Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Franz Werfel

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Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman - Franz Werfel


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in dieser Welt befand, hatte sich nicht nur mein Unterscheidungsvermögen für die menschlichen Gesichter, sondern sogar mein physiognomischer Instinkt in hohem Grade geschärft. Ich hätte B.H. eine bündige Antwort in wenigen Worten geben können: „Ein verwöhnter Junge aus reichem Haus.“

      Mein Gott, schon das Wort „reich“ wäre ohne Sinn gewesen. Hier war jeder reich und infolgedessen keiner. Wurde irgendwo Hochzeit gehalten, wie hier bei unsern neuen Freunden, so übernahm das junge Paar am Tage nach der Hochzeit das Haus der Brauteltern. Für letztere stand seit längerer Zeit zumeist ein andres Haus bereit, denn da fünf und sechs Generationen zugleich lebten, war mittlerweile doch eines der vielen Häuser freigeworden, die dem Clan in der männlichen oder weiblichen Aszendenz angehörten. Im allgemeinen gab es stets mehr vakante Wohnhäuser als junge Paare, die nicht heiraten konnten, weil die Brauteltern sonst obdachlos sein würden. Auch sorgten die Ortsgemeinden dafür, daß ihre Bevölkerungszahl immer schön im rechten Verhältnis stand zu den notwendig gewordenen und daher durchgeführten Neubauten. Es war dies freilich eine leichte Arithmetik, da die Menschen fast keinen Wandertrieb zeigten und nur wenig Lust, ihren Wohnort zu wechseln. Wer hätte auch fröhlich reisen wollen, wenn es genügte, ein paar farbige Kügelchen in die richtigen Löchlein eines Spielzeugs zu lenken, um von einem Ende der Welt im selben Augenblick zum andern zu geraten, zumal jenes Ende sich von diesem durch nichts unterschied: überall dieselbe Ebene, überall derselbe eisengraue Rasenteppich, überall dieselben gehöftartigen Baumversammlungen, aus deren schwarzledrigem Laub die Wachszieher- oder Zuckerbäckerblüten schimmerten, überlebensgroßen und krankhaften Magnolien gleich. Die Vielfalt des Lebens — ausgenommen selbstverständlich der noch unbekannte Dschungel und sein säuisches Getümmel — lag nicht über, sondern unter der Erde, in jenen tiefen und weiten Aushöhlungen, die Häuser hießen, ohne Häuser in unserm alten Sinne zu sein, und die doch den schönen Ausdruck des archaischen Dichters Ibsen bewährten: „Heimstätten für Menschen.“ Es war darum auch eine der größten Freuden der neuen Familiengründer, diese Heimstätten nach eigenem Geschmack umzugestalten, das Unterste zu oberst zu kehren, nachdem die früheren Eigentümer, zusamt ihrem junggeselligen Stab von Wortführern, Hausweisen und Beständigen Gästen, die Schwelle verlassen hatten.

      Habe ich nicht kraft der Osmose und Penetration schon einiges zugelernt? Ich fühlte mich von meinem Vergil nicht mehr so abhängig. Mich durchdrang von Minute zu Minute deutlicher die Überzeugung, daß ich hier dem erfüllten Traume des Kommunismus gegenüberstand, und zwar ganz und gar auf aristokratischer Grundlage. Dabei war es offensichtlich, daß dieser Traum sich nicht jüngst, sondern vermutlich schon seit undenklich vielen Menschenaltern erfüllt hatte. Freilich, meine kommunistischen Freunde von damals, aus den Anfängen der Menschheit, hätten sich’s nur ungern dergestalt träumen lassen. Eine Welt ohne rote Fahnen, ohne marschierende Massen, ohne schwitzende Turner, ohne heisergekrächzte Redner, ohne dickbebrillte Atheisten, Panökonomisten, Materialisten, Positivisten, Pragmatisten, Maschinen- und Wissenschaftsanbeter, eine Welt ohne wedelnde Intellektuelle, die noch dümmer sind als sie sich stellen und, aus der echten Überzeugung ihres Neides heraus, par ordre de Mufti sich auch noch dümmer stellen als sie sind. Hingegen eine Welt der feudalsten Vereinzelung — lebte doch jede Familie gewissermaßen in ihrer Burg — eine Welt des Noli me tangere, eine Welt der strengen Distanz, des Edelmaßes, der Gepflegtheit, eine Welt, die zartfühlend und im Alltagston sogar mit prähistorischen Gespenstern umging, wie ich bestätigen konnte.

      Und dennoch war und blieb mein Eindruck von Fiancé Io-Do: Jeunesse d’orée. Der junge Mann hatte denselben feingliedrigen Körper wie alle andern Zeitgenossen, und doch schien er mir auf eine gewisse Weise aufgeblasen zu sein. Sein Mund war ein ganz klein wenig nach abwärts gebogen, und der Übergang von den Wangen zum Hals nicht scharf genug.

      „Seigneur ist zu dir gekommen, Sohn“, begrüßte ihn der liebe Herr Io-Solip, sein Vater.

      „Ich habe Seigneur schon lange erwartet“, erwiderte Bräutigam Io-Do.

      Wenn ich mich trotz meiner etwas anzweifelbaren Existenz mitzähle, so befanden sich in Io-Dos geräumigem Ruhegemach jetzt fünf Männer. Wer der fünfte war, das werde ich sofort verraten. Es herrschte verlegenes Schweigen. Ich sah mich nach irgendeinem Sitzplatz um und wartete darauf, daß Bräutigam Io-Do oder der liebe Herr Io- Solip mich bitten werde, Platz zu nehmen. Ob ich nun in meinen grob materiellen oder nur in meinen Astralleib eingekleidet war, gleichviel, ich fühlte mich sehr müde. Meine Glieder im schäbigen Abendanzug waren wie zerschlagen. Niemand aber bat mich, Platz zu nehmen und die mühsam aufrechte Stellung mit der angenehm zusammengeklappten des Sitzens zu vertauschen. B.H. hatte mich, wie über so vieles andre, auch darüber unbelehrt gelassen, daß man im gegenwärtigen Zeitalter nur in seltenen Fällen saß, d. h. das Vollgewicht des Körpers auf dem bequem gestützten Hintern ruhen ließ. Das Sitzen wirkte auf meine neu akquirierten Zeitgenossen etwa so, wie auf uns (ich verstehe unter „uns“ meine Leser und mich selbst nach meiner Wiederkehr) das Hocken von Südseeinsulanern gewirkt hätte, als eine tierhafte und beinahe unanständige Körperhaltung. Man setzte sich heutzutage nur bei ganz bestimmten Gelegenheiten hin. Die Grundstellungen des gegenwärtigen Zeitalters hießen Stehen und Liegen. Würdig des Menschen war allein die ungebrochene Linie, sei es vertikal, sei es horizontal. Wir, in unserm Uraltertum, waren noch zu nahe dem heiligen Akt der Aufrichtung gewesen, der den Menschen zum lotrechten Bipeden gemacht hatte, um uns nicht dann und wann von der ungebrochenen Linie in der gebrochenen (sitzend) ausruhen zu müssen. Ich begehrte in diesem Augenblicke ganz ungemein nach der gebrochenen Linie. Nichts aber half mir, denn ich konnte mich ja nicht gut auf das Ruhelager des Bräutigams sinken lassen.

      Was den fünften Mann in unsrer Mitte anbetrifft, so war er ein Mutarianer. Der Mann war übrigens ein Männchen, klein und zart, das weder einen silbernen noch einen goldenen Kopfaufsatz trug, sondern den glattpolierten Schädel in aufrichtigster Entblößung zeigte. Auch ging er weder häuslich nackt noch in Schleierstoffe gehüllt wie alle andern Leute hier, sondern steckte in etwas Braunem und Rauhem, das wir ohne weiteres als Kutte oder Habit würden bezeichnen können, hätten der geknotete Gürtelstrick und die Kapuze nicht gefehlt. Ich verbeugte mich tief vor dem Männchen, das mir dieser Kutte wegen einer geistlichen Person zumindest ähnlich zu sein schien, und ich hatte in gewissem Sinne recht geraten. Das Männchen starrte mich aus großen, merkwürdig hellen Augen an, in denen mein Bild nicht haftete.

      „Es ist ein Mutarianer“, erklärte B.H. laut, als wäre derjenige, von welchem seine Erklärung handelte, nicht mit uns im Raume anwesend:

      „Die Mutarianer sind mehr als ein Orden oder eine Brüderschaft, wie du sie zu deiner Zeit früher einmal gekannt haben magst. Sie haben die drei Urgelübde der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams vermehrt um die drei biologischen Gelübde der Blindheit, der Taubheit, der Stummheit, das heißt, sie sind im wirklichen Sinne und nicht nur im übertragenen blind, taub und stumm. Dahingegen haben sie das innere Auge und das innere Gehör so vollkommen ausgebildet, daß ihnen gar nichts verborgen bleibt, und daß sie alles Sichtbare und Hörbare, welches ihren Sinnen verschlossen ist, und mehr als nur dies, mittels ihrer inneren Hellsichtigkeit und Hellhörigkeit schärfer und deutlicher erkennen, als es den bloßen Sinnen möglich wäre. Ich will nicht zu viel darüber sagen“, schloß B.H. seine Ausführungen, aber der Bruder Mutarianer Io-Fra, wenn ich nicht irre, sieht uns hier beisammen ohne zu sehn und hört unsre Worte ohne sie zu hören, und er sieht und hört so verdammt viel, daß einem angst und bange werden könnte, nicht wahr, wertester Io-Fra . . . .?"

      Io-Fra, der Blinde und Taubstumme, lächelte mit seinem sonderbar glatten Gesicht zum Zeichen, daß er alles gesehn und gehört hatte und viel mehr noch, als was mit gesunden Augen und Ohren zu sehen und zu hören war. Ich konnte mir nicht helfen, die rosige Glätte seines Gesichtes gemahnte mich an frische Haut, die sich nach Verbrennungen ersten oder zweiten Grades wieder bildet. Des Bräutigams Vater, Io-Solip, das freundlichste und gutartigste Wesen, das mir bisher auf meiner Forscherfahrt begegnet war, ließ es sich nicht nehmen, seinerseits des Mutarianers Lob zu singen:

      „Sie finden alles, die Brüder Mutarianer, Seigneur“, sagte er.

      „Da können Sie das Wollknäuel oder das Riechfläschchen so listig verstecken wie Sie wollen, der Mutarianer geht unbeirrt drauf los und zieht’s heraus hinter der geheimsten Klappe. Sollen wir einen Versuch machen? .


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