Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri

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Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri


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nicht ungeschehen und führt Sie zu keinem Frieden. Werfen Sie sich auf ihre Kniee und rufen Sie den an, der allein Ihnen helfen kann.« –

      Von diesem Abend an waren Hedwig und Alice unzertrennlich beisammen. Am Tage zogen sie durch die stillen Waldwege und zu der einsamen Bank hinauf. Da saßen sie viele Stunden lang, die dunkeln Wipfel des Kastanienwaldes zu ihren Füßen, die felsigen Savoyergebirge vor ihnen emporragend. Ihr Gespräch bewegte sich fortwährend um denselben Gegenstand. Nun Alice einmal ihr Herz aufgeschlossen hatte, war es ihr nicht mehr peinlich; im Gegenteil, sie fand eine Erleichterung darin, sich immer voller auszusprechen, sich immer neu, immer schärfer anzuklagen. Sie fand auch das tiefste Mitgefühl bei ihrer Gefährtin. Hedwig hatte sie so auf ihr Herz genommen, daß Alicens Leiden ihr eigenes geworden war. Sie rang und flehte für die Gequälte manche bange Stunde der Nacht durch, denn immer wieder sah sie das kleine Licht drüben schimmern und wußte, daß die Arme ruhelos ihrer bitteren Reue, ihren brennenden Vorwürfen hingegeben war.

      Auf ihren Gängen am sonnigen Tage konnte Alice zuweilen dazu kommen, einen Blick um sich zu tun. Sehr oft trafen die Wandernden mit dem Baron zusammen, der sich gern ihnen anschloß und manchen schönen Herbstnachmittag mit ihnen durch die Wälder streifte und über die sonnige Höhe heimkehrte. In seiner Gesellschaft schien Alice für Augenblicke ihren nagenden Wurm vergessen zu können. Seine unverwüstliche Fröhlichkeit ergoß sich über alles, das ihm nahe kam, und seine helle Freude auf jedem Schritt, über die Blumen am Wege und die Vögel auf den Zweigen, über die hochroten Äpfel am Baum, über Himmel und Erde und vor allem über den goldenen Sonnenschein darauf, war völlig ansteckend. Für Alice war der Baron von der zartesten Aufmerksamkeit und in ihrer Nähe immer so maßvoll in den Ausbrüchen seines Frohsinns, als wüßte er genau, wie viel und wie wenig davon ein trauriges Herz erträgt. Ihm allein gelang es denn auch zuweilen, die Schatten von ihrer Stirne zu verscheuchen und einen leisen Sonnenblick hervorzurufen. Aber es war alles nur ein kurzes Selbstvergessen. Kamen die stillen Abendstunden, welche die Freundinnen jetzt immer auf Hedwigs Zimmer zubrachten, so stieg mit der alten Macht das Weh ihres Herzens und die unnennbare Qual ihres Gewissens auf.

      »Ach, ich bete jetzt wirklich«, antwortete sie eines Abends auf Hedwigs wiederholte Erinnerung, »ich bete so anders, als ich es je vorher in meinem Leben getan habe. Früher war mein Gebet gerade so, als ob ich noch schnell dem lieben Gott gute Nacht wünschte; aber seit ich in der brennenden Qual liege, weiß ich, was es heißt, aus tiefer Not zu ihm zu schreien. Ich sage ihm auch wahrhaftig, daß ich ja gern alles, alles daran geben will; ich will ja auch nie mehr den Menschen sehen, an dem mein Herz viel heißer hängt, als ich je wußte, da ich noch mit ihm zusammen war; ich will ja keinen glücklichen Tag mehr für mich, nur daß mich der liebe Gott von meiner Qual erlöse und das arme Kind aus den Banden befreie, in die ich es geworfen habe.«

      »Es ist gewiß recht, Alice«, sagte Hedwig, »daß Sie all' Ihre Wünsche, Ihr ganzes Erdenleben opfern wollen, um gut zu machen, was Sie verbrochen haben, und daß Sie darum beten, daß alle Strafe auf Sie falle und die arme Schwester vor großem Leid bewahrt bleibe. Aber ich glaube, Sie kommen zu keiner Ruhe, solange Sie mit Ihrem Gebet von Gott fast erzwingen wollen, daß er nicht geschehen lasse, was Sie angebahnt haben. Er hat seine eigenen Wege mit den Menschen; was wir Übeles tun, kann in seiner Hand zum Guten gewandt werden, aber auf andere Weise, als wir erwarten. Beten Sie um die volle Hingebung an seinen Willen; nur so können Sie zum Frieden kommen und es hinnehmen, ohne zu verzweifeln, wenn nun erfüllt sein muß, was Sie begonnen haben.«

      »Ich kann nicht, ich kann nicht«, jammerte die Gequälte. »Es kann nicht geschehen, es ist schrecklich, was ich begonnen habe, es ist zu schrecklich.«

      »So peinigen Sie sich fort und fort, Ihr Gebet bringt Ihnen keinen Segen und in Ihren Anklagen können Sie sich bis zum Irrsinn steigern.«

      »Das ist wahr«, warf Alice sogleich ein, »das fühle ich und sagte ich mir schon oft mit Schaudern. Aber wie den Weg zur Rettung finden? Ach helfen Sie mir nur!«

      »Ich kann Ihnen nur darin helfen, daß ich mit Ihnen zu unserem Herrn stehen will, daß er Reue und Buße annehme und in Ihr Herz den Glauben senken möge, daß er erlösende Wege hat, die wir nicht voraussehen können. Und dann, liebe Alice, suchen Sie Ihr ganzes Wollen und Wesen in seinem Willen aufgehen zu lassen.«

      Es fiel kein liebevoller Rat bei Alice auf unfruchtbaren Boden; wenn ein solcher den Lebenssamen der Wahrheit in sich schloß, so trug er seine Frucht in ihrem Herzen.

      Die Tage gingen dahin. Schaute auch aus Alicens tiefen Augen keine Freudigkeit heraus, so konnte doch Hedwig bemerken, daß das unruhig Erregte ihres Wesens sich leise milderte und wie ein stiller, freilich traurig stimmender Ton der Ergebung aus ihren Worten klang. –

      Schon ging nun der Oktober zur Neige. Um die Berge lagen die Nebelwolken länger am Morgen und am Abend stiegen sie früher auf. Die lichten Sonnenuntergänge wurden seltener, doch blieben Alice und Hedwig ihren täglichen Wanderungen unverbrüchlich treu, wenn nicht entschiedene Regengüsse sie daran verhinderten. Zogen die Freundinnen auch noch so unbemerkt auf ihre Gänge aus, so wollte doch ein beharrlicher Zufall, daß sie zum Schluß der Wanderung immer noch auf den Baron treffen sollten. Alltäglich um dieselbe Zeit, an derselben Stelle sitzend, erkannten sie den Freund von weitem schon, der jetzt, aller menschlichen Gesellschaft abgewandt, sich einem beschaulichen Anachoretenleben zuzuwenden schien.

      Da saß er wieder auf der weltverlassenen Bank, tief in Gedanken versunken, als am kühlen Oktoberabend die Freundinnen ihrem gewohnten Ruheplatz nahten.

      »Sie müssen seit einiger Zeit eine große Vorliebe für die Einsamkeit gefaßt haben, Herr Baron«, sagte Hedwig herantretend.

      »Unbeschreiblich«, rief er aus, indem er den Damen Platz auf der Bank machte und sich vor sie hinstellte; »geschieht mir aber, daß ich in solcher Weise darin gestört werde, dann zieh' ich das Begegnen der Einsamkeit vor.«

      Schon hatten die Nebelwolken die Berge eingehüllt und einen grauen Schleier um das Tal gelegt, noch ehe die Sonne untergegangen war.

      »So düster habe ich das Tal kaum je gesehen«, sagte Alice.

      »Ich habe eben darüber nachgedacht, meine Dame«, begann der Baron ernsthaft, »warum drei vernunftbegabte Wesen vorzugsweise diese Bank freudeloser Unwirtlichkeit aufsuchen, wo man nichts sieht, als grau starrende Felswände, und nichts hört, als das Gekrächze kummervoller Waldraben, da doch nur eine Strecke davon entfernt eine Bank von einladendstem Charakter steht, die hinunterschaut auf das lebensfrohe Tal. Da hört man Herdenglocken und Hirtenjauchzen und sieht die frisch beschneiten Gletscher schimmern. Wie ist dies Unerklärliche zu deuten?«

      »Für uns dadurch«, entgegnete Hedwig, »daß Fräulein Alice die Bank freudeloser Unwirtlichkeit mehr liebt, als diejenige von einladendstem Charakter.«

      »Kennen ist lieben, sagt ein großer Mann«, rief der Baron aus. »Kommen Sie nur ein einziges Mal nach der anderen Bank hin und lernen Sie diese kennen! Tun Sie mir den Gefallen, mein Fräulein! Jetzt kommt ohnehin mein Geburtstag, da machen Sie mir doch eine Freude?«

      Alice willigte lächelnd ein. Den Freudentag müsse ja jemand mit ihm feiern, damit ihn nicht die Erinnerung an das Vaterhaus zu traurig stimme. Da sei wohl immer ein großes Fest gewesen an dem Tage, meinte sie.

      Der Baron bestätigte dies vergnüglich.

      »Ich habe auch meiner Mutter geschrieben«, fügte er hinzu, »daß sie mir nur ja auf diesen Tag die Pfeffernüsse nicht vergesse, denn nur beim stillen Nagen brauner Pfeffernüsse werden die alten, echten Geburtstagsgedanken hervorgebracht.«

      Die Wolken wurden dunkler und dichter; es war geraten, heimzukehren.

      Als Hedwig am späteren Abend noch einmal durch den Garten ging nach dem tüchtigen Regenschauer, der aus den dunkeln Wolken gefallen war, kam der Baron von der Straße herein, er war in allem Regen herumgewandert. Er stellte sich vor Hedwig hin.

      »Nein«, rief er aus, »wenn ich doch diese Augen nur einmal in Freude aufleuchten sehen könnte!«

       »Ich stelle mir vor, Sie meinen Fräulein Alicens Augen, obschon es auch noch andere gibt«, bemerkte Hedwig.

      »Wo


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