Geld und Leben. Ewald Nowotny
Читать онлайн книгу.der Wirtschaftswissenschaft den Ruf der „dismal science“, der „düsteren“ Wissenschaft eingebracht hat. Charles Dickens hat in seinem Roman „Oliver Twist“ eindrucksvoll eine Welt gezeigt, in der etwa Arbeitslose möglichst wenig Unterstützung finden sollten, um ihren „Leistungsanreiz für Arbeit“ zu stärken, und Gewinne, auf welcher Grundlage immer, möglichst hoch sein sollten, um die Investitionstätigkeit zu fördern. Jeder Eingriff in diese „Anreizstrukturen“ führe zu gesamtwirtschaftlicher Fehllenkung. Marxistische Ökonomen haben die entsprechenden, entsetzlichen sozialen Zustände dargestellt und analysiert, Verbesserung aber nur von einem Umsturz des „Gesamtsystems“ erwartet. Dem gegenüber hat der „reformistische“ Zweig der Sozialdemokratie im Gleichklang mit der Gewerkschaftsbewegung für schrittweise Verbesserungen gearbeitet. Im wissenschaftlichen Bereich waren es speziell die sogenannten „Kathedersozialisten“ der „historischen Schule in der Nationalökonomie“ im deutschen Sprachraum, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer rein marktmechanistischen Sicht eine umfassende gesellschaftliche Analyse entgegenstellten. Eine umfassende gesellschaftspolitische Analyse ökonomischer Fragestellungen ist aus meiner Sicht auch heute relevant. Geht es doch hier vielfach darum, sensibel abzuwägen, wie weit ökonomische Anreize gesamtwirtschaftlich sinnvoll und erforderlich sind und wie weit sie gesellschaftspolitischen Aspekten, etwa der sozialen Chancengleichheit oder der ökologischen Stabilität, widersprechen – wobei das Ergebnis dieser Abwägungen von weltanschaulichen Strukturen bestimmt im historischen Zeitverlauf verschieden ausfallen kann.
Eine spezielle Form der Auswirkungen von Anreizwirkungen ist das Auftreten von „moral hazard“, das heißt einer Konstellation, in der sich durch Bereitstellen zusätzlicher Sicherheiten das Verhalten der Wirtschaftssubjekte im Sinn höherer Risikobereitschaft ändert. Beispiele wären riskanteres Autofahren oder Ausüben riskanterer Sportarten bei Bestehen eines entsprechenden Versicherungsschutzes. Auf individueller Basis versuchen etwa Versicherungen diesem Problem durch Einführung von Selbstbehalten zu begegnen. Auf gesamtwirtschaftlicher Ebene kann eine Kumulierung „schlechter Risiken“ durch Formen der Pflichtversicherung verhindert werden.
Für die Geld- und Finanzpolitik wurden Fragen von Anreizwirkungen und moral hazard lange unterschätzt, sind heute aber von zentraler Bedeutung. Ein mikroökonomisches Problem von gesamtwirtschaftlicher Bedeutung betrifft etwa Höhe und Struktur der Bezahlung von Managern, insbesondere auch Bankmanagern. Besonders intensiv zeigt sich dies etwa bei der Diskussion um die Bezüge von Investment-Bankern. Hier ist es einer selbstreferentiellen Gruppe gelungen, ein von der „normalen Wirtschaft“ weit abgehobenes Gehaltsniveau durchzusetzen („if you pay peanuts, you get monkeys“). Es wird damit ein „Kampf um Talente“ inszeniert, der nach meiner – in diesem Fall langjährigen – eigenen Beobachtung sachlich nicht zu rechtfertigen ist.
Sehr gute Investmentbanker sind zweifellos eine rare Spezies, wie auch sehr gute Neurochirurgen, Motorenentwickler etc. Sie verdienen daher eine gute Bezahlung – nicht aber die Exzesse, die sich hier eingebürgert haben und die dann als „branchenübliche“ Standards verlangt werden. Hier entsteht im Gegenteil die Gefahr, dass diese extreme Bezahlung Personen anlockt, die von exzessiver Gier und Statusdenken bestimmt sind, gleichzeitig aber das Risiko einer Tätigkeit als selbstständiger Unternehmer scheuen.
Eine besondere Rolle spielte und spielt das Konzept von Anreizwirkungen und moral hazard im Verhältnis zwischen Geldpolitik und staatlichem Handeln. So wurde und wird der EZB speziell von deutschen Politikern und auch Wirtschaftswissenschaftlern vorgeworfen, ihre expansive Geldpolitik ermögliche es einzelnen Mitgliedstaaten, gesamtwirtschaftlich notwendige Strukturreformen zu unterlassen. Die Grundvorstellung ist dabei offenbar, dass die EZB durch ihre Geldpolitik niedrigere Zinsen, damit geringere Kosten der Staatsverschuldung, höheres Wachstum und geringere Arbeitslosigkeit ermögliche. Dadurch fehle der „Leidensdruck“ von nationalen Finanzkrisen und Massenarbeitslosigkeit, der für den politischen Willen zu tiefgreifenden, auch schmerzhaften Reformen nötig sei. Als zentrale Bereiche für schmerzhafte, aber nötige Reformen werden dabei vor allem der Arbeitsmarkt und das Pensionssystem gesehen.
Gerade in dieser Strategie einer „Erziehung durch Härte“ („tough love“) unterscheiden sich die Positionen (vieler, nicht aber aller) deutscher Ökonomen und speziell US-amerikanischer Ökonomen typischerweise voneinander. Zentral sind dabei unterschiedliche Einschätzungen der „politischen Reaktionsfunktion“, das heißt der Frage, ob und wie politische Prozesse auf ökonomische Anreizwirkungen reagieren. US-Ökonomen weisen der Frage nach moral hazard in der Regel geringere Bedeutung zu und befürchten eher ein Szenario, wo ökonomische Krisen nicht zu „wirtschaftspolitischem Wohlverhalten“, sondern zum Aufstieg radikaler politischer Kräfte führen und damit zu einem explosiven Gemisch von politischer und wirtschaftlicher Krise. Dies insbesondere, wenn eine zu harte „Austeritätspolitik“ über längere Zeiträume hinweg zu einer Verschlechterung und nicht zu einer fühlbaren Verbesserung für breite Teile der Bevölkerung führt.
Eine grundsätzlichere Form der zwischenstaatlichen Anreizdiskussion ist die Frage, ob und wieweit eine Wirtschafts- und Währungsunion von Staaten mit unterschiedlicher historischer und wirtschaftlicher Entwicklung ein „Trittbrettfahrer-Verhältnis“ („free-rider“) einzelner Staaten ermögliche. Dies speziell etwa in der Form, dass ein einzelner Staat eine Strategie verfolgen könne, von der Stabilität der Gesamtunion (in Bezug auf Preise, Zinsen etc.) zu profitieren, ohne selbst durch eine entsprechende stabilitätsorientierte Politik beizutragen. Die Vermeidung solcher free-rider-Strategien war eine zentrale Frage bei der Diskussion um die Gründung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Die klarste und „einfachste Lösung“ war die der „Krönungstheorie“, das heißt es müsse zunächst zu einem so engen politischen Zusammenschluss kommen, dass free-rider-Strategien eines Einzelstaates mangels einzelstaatlicher Kompetenz gar nicht mehr möglich wären. Diese Ansicht, die etwa lange Zeit von der Deutschen Bundesbank vertreten wurde, ist zweifellos logisch schlüssig – politisch und historisch aber unrealistisch.
Um den politisch erwünschten – und aus meiner Sicht als Entsprechung der Wirtschaftsunion auch notwendigen – Schritt zur Währungsunion zu gehen, wurde der für das Europa der Nachkriegszeit von Jean Monnet und Robert Schuman entwickelte – und erfolgreiche – Weg der schrittweisen Integration gewählt. So wie sich etwa aus dem ökonomischen Integrationsschritt der „Montan-Union“21 schrittweise eine stärkere politische Zusammenarbeit ergab, und diese Strategie mit dem Europäischen Binnenmarkt fortgeführt wurde, so soll mit der Schaffung einer einheitlichen Währung ein Prozess in Richtung weiterer politischer Integration eingeleitet werden.
Hier liegt der zentrale Angelpunkt der europäischen Integration. Zunächst war schon zum Zeitpunkt der Einführung des Euro in einzelnen EU-Staaten der Widerstand gegen den erforderlichen Souveränitätsverzicht so groß, dass sie – trotz Erfüllen der ökonomischen Kriterien – den Beitritt zur Wirtschafts- und Währungsunion ablehnten (UK, Dänemark) beziehungsweise nicht betrieben (wie etwa Schweden, Tschechien). Aber auch in den Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion zeigen sich deutliche Unterschiede in der Bereitschaft, die den ökonomischen Anforderungen entsprechenden Schritte auch politisch-rechtlich zu gehen. In Deutschland hat sich dies zu einer Grundsatzfrage entwickelt. Ich persönlich teile den starken Bezug zu Fragen der Bundesverfassung, nicht aber die oft integrations-restriktive Interpretation, die in der entsprechenden rechtlichen und auch politischen Diskussion von manchen eingenommen wird. Vor allem beunruhigt mich die Gefahr, dass – wie im Mai 2020 geschehen – nationale Verfassungsgerichte sich über Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes hinwegsetzen könnten, was de facto einen Zusammenbruch eines wesentlichen Pfeilers der europäischen Integration bedeuten könnte.
Um ein free-rider-Verhalten einzelner Staaten zu vermeiden, wurde als integrierter Teil des Maastricht-Vertrages der Europäische Wirtschafts- und Stabilitätspakt geschaffen. Über die Sinnhaftigkeit einzelner konkreter Regelungen zur Defizit- und Schuldenbegrenzung gibt es eine differenzierte wirtschaftswissenschaftliche Diskussion. Vom prinzipiellen Aspekt der Anreiz-Koordinierung in einer Währungsunion von Staaten mit unabhängiger Fiskalpolitik ist der Ansatz des Wirtschafts- und Stabilitätspaktes aus meiner Sicht aber sinnvoll und zielführend. Wie bei jedem Vertrag ist auch hier ein entscheidender Aspekt die Frage der Sanktionen bei Vertragsverletzung