Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman). Karl May

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Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman) - Karl May


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ihrem lieben Wilhelm eine kleine Weihnachtsfreude machen wollte – und nun war die Arbeit von Monaten umsonst gewesen. Nichts hatte sie erhalten als Schande, Spott und Demüthigung! Fast getraute sie sich nicht, zur Thür einzutreten. Die Familie wartete mit Schmerzen auf das Geld.

      In der Stube herrschte bereits eine sehr gedrückte Stimmung. Die kleineren Geschwister hatten sich in die Ecke niedergeduckt; der Vater hustete, als wolle es ihm die Brust auseinander treiben, und Robert sah trüben Antlitzes zum Fenster hinaus. Als sie eintrat, drehte er sich um.

      »Endlich!« sagte er. »Ich hoffe, daß Du glücklicher gewesen bist als ich, liebe Marie!«

      »Warst Du nicht glücklich?« hauchte sie.

      »Nein. Der Herr war verreist. Man hat die Noten behalten, ohne daß ich Geld bekam. Ich soll morgen oder in einer Woche oder noch später wiederkommen.«

      »Gott, o Gott!« schluchzte sie. »Wir sind verloren. Wie soll da der Herr Baron die Miethe erhalten!«

      Sie erzählte nun, was ihr widerfahren war. Der Vater jammerte laut, die Geschwister weinten. Einer aber sagte nichts, nämlich Robert. Er ging in die Kammer und holte seine Kette. Er wickelte sie in das nächste Stück Papier, welches er fand, und schlich sich still davon. Unten auf der Straße faltete er die Hände und betete:

      »Herrgott, hilf nur dieses Mal! Gieb dem Salomon Levi einen guten Augenblick, daß er mir so viel bietet, wie ich brauche!«

      Er schlich sich an den Häusern hin, bis er des Juden Thür erreichte. Sie war verschlossen, und er klopfte. Die alte Rebecca öffnete ein Wenig, und als sie hörte, was er wolle, ließ sie ihn ein. Er mußte durch das vordere Zimmer in das Cabinet, in welchem gestern Abend die Frau des Schließers gewesen war. Dort befand sich Salomon Levi, der Jude, und – Judith, seine Tochter. Sie war auf einige Augenblicke herabgekommen, um einiger häuslichen Fragen willen. Ihr Auge fiel auf das übergeistigte, schöne, aber vor Sorgen bleiche und hagere Gesicht des Jünglings.

      »Was will der junge Herr?« fragte der Alte.

      »Würden Sie mir auf eine goldene Kette einen Vorschuß geben?« fragte Robert.

      »Was ist sie werth?«

      »Ich verstehe nicht, das zu schätzen. Hier ist sie!«

      Er gab sie hin, mitsammt dem Papiere, in welches er sie eingewickelt hatte. Der Alte setzte die Brille auf, wickelte die Kette aus, warf das Papier achtlos auf den Tisch und untersuchte die Erstere. Als er damit zu Ende war, warf er einen scharfen, beinahe stechenden Blick auf Robert und fragte ihn:

      »Ist die Kette Ihr Eigenthum?«

      »Ja.«

      »Von wem haben Sie sie erhalten?«

      »Jedenfalls von meinen Eltern.«

      »Ist denn Ihr Vater ein Baron, ein Freiherr?«

      »Ich weiß es nicht. Ich bin ein Findelkind und habe, als man mich fand, diese Kette um den Hals getragen.«

      »Das kann ein Jeder sagen! Haben Sie bei sich einen Schein, welcher beweist die Wahrheit Ihrer Worte?«

      »Ja, hier ist er!«

      Robert hatte vorsichtiger Weise diese Legitimation zu sich gesteckt und gab sie dem Alten. Dieser prüfte sie und sagte dann:

      »Der Schein ist in Ordnung. Wieviel wollen Sie haben?«

      »Wieviel können Sie mir geben?«

      »Zehn harte, blanke, schwere Thaler.«

      »Das reicht nicht hin!«

      »Wie? Was? Das reicht nicht hin für einen so jungen Herrn? Wozu wollen Sie brauchen dieses schwere Geld?«

      »Herr Levi, mein Pflegevater ist arm und krank und ich habe jüngere Geschwister, welche noch nichts verdienen können. Wir sind den Hauszins schuldig und haben nichts zu essen. Ich brauche weit mehr als nur zehn Thaler!«

      Da trat auch Judith näher, um sich die interessante Kette anzusehen. Zugleich fiel ihr Blick auf das Papier. Die Anordnung der Zeilen, welche darauf geschrieben waren, bewies ihr, daß es ein Gedicht sei. Sie nahm es auf und betrachtete es. Kaum aber hatte sie die ersten Zeilen gelesen, so rief sie:

      »Was ist das?

      Wenn um die Berge von Befour

      Des Abends dunkle Schatten wallen!

      Das ist ja das Gedicht des Hadschi Omanah! Doch nein, es lautet hier anders, ganz anders!«

      Sie las weiter und weiter. Als sie geendet hatte, fragte sie:

      »Wer hat das geschrieben?«

      »Ich,« antwortete Robert.

      »Wovon haben Sie es abgeschrieben?«

      »Es ist keine Abschrift, sondern Original.«

      »Original? Wer hat es gedichtet?«

      »Ich, mein Fräulein.«

      Sie richtete die dunklen, sprühenden Augen groß und voll auf ihn, musterte ihn genauer, als es vorher geschehen war, und fragte:

      »Sie? Wirklich Sie? Dann ist es blos ein Zufall, daß Sie Ihrem Vorbilde fast gleichgekommen sind. Es ist ein Pendant zu der ›Nacht‹ von Hadschi Omanah!«

      »Ja, es ist ein Pendant zu der ›Nacht‹ von Hadschi Omanah. Das erstere Gedicht ist die ›epische Nacht‹ und dieses hier die ›tragische Nacht des Südens‹, jedoch nicht nur das Erstere, sondern Beide sind von Hadschi Omanah.«

      »Wie können Sie das sagen? Dann wären ja Sie dieser Dichter der Heimaths-, Tropen- und Wüstenbilder.«

      Seine Wangen rötheten sich, und seine Gestalt schien sich zu strecken.

      »Nicht wahr, Fräulein, ich sehe nicht aus wie ein Dichter?« fragte er. »Wie kann ein Dichter zur Leihbank seine Zuflucht nehmen? Mein Vater stirbt an der Auszehrung, und meine Pflegegeschwister weinen und jammern vor Noth. Und doch ist mein Pseudonym Hadschi Omanah!«

      Da trat sie zu ihm heran, legte ihm beide Hände auf die Achseln und sagte in tiefen, vollen Brusttönen:

      »Hadschi Omanah wären Sie? Gefunden hätte ich meinen Lieblingsdichter! Können Sie das beweisen?«

      Ihre Augen leuchteten, ihre Wangen glühten, und ihr Busen hob und senkte sich unter dem Sturme der Gefühle, welche in diesem Augenblicke ihr Herz durch flutheten. Er hob das treue, ehrliche und doch so geistvolle Auge zu ihr und antwortete:

      »Wie soll ich es Ihnen beweisen, wenn Sie es mir nicht glauben? Ich müßte Sie zu meinem Verleger führen, um es mir von ihm bestätigen zu lassen.«

      »Nein, das ist nicht nöthig! Ich will es wissen, ich muß es wissen, ob Sie der Geist sind, den ich bewundert habe und der es meiner Seele angethan hat. Und ich werde es erfahren, gleich jetzt, sofort! Hier liegt Papier, und hier ist Tinte und Feder. Soll ich Ihnen ein Sujet geben? Können Sie mir sofort ein Gedicht schreiben?«

      Er blickte ihr selbstbewußt lächelnd in das erregte Gesicht und antwortete in seinem milden, freundlichen Tone:

      »Versuchen Sie es, mein Fräulein!«

      »Nun wohl! Ich werde Ihnen ein Sujet geben, ein Sujet, welches Ihren Eigenheiten, Ihrer wundervollen Sprache, Ihren funkelnden Reimen ganz angepaßt ist: Der Seesturm. Denken Sie sich die Fee des Meeres auf dem stillen, tiefen Meeresgrunde. Sie hat noch nie ein menschliches Gefühl im Herzen getragen, bis sie einst glückliche Menschenkinder belauschte. Da begann es auch in ihrem Herzen zu wogen und zu wallen; es gährte, spritzte, zischte, es donnerte und – wissen Sie, was ich meine?«

      »Ja, Fräulein.«

      »So nehmen Sie hier Papier!«

      »Das ist nicht nöthig. Ich werde extemporisiren.«

      »Bringen Sie das fertig?«

      »Ich möchte Den, welcher nicht Herr der Sprache ist, auch niemals einen Dichter nennen!«


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