Ellenbogenfreiheit. Daniel C. Dennett
Читать онлайн книгу.ist, wenn Sie bloß eine Muschel haben wollen, aber keine bestimmte. In keinem dieser Fälle ist Ihr Gefühl, dass Sie sich frei entscheiden – in dem Sinne, auf den es ankommt – gefährdet.
Was wir alle wollen, und wollen sollten, ist, dass unsere Handlungen immer auf der Basis guter Information über die besten uns zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten erfolgen. Wenn die Umgebung doch nur herbeiführen würde, dass wir eine ganze Menge zeitgemäßer und relevanter Überzeugungen darüber haben, was um uns herum los ist, und wenn sie doch nur verursachen würde, dass wir immer auf der Basis der vernünftigsten uns möglichen Bewertung der Evidenz handeln! Das würde uns fast alles geben, was wir als Akteure wollen – bis auf Folgendes: Wir würden nicht wollen, dass die Umgebung unsere besten Züge für die anderen Akteure allzu offensichtlich erkennbar macht. Denn dann können sie uns ausnutzen, da sie zu viel darüber wissen, was wir wollen und wie sehr wir es wollen. Also fügen wir der Wunschliste die Fähigkeit hinzu, unsere Gedanken und Entscheidungsprozesse für uns behalten zu können, auch wenn das bedeutet, dass wir hin und wieder nur die zweitbeste Wahl treffen, nur um die anderen fernzuhalten.19 Es gibt eine Menge Belege dafür, dass die Evolution uns mit genau diesen wunderbaren Fähigkeiten ausgestattet hat, nicht perfektioniert natürlich, aber immerhin so gut, dass man sich im Allgemeinen darauf verlassen kann, dass wir verantwortungsvoll handeln und daher billigerweise auch für unsere Handlungen verantwortlich gemacht werden können.
Nichts von dem, was wir von den Neurowissenschaften lernen, gefährdet diese Art Willensfreiheit. Ja, wir haben erfahren, dass Hirnforscher unter sehr anspruchsvollen Bedingungen manchmal „vorhersagen“ können, welche „zufällige“ Wahl wir ein paar Sekunden später treffen werden. Das hat praktische Folgen, die wir uns zu Herzen nehmen sollten: Spielen Sie mit niemandem Schere, Stein, Papier um Geld, wenn Sie in einem Kernspintomographen liegen!20 Die Tatsache, dass unsere Entscheidungen Ereignisse in unserem Gehirn darstellen, die von vorhergehenden Ereignissen in unserem Gehirn verursacht werden, die wiederum von ihnen vorhergehenden Ereignissen im Gehirn hervorgebracht werden, und selbst die Tatsache, dass diese Ereignisse „prinzipiell“ vorhersagbar sind, auch wenn dies praktisch noch nicht möglich ist – beides hat einfach nicht zur Konsequenz, dass unser freier Wille eine Illusion ist, es sei denn, Sie definieren Willensfreiheit so, dass dies trivialerweise daraus folgt. Aber dann liegt die Beweislast bei Ihnen, zu zeigen, warum Willensfreiheit, so definiert, irgendjemanden interessieren sollte außer Theologen und Philosophen, die zu viel Zeit haben.
Nun noch eine weitere Reise über die fünfhundert Jahre alte Brücke: Die Theologen zu Erasmus’ Zeit machten sich Sorgen über Gottes Vorherwissen und Seine Macht (wenn Er sie nutzte), die Entscheidungsfindungen Seiner Kreaturen zu manipulieren. Wie das praktisch vonstatten gehen sollte, blieb natürlich ein Rätsel, ein bequemes Geheimnis, weil es den Theologen erlaubte, alle möglichen subtilen Unterscheidungen zu erfinden, die – wie sie mit einem gehörigen Grad an Überzeugungskraft behaupten konnten – die Rolle des selbstverantwortlich Entscheidungen treffenden Menschen nicht völlig aufsogen. Diesen theologischen Luxus haben wir nicht mehr; wir gehen den neuronalen Mechanismen auf den Grund, auf denen menschliche Entscheidungsprozesse beruhen, und die Standards für die wissenschaftliche Argumentation sind erheblich anspruchsvoller als in der Theologie, wo man die Regeln mehr oder weniger selbst erfinden kann, während man fortschreitet. Als Luther behauptete, dass Gott unseren Willen kontrolliere, gab es prinzipiell keine Möglichkeit, dies empirisch zu testen, eine Tatsache, die Luthers Behauptung vor der Falsifikation schützte, es aber auch seinen Nachfolgern leichtmachte, ihm seine Schlussfolgerung zuzugestehen und gleichwohl davon überzeugt zu sein, dass sie in Wirklichkeit ihren Willen selbst kontrollierten. Wer vermochte das schon zu entscheiden? Ganz im Gegensatz dazu können Sie, wenn unsere Neurochirurgin Ihnen sagt, sie kontrolliere Ihren Willen, sie einfach entschlossen widerlegen – wenn Sie nicht zu sehr von ihrem weißen Arztkittel und ihren extravaganten Apparaturen beeindruckt sind –, und sollte sie Recht behalten, tun Sie natürlich gut daran, zu hoffen, dass ein paar gute Freunde Sie ihren Klauen entreißen. Aber bis dieser vorstellbare, logisch mögliche, doch außerordentlich unwahrscheinliche Zustand der Neurotechnologie eingetreten ist, können Sie ziemlich sicher sein, dass Ihr freier Wille ganz und gar keine Illusion ist.
2012 Erasmus Prize Lecture, reprinted with the kind permission from the Praemium Erasmianum Foundation
Literaturangaben
Ayer, A. J. (1954). „Freedom and Necessity“, in: ders., Philosophical Essays, New York, S. 3-20.
Clegg, L. (2012). „Protean Free Will“, online unter: http://authors.library.caltech.edu/29887/.
Dennett, D. und L. LaScola (2010). „Preachers Who Are Not Believers“, Evolutionary Psychology, 8, S. 121-150.
Denys, D. et al. (2010). „Deep Brain Stimulation of the Nucleus Accumbens for Treatment-Refractory Obsessive-Compulsive Disorder“, Arch. Gen. Psychiatry, 67, S. 1061-1068.
Ehrman, B. (2005). Misquoting Jesus. The Story Behind Who Changed the Bible and Why, San Francisco, New York.
Erasmus von Rotterdam (1967-1975). Ausgewählte Schriften. Ausgabe in 8 Bänden. Lateinisch und Deutsch, hrsg. von W. Welzig, Darmstadt.
Good, J. J. (2003). The Dishonest Church, Scotts Valley, CA.
Greenblatt, S. (2011). „The Answer Man“, New Yorker, 8. August 2011, S. 28-33.
Greene, J. und J. Cohen (2004). „For the Law, Neuroscience Changes Everything and Nothing“, Philos. Trans. R. Soc. Lond., B, 359, S. 1775- 1785.
Harris, S. (2012). Free Will, New York.
Miles, J. B. (2011). „‚Irresponsible and a Disservice‘: The Integrity of Social Psychology Turns on the Free Will Dilemma“, British Journal of Social Psychology, 50, S. 1-14.
Morris, E. A. (2001). „Calvinism and Free Will“, online unter: http://www.noble-minded.org/calvinism.html.
Smilansky, S. (2000). Free Will and Illusion, Oxford.
Smilansky, S. (2002). „Free Will, Fundamental Dualism, and the Centrality of Illusion“, in: The Oxford Handbook of Free Will, hrsg. von R. Kane, Oxford, S. 489-505.
Soon, C. S. et al. (2008), „Unconscious Determinants of Free Decisions in the Human Brain“, Nature Neuroscience, 11, S. 543-545.
Waller, B. (2001). Against Moral Responsibility, Cambridge, MA.
Wolfe, T. (2000). „Sorry, but Your Soul Just Died“, in: ders., Hooking Up, New York, S. 89-109.
* Dieser Aufsatz wurde unter dem Titel „Erasmus: Sometimes a Spin Doctor is Right“ für die Stiftung Praemium Erasmianum anlässlich der Verleihung des Erasmus-Preises 2012 an Daniel Dennett verfasst.
1 Greenblatt 2011.
2 Die Zeit meinte es nicht gut mit Erasmus’ zwei Gedankenexperimenten (Erasmus von Rotterdam 1967-1975, Bd. 4, S. 165 ff.). Das eine handelt von einem König, der einen Mann unbewaffnet in den Krieg schickt und dann „seine Hinrichtung befiehlt wegen des unglücklichen Endes des Krieges“. Erasmus stellt sich vor, dass Letzterer sich beschwert: „Warum strafst du an mir, was durch deine Schuld geschehen ist? Wenn du mich in gleicher Weise ausgestattet hättest, hätte ich in gleicher Weise gesiegt.“ Im anderen Gedankenexperiment „läßt ein Herr einen unwürdigen Sklaven frei“.