Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman). Karl May

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Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman) - Karl May


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Er war unschuldig, und seine Unschuld will ich beweisen.«

      »Wird Ihnen das gelingen?«

      »Ich hoffe es.«

      »Haben Sie an dieser Aufgabe bereits gearbeitet?«

      »Nein. Und das ist eine große, große Unterlassungssünde, welche ich mir vorzuwerfen habe. Ich habe es für unmöglich gehalten, einen Faden zu finden. Aber heute, am Tage, da ich die Macht und Unendlichkeit der Gefühle erkannt habe, erkenne ich ebenso, daß diese Aufgabe zu lösen sei.«

      Er lächelte leise, fast mitleidig vor sich hin und fragte:

      »Wollen Sie einen Verbündeten haben?«

      »Wen?«

      »Mich!«

      »Sie? Sie wollen sich mir anschließen, Durchlaucht?«

      »Sehr, sehr gern. Habe ich doch bereits seit Langem an der Lösung dieser Aufgabe gearbeitet.«

      »Sie?« fragte sie abermals erstaunt.

      »Ja. Aus welchem Grunde glauben Sie wohl, daß ich Indien verlassen und mich hier angekauft habe?«

      »Um die Anschauungen und Errungenschaften des Abendlandes kennen zu lernen.«

      Er zuckte die Achsel; diese Bewegung war eine beinahe verächtliche zu nennen.

      »Wohl dem Morgenländer, der diese Errungenschaften und Anschauungen lieber gar nicht kennen lernt,« sagte er. »O nein. Ich bin aus einem ganz anderen Grunde hierher gekommen. Gustav Brandt ist mein Freund. Er lechzt förmlich nach der Kunde, daß seine Unschuld an den Tag gekommen sei. Er sehnt sich mit dem Heimweh des Schweizers nach seinem Vaterlande, und er darf doch nicht in dasselbe zurück, bis der wirkliche Thäter gefunden ist. Darum, und nur aus diesem Grunde habe ich mich aufgemacht. Ich bin gekommen, seine Unschuld an den Tag zu bringen, und sollte es mich Millionen kosten. Ich bin reich, fast unendlich reich und kann dieses kleine Opfer bringen.«

      Da streckte sie ihm beide Hände entgegen und sagte:

      »Wenn es so ist, so wollen wir Verbündete sein, treue Freunde und Verbündete für immerdar. Sie haben mir heute Eigenthum und Leben gerettet, o viel, viel mehr noch als das Leben. Ich wäre des elendesten Todes gestorben, den ein Weib nur sterben kann. Ich bin Ihnen eine Dankbarkeit schuldig, welche von der Erde bis zum Himmel reicht. Sie und Gustav Brandt sollen die Beiden sein, für welche ich leben und wirken will. Und da mein Wirken dasselbe Ziel besitzt, wie das Ihrige, so wollen wir vereint zu einander stehen, solange wir denken und überhaupt leben.«

      Sie war ganz begeistert. Ihre Augen strahlten, und auf ihren Wangen lag die Röthe der schönsten Herzensinspiration. Wie sie so vor ihm stand, war sie von wahrhaft hinreißender, siegreicher Schönheit. Er suchte nach einem Zufluchtsmittel und fand es, indem er sagte:

      »Ist es so, Baronesse, so wollen wir sein wie Schwester und Bruder, welche fürs Leben treu zu einander halten.«

      »Ja, das wollen wir sein, Durchlaucht, Bruder und Schwester.«

      »So habe ich auch den Muth, mich des letzten Auftrages zu entledigen, den er mir beim Scheiden für Sie an das Herz legte.«

      »Ein Auftrag? Was ist es? Sprechen Sie, Durchlaucht.«

      »Er sagte zu mir: ›Und wenn sie nicht glaubt, daß ich ihr vergeben habe, wenn sie meint, daß die Farben ihres lieben, süßen Bildes in meinem Herzen verblichen und erloschen sind, so bitte ich, ihr Dieses von mir zu bringen.‹ Dabei erhielt ich von ihm einen Beweis seiner Herzenstreue, den ich Ihnen übergeben soll.«

      Man sah ihr die freudige Spannung an, in der sie sich befand.

      »Was war es, was er Ihnen gab?« fragte sie. »Schnell, schnell!«

      »Es war – ein – – ein Kuß,« antwortete er.

      Sie erglühte so, daß sie die Augen schließen mußte. Sie stand vor ihm in einer so hinreißenden Schönheit, daß er im Stande gewesen wäre, sie an seine Brust zu reißen und ihr Alles, Alles zu gestehen. Aber er beherrschte sich und fragte:

      »Soll ich ihm diese Gabe nicht wiederbringen und ihm sagen, daß sie nicht angenommen worden ist?«

      Da blickte sie, zwar hochrothen Antlitzes, aber freundlich und gewährend auf den vor ihr Sitzenden herab, streckte ihm die Rechte entgegen und antwortete:

      »Nein, das sollen und dürfen Sie nicht. Eine solche Gabe muß angenommen werden. Hier, Durchlaucht, es sei erlaubt!«

      Während die Rechte immer noch in seiner Hand lag, legte sie die Linke auf seine Schulter und bog sich zu ihm nieder.

      Sein Herz drängte sich in seine Augen. Er fragte mit bebender Stimme:

      »Befehlen Sie die Wange oder den Mund?«

      »Was Sie wollen, Durchlaucht!« flüsterte sie. »Nicht Sie sind es ja, sondern Gustav ist es, der mich küßt.«

      »Ja, Gustav soll es sein. Ich will denken, ich sei er. Also den Mund, Baronesse, den Mund, den süßen, schönen, lieben Mund.«

      Er schlang den Arm um sie und zog sie weiter zu sich herab. Ihre Lippen fanden sich zu einem langen, langen Kusse. Sie hielt die Augen geschlossen, um sich der süßen Täuschung hinzugeben, daß es der Geliebte sei, den sie küsse. Er aber ließ den offenen Blick auf ihr ruhen, und es war ihm, als ob er seinen Mund nie, nie wieder von diesen Lippen lassen könne.

      Da glitt ihr der eine Fuß aus, sie sank fast in seine Arme und legte die Linke um seinen Nacken. Er schlang beide Arme um ihre Taille, zog sie innig, innig an sich und gab ihr Kuß um Kuß und Kuß auf Kuß. So lagen sie Brust an Brust in süßer, seliger Selbstvergessenheit, bis sie sich endlich ermannte und aus seinen Armen wand.

      »War der Kuß Gustav's auch ein solcher?« fragte sie halb verschämt und halb vorwurfsvoll.

      »Es wäre ein solcher gewesen, wenn er direct an Sie hätte gerichtet sein können.«

      »So mag es vergeben sein. Wir sind ja Bruder und Schwester, Durchlaucht. Nun aber unser Bund geschlossen ist, lassen Sie uns zu den Einzelheiten unserer Aufgabe übergehen!«

      »Ich bin bereit. Haben Sie schon nachgesonnen, um einen Plan zu finden, welcher ein Resultat verspricht?«

      »Leider nein.«

      »Wollen wir die Unschuld unseres Freundes beweisen, so kann es uns nur dadurch gelingen, daß wir den wirklichen Thäter entdecken. Haben Sie eine Muthmaßung, wo er zu suchen sei?«

      »Ich möchte mit Ja antworten.«

      »Wen meinen Sie?«

      »Meinen Cousin.«

      »Franz von Helfenstein?«

      »Ja.«

      »Haben Sie Anhaltepunkte?«

      »Nur dieselben, welche Gustav und sein Vertheidiger während der Verhandlungen gaben!«

      »Ich kenne sie. Sie hatten leider keinen Erfolg.«

      »So dürfen wir, wenn wir sie jetzt aufstellen, noch viel weniger auf Erfolg rechnen.«

      »Das ist sehr richtig. Aber wir finden vielleicht Anknüpfungspunkte, welche uns spätere Zeiten bieten. Meinen Sie vielleicht, daß Ihr Cousin bei beiden Mordthaten der Schuldige sei?«

      »Ich möchte es behaupten.«

      »Wenn es so in der Wahrheit ist, so hat er einen ungeheuren Scharfsinn zu entwickeln gehabt.«

      »Der Zufall ist ihm zu Hilfe gekommen!«

      »Mag sein. Aber trotzdem bin ich der festen Ueberzeugung, daß nicht Zufall und Scharfsinn allein Alles gethan haben können.«

      Sie wurde aufmerksam und fragte:

      »Wie meinen Sie das? Was könnte außer Zufall und Berechnung noch vorhanden gewesen sein.«

      »Mitschuldige.«

      Sie


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