Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Franz Werfel

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Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman - Franz Werfel


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. Zehn Wochen Sommerferien liegen vor mir, eine Unendlichkeit von Faulheit, Neugier, Körperlust und Seelenglück: Schwimmen im See, Segeln, wildes Spiel mit den andern Buben, Kroquet-Turnier, Wagenfahrten, Ausflüge, Bergbesteigungen, Picknicks, ungewöhnliche Mahlzeiten in kleinen Wirtshäusern, Sommerfeste, Coriandolischlachten, Feuerwerk, Illuminationen, Rasten auf weiten Almwiesen, Schlaf an Waldrändern, die nach Zyklamen duften und nach dem würzigen Koniferenboden unzähliger gestorbener Herbste. Ah, wieviele Abenteuer fühl ich auf mich warten, Abenteuer . . . Es ist noch immer der fünfzehnte Juli . . . Meine Herrschaften, warum fällt plötzlich während einer Minute dieses unerschöpflich langen Gnadentags dem Zwölfjährigen ein, daß an demselben Fensterchen, an dem er steht und auf die ewigen, schattenwerfenden Berge starrt, es einmal nicht mehr der fünfzehnte Juli sein wird, sondern der fünfzehnte September und alle die Abenteuer des Glücks und der Pflichtlosigkeit, die jetzt vor ihm liegen, hinter ihm liegen werden, und wie ist das geschehn, im selben Augenblick ist der fünfzehnte September auch wirklich da . . . Verstehn Sie mich, verstehn Sie mich?“

      Ich wußte nicht, ob sie mich verstanden. Keine Antwort zerriß die Nacht vor meinen geschlossenen Augen. Da versuchte ich, es an einem andern Beispiel zu erklären:

      „Wir hatten in unserer Welt eine prächtige Einrichtung, Oper hieß sie. Sie werden darüber wohl nichts mehr vernommen haben . . . Oper . . . Bitte hilf mir, B.H.!“

      „Sympaian“, sagte B.H., verdolmetschend.

      „Sympaian“, wiederholte der Chor einiger Stimmen, durch den bekräftigenden Klang andeutend, daß ihm die Sache durchaus nicht unbekannt sei.

      „Sympaian oder Oper, gleichviel“, hörte ich mich hinter schwarzen Schleiern sagen. „Ich war mehr als ein Enthusiast, ich war ein Opernfanatiker. Die Arie ,Celeste Aida’ des Tenors ist gesungen. Jetzt wird die breite Melodie der Amneris eintreten ,Quale insolita gioiaʻ, dann das atemlose ,Forse lʻarcano amore scopri chè m’arde in core’, damit sich schließlich auf der schaukelnden und verschobenen Stütze eines synkopierten Hornstoßes und eines kleinen, leisen Paukenwirbels das sinnbetörende, ja schwindelerregende Terzett entwickele, das gekrönt ist von dem schmerzlich stolzen Sangesbogen des Soprans: ,Ah no, sulla mia patria non geme il cor.’ Das alles kenne ich Takt für Takt, dem allen warte ich, bange ich sehnsuchtsvoll entgegen, es noch einmal zu genießen und zu verewigen im Seelengenuß. Doch im Augenblick, wenn die Melodie sich entfalten will, erfaßt mich die Herzensangst, daß sie im Nu zu Ende sein werde und vorbei, und sie ist schon vorbei in mir, ehe ihre Begleitung im Orchester noch recht begonnen hat . . . Verstehn Sie mich, verstehn Sie mich? . . .“

      Wieder Schweigen. Ich öffnete die Augen noch immer nicht:

      „Meine Zeit, Messieurs-Dames, war sehr kurz, an der Ihren gemessen. Sie glich in mancher Hinsicht jenen Melodien, die wir von unsern Vorfahren überliefert bekamen, in deren Anfang das Ende und in deren Ende der Anfang beschlossen war, und die, während sie noch abliefen, schon ausgeatmet hatten, weil wir sie als süße Erinnerung in uns trugen: ,Oh terra addio, addio o valle di pianti’. Die Zeit brannte von beiden Enden auf die Mitte zu, und die Mitte war mein unbeschütztes und ausgesetztes Ich. Mit dreißig Jahren versetzte ich mich ins vierzigste, ich der leichtsinnigste, gewissenloseste Sündenlümmel, den ich kenne, mit vierzig ins fünfzigste, immer dachte ich zurück oder vorwärts, nie war’s Gegenwart auf meiner Uhr, und als plötzlich alles um war, hatte es noch kaum begonnen und doch seit jeher gedauert. Verstehn Sie mich? . . .“

      Ich öffnete die Augen. Die wunderschöne Ahnfrau näherte sich mir . . . Ich wollte aufspringen. Sie winkte mir mit ihrer Marmorhand, der man die Eiseskälte ansah, sitzen zu bleiben.

      „Ich verstehe, Seigneur“, sagte sie in ihrem zynisch schwingenden Kontra-Alt, „daß Sie sich leidenschaftlich ans Leben geklammert haben in den Anfängen der Menschheit . . .“

      Darauf ich, die persönliche Wahrheit vermeldend:

      „Oft leidenschaftlich ans Leben geklammert, Madame, oft leidenschaftlich aus dem Leben fortgewünscht . . . Ich nehme an, daß man auch heute noch fühlt, was das Erwachen eines Liebenden am Morgen ist, wenn ihm der Verlust einer Geliebten, einer Mutter, eines Kindes mit einem Schlage bewußt wird . . . Das Erwachen eines Verurteilten im Untersuchungsgefängnis . . . Das Erwachen im Schützengraben um vier Uhr morgens vor dem Angriff . . . Wir waren bedroht, immer bedroht vom Verlust und vom extremen Schicksal des Ichs oder des uns verbundenen Dus . . .“

      Das ,extreme Schicksalʻ war ein Euphemismus. Ich war schon so weit, daß ich um keinen Preis das nackte Wort ,Todʻ gebraucht hätte. Da sagte der Beständige Gast, der mit dem charakteristischen Barockkopf:

      „Nun, das ist bei uns wirklich anders, denn wir gehn den letzten Weg freiwillig und zu Fuß.“

      Jetzt stand ich auf und verbeugte mich:

      „Nicht ich habe das erklärende Wort gesprochen, sondern Sie, mein Herr. Ja, in der Freiwilligkeit und in der Vorherbestimmung der eliminierenden Wendung liegt der ganze Unterschied. Unsere Nerven waren tagaus, tagein terrorisiert vom vorhergeschen Unvorhergesehenen. Jeder Atemzug unserer Zeit war bedroht. Inzwischen aber hat das Menschengeschlecht seine größte Tat vollbracht. Sie haben die wilde Zeit domestiziert, Messieurs-Dames . . . Sie sind weder von außen noch von innen mehr bedroht.“

      „Wir sind bedroht“, sagte Io-Fagòr langsam, nachdem eine schwangere Pause vorübergegangen war. Alle sahen sich bedeutsam an. Die Elfenbeinfarbe ihrer Gesichter schien um einen Schatten bläulicher zu sein.

      „Wir sind bedroht, Seigneur“, fuhr der Brautvater mit gedämpfter Stimme fort, „und zwar grausamer und schrecklicher als Sie es jemals waren.“

      „Überschätzen Sie den Gegensatz der Generationen nicht“, suchte ich zu beschwichtigen, an die Worte denkend, die er vorhin über die Jugend gesprochen hatte. „In manchen Zeiten verschärft sich die natürliche Intention der Kinder gegen die Eltern. Das ist keine ernste Bedrohung, das ist eine Form der gesunden Entwicklung. Da hatten wir bei uns einen schwer lesbaren Philosophen, Hegel hieß er. Seine Theorie von der geschichtlichen Dialektik ist aber trotz allem ein Gemeinplatz geworden. Die Thesis ruft die Antithesis hervor, das Pendel muß von einer auf die andre Seite schwingen, nur damit die Sache weitergehe.“

      „Mit dem Gegensatz von Eltern und Kindern hat es gar nichts zu tun“, versetzte Io-Fagòr und schüttelte seinen goldenen Kopf.

      „Sollte etwa eine Naturkatastrophe drohen?“ forschte ich weiter, von ungebührlicher Wißbegier verführt. „Sie werden doch Mittel genug besitzen, sich vor Vereisungen oder Überflutungen zu schützen.“

      „Diese Mittel besitzen wir wohl“, nickte der Hausweise, „aber nicht eine solche Katastrophe ist es, die uns schreckt.“

      Ich suchte B.H.s Blick. Er wich mir aus.

      „Weiß er noch nichts?“ fragte der Hausherr.

      „Nein, er weiß noch nichts“, erwiderte B.H.

      Das Mahl war zu Ende. Die Runde um das beunruhigend ausdrucksvolle, aber abstrakte Kunstwerk hatte sich aufgelöst, einem Lächeln und leichten Kopfnicken Io-Rasas, der Hausfrau, gehorchend. Die schöngesichtigen und feingestaltigen Männer und Frauen bildeten zwei streng getrennte Gruppen. Das war völlig im englischen Stil und verführte mich zu dem flüchtigen Einfall, die Welt müsse einst vor vielen Jahrzehntausenden durch die Angelsachsen unifiziert und dominiert worden sein, und davon sei diese puritanische Nachtischsitte noch in dieser fernsten Zukunft erhalten geblieben, eine prüde und fast heuchlerische Sitte übrigens, die angesichts der mangelnden oder überwundenen Leidenschaften auch ihren zwingenden Sinn verloren hatte.

      Türen öffneten sich lautlos, und man sah in drei oder vier anstoßende Räumlichkeiten, deren jede von einem warmen, aber anders kolorierten Lichte erfüllt war. Die polychrome Beleuchtung schien in der gegenwärtigen Zivilisation wahrhaftig die Rolle der Haute Couture übernommen zu haben, denn während die lieblichen Figuren meiner neuen Mitmenschen mit ihrem schönschwingenden Schritt sich in den verschiedenen Salons verloren, wurden sie von der jeweiligen Lichtquelle jedesmal neu und andersfarbig kostümiert. Hier muß ich in meinen Bericht eine kleine persönliche Anmerkung einschalten. Als Astigmatiker


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