenbleich hält sie einen Augenblick inne. ›O mein einziges Kind‹, ruft sie aus, ›so hast du dein Herz in Amerika –‹
»›Nein, nein, Mütterchen, so weit weg nicht‹, sag' ich; ›nur drüben hab' ich's, bei Nachbars Lili, und wenn dir's recht ist, so holen wir sie 'mal gleich herüber.‹ Nun kamen die Freudentränen erst recht, und von Zeit zu Zeit kommen sie seither immer wieder, wenn mich Mütterchen ansieht und dabei die Hände faltet, so als dankte sie leise. Und zu danken haben wir auch Ursache, sind wir doch die drei glücklichsten Menschen auf diesem Erdenrund. Und nun kommen Sie nur bald nach Deutschland, uns alle drei zusammen zu sehen! In der Schweiz bin ich gewesen, Gott weiß es, und Sie wissen es auch! Aber meine kleine, prächtige Lili muß ich Ihnen durchaus zeigen; ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf, sie wird Ihr Herz in fünf Minuten gewinnen. Und nun ist's an Ihnen, zu erzählen, lassen Sie mich nicht lange warten!
In bleibender Freundschaft
Ihr
O. v. K.«
Um die waldigen Hügel im Rhonetale haucht noch alljährlich der Herbst seinen duftigen Farbenschmelz. Am Waldsaume hoch oben steht noch die alte Bank und schaut auf dieselbe Schönheit nieder, die sie von Jahr zu Jahr erneut gesehen, und hinter dem Kastanienwald am einsamen Abhang steht eine andere noch, auf welche dunkle Baumwipfel und graue Felsen blicken und ihr von alter Zeit erzählen.
Unter dem Kirschbaum am Wiesenwege sitzt aber nicht mehr das lahme Kind. Seine Hülle liegt draußen auf dem sonnigen Gottesacker unter dem grünen Rasen. Die weißen Schmetterlinge schweben wonnig auf und nieder um den stillen Grabhügel, als wollten sie des Kindes Los verkünden, das, seiner kranken Hülle entflohen, mit entfesselten Schwingen zum neuen, sonnigen Leben erwachen durfte.
Schloss Wildenstein
Was der Mutter Abwesenheit nach sich zieht
Nollagrund
Schon seit bald zwanzig Jahren stand das alte Schloss still und verlassen dort auf der Höhe. Kein Ton war weithin zu hören, als das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der alten Föhren rings um das Schloss. Um die runden Ecktürme schwirrten am hellen Sommerabend die Schwalben wie ehemals; aber von den Turmbalkonen schauten keine fröhlichen Augen mehr auf die grünen Wiesen und auf die reichbeladenen Apfelbäume im Talgrund nieder. Zwei lustige Augen aber schauten eben jetzt aus dem Wiesengrund zu dem alten Schloss auf und forschten und spähten, als könnten sie hinter den festverschlossenen Fensterladen etwas ganz Besonderes entdecken.
»Mea«, rief der Späher plötzlich in aufgeregtem Ton, »jetzt, jetzt, komm schnell, nun geht’s auf.« Mea, die auf der Bank unter dem grossen Apfelbaum sass, ein Buch in der Hand haltend, legte dieses hin und kam herbeigerannt.
»Sieh, sieh, nun bewegt es sich«, fuhr der Bruder immer erregter fort, »es ist ein Arm in einem schwarzen Rock, nun stösst er gleich den ganzen Laden auf.« In diesem Augenblick erhob sich der schwarze Gegenstand und schwang sich zum Turm empor. »Ein Vogel war’s, ein grosser, schwarzer Vogel«, sagte Mea enttäuscht. »Nun hast du mich gewiss schon zwanzigmal gerufen, ich solle sehen, wie die Laden sich öffnen, und nie gehen sie auf. Ich komme nicht mehr, du kannst rufen, soviel du willst.«
»Sie gehen doch einmal auf, ich weiss es«, behauptete der Junge fest, »man weiss nur nicht wann; aber es kann jeden Tag sein. Wenn nur der steife, alte Trius antworten wollte, wenn man ihn fragt, der weiss alles, was da oben vor sich geht; aber der alte Brummer sagt nie ein Wort, und wenn man ihm nahekommt und mit ihm sprechen will, kommt er gleich mit dem dicken Stock auf einen los. Er will natürlich nicht, dass man weiss, wie es da oben zugeht; aber in der Schule wissen sie alle, dass es oben nicht sicher ist und dass ein Gespenst umgeht und durch die Föhren heult. Ich glaube es gar nicht; aber der alte Trius könnte doch ein wenig sprechen und einem erklären, was da vorgeht.«
»Nichts geht vor«, fiel Mea ein, » das hat die Mutter nun schon ein paarmal gesagt, und sie will auch nicht, dass du immer von dem Gespenst mit den Schulkindern sprichst und immer zu erforschen trachtest, was sie davon wissen. Und den Schlosswächter musst du Herr Trius nennen, nicht nur Trius, du weisst, dass die Mutter es will!«
»Ja, ja, ich will ihn schon Herr Trius nenne; aber auf den mach ich sicher ein Lied und zeichne ihn deutlich, warte nur«, sagte Kurt drohend.
»Er ist doch nicht schuld, dass es keinen Geist von Wildenstein gibt, von dem er erzählen könnte«, bemerkte Mea.
»Er wüsste aber genug zu erzählen«, fuhr Kurt eifrig fort.