Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri
Читать онлайн книгу.Der Pastor legte das Buch nieder.
›Sie denken an ein Fortgehen von uns?‹ fragte er, etwas überrascht.
Ich sah meinen Vater an.
›Es hat Zeit‹, bemerkte dieser.
›Ich denke wohl daran‹ sagte ich nun; ›sobald der Vater einwilligt, reise ich und viel lieber heute als morgen.‹
Es entging mir nicht, welchen Eindruck meine Worte auf Pastor A. machten. Er sprach kein Wort mehr. Meine Schwester forderte ihn auf, weiter zu lesen; er entschuldigte sich, seine Stimme sei nicht gut. Mein Vater wollte einige schottische Verhältnisse mit ihm besprechen, mit denen der Pastor wohlbekannt war, und er, den ich noch nie zerstreut gesehen hatte, gab ganz unzusammenhängende Antworten. Viel früher als sonst verließ er uns. Mein Vater bemerkte nach seinem Fortgehen, Pastor A. müsse heute Abend von seinen eigenen Gedanken in Anspruch genommen gewesen sein, was ihm begreiflich sei, denn der Mann gehöre seinen Kenntnissen und Fähigkeiten nach auf einen ganz anderen Posten; er werde aber alles tun, ihn festzuhalten, das würde jeder tun, der mit ihm zusammenhänge. Ich schlief nicht in jener Nacht. Daß es nur zu keinem Aussprechen kommen möchte, war meine große Sorge; daß nur alles so bleiben könnte und ich nicht schuld an einem unersätzlichen Verlust für meinen Vater sein müßte! Daß ich nun so bald als möglich reisen wollte, das stand mir fest, denn fort mußte ich, jetzt mehr als je! Es kam ein kalter Schrecken über mich beim Gedanken, hier für alle Zeit festgebannt zu bleiben, oder gar nach den Einöden der schottischen Hochlande verschlagen zu werden, was der Pastor als Ideal in der Seele trug. Niemals! Ich war entschlossen, die erste günstige Gelegenheit zu benutzen, so klar zu reden, daß Pastor A. mich verstehen müßte; ich mußte suchen, so schnell als möglich mein Ziel zu erreichen, damit nur keine Worte fallen könnten von seiner Seite, die uns allen leid tun müßten. Kaum war er auch erschienen am folgenden Tage, als ich sogleich unser Buch herbeiholte und weiter zu lesen begehrte, weil mir in dieser Luft weit und wohl werde. Nur in solchen Umgebungen könnten die Menschen sich entfalten und das Leben einen wirklichen Wert für sie bekommen. Von allen bedauerlichen Existenzen fände ich die allerbedauernswerteste diejenige einer Frau, die ihr Schicksal in einen einsamen Landwinkel geworfen habe, um sie da geistig verarmen und verdorren zu lassen. Das Beste für sie sei dabei noch, wenn sie niemals zu einem bewußten Dasein erwache, denn was sollte sie mit ihrem Leben tun, wo alles tot um sie sei! Mir wäre eine solche Existenz dem Begrabenwerden gleich. Was ich noch sagte, weiß ich nicht mehr, ich war wie im Fieber.
Es hätte wohl nicht so viel gebraucht. Pastor A. sagte nicht ein Wort. Er war für den Vater aufmerksam wie immer; nur das Vorlesen, bat er, möchten wir ihm für heute erlassen, noch könne er seine Stimme nicht recht gebrauchen. Dann ging er weg und kam viele Tage nicht wieder. Schon am zweiten Tage seines Ausbleibens hatte mein Vater nach ihm ausgeschickt, um zu wissen, was mit ihm sei, denn er vermißte seine Gesellschaft schmerzlich. Der Pastor ließ ihm sagen, er sei unwohl geworden; sobald er es tun könne, werde er wieder kommen. Er kam auch wieder.«
Hier hielt Alice inne, als wäre sie zu Ende. Sie hatte den Kopf in ihre Hände gelegt; auf einmal brach sie in Schluchzen aus.
»O wär' er nicht wieder gekommen, so wäre alles nicht geschehen. Ich kann's nicht mehr ertragen.«
Hedwig stand auf: »Ich will Sie nach ihrem Zimmer bringen«, sagte sie, Alicens Arm in den ihrigen legend, »wir kommen ein andermal wieder zusammen.«
»Nein, nein«, rief Alice erschrocken aus, »nur nicht nach dem einsamen Zimmer; da sitze ich die halben Nächte und noch länger in der lautlosen Stille und sage mir immer dasselbe, immer dasselbe und sehe keine Rettung aus dem Unerträglichen! Hier sind Sie doch und haben Mitleid mit mir«
Hedwig konnte die Arme wohl eine warme Teilnahme empfinden lassen; ihr ganzes Herz war bewegt für sie.
»Ich will alles erzählen«, sagte Alice nach einer Weile mit ruhigem Ton, »ich will einmal alles aussprechen. Pastor A. kam wieder, aber wie war alles anders geworden zwischen uns! Er war ausnehmend höflich gegen mich, so höflich, daß es mir ins Herz schnitt. Er fragte nicht mehr mit Wärme nach meinem Urteil, oder nach dem Eindruck, den das Vorgelesene auf mich machte. Er lauschte nicht mehr vor allem nach meiner Zustimmung zu seinen Worten; er hatte kein herzliches Wort, keinen frohen Blick des Wiedersehens mehr, wenn er kam, wie ich es bei ihm gekannt hatte. Gegen den Vater und Lucy war er nicht verändert, doch war er schweigsamer als vorher, und ich bemerkte auch wohl, daß er nicht mehr mit der ganzen Seele bei unseren Gesprächen oder bei einer Lektüre war, wie ich das bei ihm zu finden gewohnt war. Ich weiß nicht, wie es kam, ich beschäftigte mich jetzt viel mehr als je vorher mit ihm. Alle seine Worte mußte ich mit denen der vergangenen Tage zusammenstellen, und war ich vorher gewohnt, daß er bei allem auf meine Zustimmung oder mein Verurteilen besonders lauschte, so lauschte ich jetzt auf das seinige. Wie wünschte ich die früheren Tage unseres unbefangenen Verkehrs zurück! Ich weiß nicht, war es meine gesteigerte Empfindlichkeit, war es völlige Einbildung, oder war etwas Wirkliches dabei: genug, ich glaubte zu bemerken, daß Pastor A. sich nach und nach immer näher zu Lucy hielt, und daß sie mehr und mehr an die Stelle trat, die ich eingenommen hatte.
Mich überfiel ein unaussprechlich marterndes Gefühl, das ich nie gekannt hatte, das mir alle Ruhe raubte und mich Tag und Nacht verfolgte. Alle Lust zum Fortgehen war mir völlig verschwunden, ich hatte keinen anderen Gedanken, keinen Wunsch mehr, als nur das eine, daß alles noch wäre, wie es einmal war, und doch wußte ich, es war für immer vorüber.
In jenen Tagen kam ein junger englischer Offizier in unser Haus, dessen Vater ein alter Bekannter unserer Familie war. Der junge Mann hatte auf seiner Rückreise nach Indien, wo er im Dienste stand, noch einige Freunde seines Hauses aufgesucht, die in der Nähe verweilten. Er warb um Lucy. Wir kannten ihn nur wenig; ich war nicht für ihn eingenommen; es lag etwas Wildes in seinem Blick, und in seinem ganzen Wesen hatte er etwas Gewalttätiges. Der Vater war nicht gegen die Verbindung, er ließ meine Schwester ganz frei entscheiden. Lucy wandte sich an mich, wie mit allen ihren Angelegenheiten, denn sie war wie Wachs in meiner Hand. Ich stieß sie in die Verbindung hinein. Sobald sie verlobt war, erkannte ich, daß Lucy entschieden dem Unglück entgegengehe; ich hatte sie dahin gebracht und ich wußte, warum. Nicht aus irregeleitetem Interesse für sie hatte ich es getan, das wäre zu verzeihen gewesen, nein, ich hatte sie geopfert aus brennender Eifersucht. Der Verlobte zeigte sich als ein innerlich roher, gewalttätiger Mensch. Lucy verlor täglich mehr ihre kindliche Fröhlichkeit; sie wurde still und sah abgehärmt aus; sie war nicht mehr dieselbe. Ich habe keine frohe Stunde mehr gehabt seither.«
»Ist sie denn schon verheiratet, ist denn kein Zurückgehen mehr möglich?« fragte Hedwig, als Alice innehielt.
»O, daran ist gar nicht zu denken«, entgegnete diese mit abschließender Bestimmtheit. »Mein Vater hat Lucy vollkommen freie Wahl gelassen; nun sie aber ihr Wort gegeben hat, würde er ihr nie gestatten, es wieder zu brechen. Meine Schwester denkt auch nicht daran. Sie nimmt ihr Los an, wie es gefallen ist, hält still und geht nun mit diesem Menschen fort nach dem fernen Indien, allein mit diesem Menschen. Sie wird es nicht lange aushalten, und ich habe alles getan, ich habe ihr junges Leben gemordet. Wie die Hochzeit nahte, die um seines Dienstantritts willen bald sein sollte, konnte ich meine Angst und Qual nicht mehr bemeistern. ich kam in einen solchen Zustand der Aufregung, daß ich Tag und Nacht ruhelos umherlief und kein Schlaf mehr in meine Augen kam, wie matt und entkräftet ich mich auch fühlen mochte. Ich weiß, was das heißt, was irgendwo gesagt ist von einem unauslöschlichen Feuer und einem ewig nagenden Wurm. So ist es in meinem Herzen. Der Arzt verordnete, ich sollte in andere Luft kommen, er schickte mich hierher. Ich ging gern, ich hoffte fern von allem die Sache ruhiger ansehen zu können, meiner Qual los zu werden; aber sie ist mit mir da. Täglich, stündlich erwarte ich den Brief, der mir die Anzeige von der Hochzeit und der Abreise meiner Schwester bringt, die ich nicht mehr sehen werde und die ich ins Elend hinausgestoßen habe.«
Alice legte ihren Kopf auf Hedwigs Schulter und schluchzte laut. Es war unterdessen spät geworden, eben hatte die alte Turmuhr drüben eins geschlagen. Hedwig stand auf. Sie nahm Alice bei der Hand und führte sie nach dem Nebengebäude hinüber in ihr Zimmer.
»Tun Sie mir eines zuliebe, Fräulein Alice«, sagte sie