Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Franz Werfel

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Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman - Franz Werfel


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Verlegenheit brachte und mir meine Aufgabe ziemlich erschwerte, sah ich doch während meines ganzen Aufenthaltes alles recht verschwommen und vielfach nur in Umrissen. Die einfache Lehre, die man aus diesem Umstand ziehen sollte: „Lasset euern Dahingegangenen die Brillen auf der Nase, denn man kann nie wissen . . .“ Da waren die Ägypter und andre Völker aus den Anfängen der Menschheit viel vorsichtiger. Sie gaben ihren Toten eine vollkommene, gebrauchsbereite Ausstattung mit, die selbst die von wohlhabenden Bräuten übertraf. Ach, mir wäre schon mit einem alternativen Hemd, zwei Kragen, zwei Taschentüchern und vor allem meiner Brille gedient gewesen.

      Ebensowenig wie von diesem Festmahl irgendwelche äußern Reste übriggeblieben waren, ebensowenig war man sich einer verdauenden Nachwirkung des Genossenen bewußt. Ich empfand weder Sättigung noch unbefriedigten Appetit, sondern nichts als eine leise und wohlige Erwärmtheit. Ja, ja, ich hatte mich nicht mit Materie vollgepampft wie in meinen guten Jahren (das hat auch seine Vorzüge gehabt), sondern mit Substanz, wenn nicht gar nur mit der Idee von Substanz, im winzigen Hohlmaß von dickem Kristall dargereicht. — Wenn es dem Leser bisher nicht selbst aufgefallen ist, so möchte ich sein Augenmerk darauf lenken, daß, wie zur Herstellung dieses Mahles, auch zu seinem Service eine Dienerschaft weder vonnöten war noch auch sich zeigte. Ich empfing das jeweilige Süppchen oder Tränklein im Becher jedesmal aus Io-Rasas Händen persönlich. Wie es dahin und wie die übrigen Becher in die Hände der andern Festgäste gerieten, das kann ich wegen oberwähnter Augenschwäche leider nicht angeben. Mit dem Auftrag einer solchen Berichterstattung sollte das nächstemal ein Verstorbener ohne jedes Gebrechen betraut werden.

      Was mich an mir selbst jedoch am meisten erstaunte, war, daß ich kein Bedürfnis nach Tabak oder Alkohol empfand und meine Tasche weder nach einer Zigarettenschachtel abtastete noch auch nach einem Gläschen Kognak umherlugte. Sollten hunderttausend Jahre der Entziehung wirklich genügt haben, mir diese Laster abzugewöhnen? Doch selbst wenn diese Entwöhnungszeit zu kurz gewesen wäre, hätte mir meine mitgeschleppte Süchtigkeit auch nichts genützt. Denn die neue Mitmenschheit, der ich im Augenblick meinen Besuch abstattete, rauchte nicht, noch trank sie Branntwein. Mit den überstandenen Leidenschaften schien auch der Trieb nach stimulierenden Giften verschwunden zu sein, jene Rate dionysischer Selbstzerstörung, auf die wir in unserer Jugendzeit stolz gewesen sind bis zum albernen Wetteifer in allnächtlichen Exzessen. Wie hatte ich doch alle braven Jünglinge verachtet, die nichts vertrugen und um elf Uhr bereits zu Bette lagen, und wie jene „Sieger des Lebens“ verehrt, die bis zum Morgengrauen mit hochgerötetem Gesicht und schwimmenden Augen von Taverne zu Taverne zogen; diese Verehrung des Trinkers und des Trinkens hatten freilich nicht nur wir geübt, sondern nicht minder unser halber Zeitgenosse Plato (uns nur um rund zweitausend Jährchen voraus), der seinem bekannten Geisteshelden Sokrates die Kraft verlieh, mit siebzig die Jüngsten untern Tisch zu zechen, und sich trotzdem ziemlich nüchtern ins Morgenrot hinauszuschleichen. Nun, nicht Plato und wir, sondern diese hier hatten recht, das bewies ihre ewige Jugend. Hatten sie eigentlich recht?

      Ich machte mich bei der ersten Gelegenheit an B.H. heran und verlangte flüsternd Aufklärung:

      „Da hast dus selbst gehört“, grollte ich. „Man wundert sich darüber, daß ich die wichtigsten Dinge nicht weiß. Man kann es einfach nicht begreifen, daß du mich ohne alle Informationen läßt. Sei doch bitte nicht so zurückhaltend oder eifersüchtig . . .!“

      Er sah sich zuerst betreten um, ehe er mich in einen der kleinsten Nebenräume lenkte, wo wir Hoffnung hatten, allein zu bleiben. Bevor wir aber dieses auffällig dunkle Salönchen erreichten, wurde ich von einigen der Herren angeredet und höflich ins Gespräch gezogen. Es war das leerste Gespräch, das sich denken läßt. So spricht man eben mit Materialisationen, und so antworten Materialisationen; dabei muß ich bekennen, daß die Gesellschaft mit vornehmstem Takte das Ungewöhnliche meiner Lage übersah und mir mit keinem Laut und Blick zu verstehen gab, daß ich keineswegs zu ihr gehörte, sondern lediglich aus der multituden Phantastik der Urwildnis in die große Vereinfachung der echten Kultur durch einen Lockruf verschlagen worden war. So kam man mir mit größter Eleganz zuvor, mich allzu minderwertig zu fühlen.

      Und dann saß ich endlich mit B.H. im bernsteinfarbenen Dunkel des winzigen Salons, der eigens für Geheimgespräche unter vier Augen bestimmt zu sein schien. Ich in meinem alten Frack, er in seiner kopierten Uniform als Leutnant des Ersten Weltkrieges, bildeten eine Insel, ein fossiles Einsprengsel des zwanzigsten Jahrhunderts in einer unermeßlich weit vorausgestürmten Zeit. Das ist beinahe schon mehr als ein Vergleich, denn wir beide aus der fernsten Vergangenheit saßen wirklich wie zwei ausgestorbene Insekten im Bernstein der Gegenwart. Es herrschte um uns die tiefste Stille, da kein Mensch heutzutage den Ton zu erheben pflegte, da kein rauher Kehllaut, kein gackerndes Gelächter, kein zackiges Durcheinander von Worten sich losrang, sondern die lebhafteste Unterhaltung selbst einer zahlreichen Gesellschaft wie hinter Stimmschleiern geführt wurde. Warum im übrigen mein Freund, der Wiedergeborene, Wickelgamaschen und jene alte Militärbluse trug, vergaß ich zu eruieren, obwohl ich es mir immer wieder vornahm. Ich muß gestehen, ich fühlte eine unbeschreibliche Entspannung, ja Erschlaffung, als ich mich jetzt wieder allein fand mit meinem lieben Freunde B.H. Niemand nämlich, der es nicht erlebt hat — und wer hat es außer mir erlebt? ―, kann die Anstrengung ermessen, welche der Aufenthalt in einer Zeit- und Raumfremde so hohen Grades von Leib und Seele fordert.

      „Also, was ist es, was ich nicht weiß, und was du mir unterschlägst?“ fragte ich und mußte ein krampfhaftes Gähnen der Erschöpfung unterdrücken.

      „Der Dschungel“, versetzte B.H. ebenso einsilbig wie dunkel.

      „Der Dschungel . . .? Was verstehst du . . .“

      „Wahrscheinlich etwas anderes als du“, unterbrach er mich, und auf seinen Zügen malte sich deutlicher Abscheu: „Ich aber verstehe darunter das säuische Getümmel . . . Ich verstehe darunter den betäubenden Lärm von Ringelspielen und Jahrmarktsorgeln . . . Und Gockelhähne und Hühner halten sie auch.“

      „Warum zum Teufel sollen sie keine Gockelhähne und keine Hühner halten . . .?“

      „Ja, das muß ich dir wohl übersetzen . . . Was würdest du zu deiner Zeit über einen Bauernhof gedacht haben, auf dem man Aasgeier oder mörderische Kondore als Haustiere züchtete . . .?“

      Nach einigem Hin und Her erfuhr ich fürs erste folgendes: Noch vor einigen Generationen und Jahrhunderten war der ganze Planet, bis auf die zum Teil eingeschrumpften Ozeane und seine toten oder unbewohnbaren Flächen, der herrschenden Gesittung unterworfen und mit jenem ergrauten aber federnden Rasenteppich allüberall bedeckt gewesen, der mir bei Betreten des Zeitalters zuerst aufgefallen war. Seit geraumer Zeit jedoch hatte sich dieses Bild verändert. Anfangs, vornehmlich „an den Rändern“ der Kultur, war etwas aufgebrochen, was mir in solchen unbestimmten und Abscheu verratenden Worten mitgeteilt wurde wie: „Dschungel“ oder „säuisches Getümmel“. Vorstellen konnte ich mir darunter nicht sogleich etwas, ich verstand aber bald, daß es sich bei dieser unheimlichen Sache nicht etwa nur um eine vegetative Unregelmäßigkeit handelte, sondern ebenso um eine menschliche Abirrung. Das Vegetative freilich blieb Ursache und Anstoß des späteren Mißgeschehens. Unerklärbar für die weltliche Wissenschaft und ihres Widerstandes spottend, hatten sich an verschiedenen Stellen der Erdoberfläche Sümpfe gebildet, die sich jedoch bald in blühende Wildnisse verwandelten, in smaragdgrüne Oasen, wo es wieder bergähnliche Erhebungen gab, duftige Täler, Seen, Flüsse und Bäche und hohe Bäume. Die Augen der Zeitgenossen wurden zu ihrem eigenen Entsetzen angezogen, wenn sie am Horizonte diese blauenden und so gefährlichen Eilande gewahrten.

      „Und was weiter?“ wunderte ich mich, als ich es bis zu diesem Punkte erfaßt hatte. „Ihr tut ja so, als ob diese prachtvollen Unterbrechungen eurer öden Ebene Blattern und Aussatz wären.“

      „Sie sind Blattern und Aussatz“, verwies mich B.H. „Weißt du denn nicht, daß das allerschlimmste auf dieser Welt Rückfälligkeit ist und Verführung zur Rückfälligkeit?“

      Ich erfuhr aus abgerissenen Worten und in Eile, daß dieser Inseln immer mehr würden, daß sich sogar hier in der Nähe Californias ein solcher Dschungel befinde, daß dort nicht nur eine abscheuliche Fauna und Flora entstanden, oder genauer: wiederentstanden sei, sondern, gräßlich


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