Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Franz Werfel

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Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman - Franz Werfel


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sagte B.H. jetzt mit der deutlichen Absicht, das etwas peinliche Gespräch über einen anwesenden Fünften zum Abschluß zu bringen, der blind und taub war und gerade deshalb schärfer sah und hörte, „die Mutarianer haben sich’s zur Pflicht gemacht, den Hochzeitern und Freiern während der großen Tage im Hause ihre Dienste und ihre Kenntnisse zu weihen . . . Und das erklärt alles!“

      Gewiß, dies erklärte alles. Weniger erklärlich aber war’s, daß Fiancé Io-Do gerade in diesem Augenblick ungeduldig, ja ärgerlich wurde:

      „Ich scheine ja hier die letzte Nebenperson zu sein“, rief er dem deutlich erschreckenden Herrn Io-Solip zu. „Man langweilt Seigneur mit lauter banalen Selbstverständlichkeiten und kommt gar nicht dazu, sich mit den wichtigen Dingen zu beschäftigen, die er bei mir findet. Ich bin schließlich der Bräutigam. Seigneur kann sich von einer Sekunde zur andern in Nichts auflösen, und dann hätte ich das Nachsehen, denn wozu habe ich mir ein paar historische Fragen zurechtgelegt? Und außerdem hat Seigneur noch gar nichts bemerkt . . .“

      Io-Do hob mit gekränkter Mattigkeit seinen Arm und wies auf die rechte Längswand des Zimmers. Niemals war mir die Fensterlosigkeit dieses Zeitalters so stark aufgefallen wie in dieser Sekunde. In dem ausgesprochen orangefarbenen Lichte dieses Gemachs — es ahmte, wie ich bald erfuhr, die Farbe des Mars-Planeten nach — entpuppte sich die rechte Längswand als die Schaufläche eines Museums. Den Sinn der verrosteten und verwitterten Altertümer freilich, die da dicht nebeneinander hingen, konnte ich nicht sogleich fassen. Es waren zumeist dünne, schmale Röhren und Röhrchen aus verschiedenen mir unbekannten Metallen gegossen, manche davon durchsichtig wie Glas oder durchscheinend wie Speckstein. Reste von elektrischem Draht, mit dem das untere Ende einiger dieser blasrohrartigen Dinger umwickelt war, deutete auf ein Zeitalter der Elektrizität hin, das dem meinigen nahegelegen sein mußte.

      „Es sind einige sehr kostbare Ausgrabungen darunter, noch aus den Perioden vor der Sonnentransparenz“, verkündete Herr Io-Solip nicht ohne Vaterstolz. Bei diesen Worten erst entdeckte ich unter all diesen langweiligen Röhren, deren Sinn ich nicht kannte, einen primitiven Bogen mit Pfeilköcher und das Wrack eines hochmodernen Submaschinengewehrs aus dem Zweiten Weltkrieg.

      „Meine Herren“, rief ich aus, „das sind ja Waffen! Zwei davon erkenne ich genau, Pfeil und Bogen und ein Maschinengewehr letzter Erfindung, das heißt natürlich, letzter Erfindung von einem Standpunkte gesehn, den ich vor tausend Jahrhunderten etwa verlassen habe . . . Es ist eine praktische automatische Waffe ohne Stativ.“

      „Seigneur hat mit dem ersten Blick die Hauptstücke meiner Sammlung erkannt, Bogen und Pulverflinte“, bemerkte Bräutigam Io-Do mit einigem Respekt.

      „Dies ist durchaus kein Verdienst, Monsieur“, lehnte ich das Lob ab, „denn dies sind die einzigen Waffen hier, die ich aus eigener Anschauung kenne . . . Die andern, sollten sie überhaupt Waffen sein, sind mir unverständlich . . .“

      „Die andern Stücke, die Sie hier sehn, Seigneur“, versetzte eifrig der Fiancé, „findet man weit häufiger, wenn man den Grund zu neuen Häusern aushebt. Auch sie stammen zwar noch aus der Urzeit, jedoch schon aus späteren Epochen als Pfeil und Bogen oder Pulverflinte. Die Gelehrten nennen sie ‚Fernsubstanzzertrümmerer‘ oder auch ,Fernschattenzertrümmerer‘. Wenn Sie genauer hinblicken, werden Sie selbst ohne Schwierigkeit die plumpen Fernsubstanzzertrümmerer der primitiven Kriege von den fortgeschritteneren und schlankeren des Letzten Krieges unterscheiden können . . .“

      Obwohl ich die Blasrohre nicht genau voneinander unterschied, trat ich doch näher, aus Höflichkeit Interesse heuchelnd. Der Bräutigam schien wahrhaftig ein großer Bellologe, ein Kriegsgelehrter, zu sein. Sein hübsches Gesicht glühte unter den aggressiven Wallungen der fixen Idee. Zweifellos besaß die junge Generation nicht mehr die Leidenschaftslosigkeit der älteren. Brautvater Io-Fagòr hatte mit seiner Klage recht gehabt.

      „Die längsten und dünnsten der Fernzertrümmerer“, fuhr Bräutigam Io-Do mit wachsendem Eifer fort, „wurden gegen Städte gerichtet, die hoch über der Erdoberfläche gebaut waren. Haben Sie etwa solche Städte noch gekannt, Seigneur?“

      „Ich habe keine andern gekannt“, versetzte ich wahrheitsgemäß.

      „Die Hochbauten dieser Städte hatten tausend bis zweitausend Stockwerke“, schwärmte der Fiancé. „Stimmt das, Seigneur?“

      „Mein Zeitalter hat es nur bis zu ungefähr hundert Stockwerken gebracht“, erklärte ich bescheiden. „Das Empire State Building war das höchste Gebäude, das ich kannte. Doch auch sonst war die Skyline von New York recht repräsentabel, besonders wenn man von Europa kam mit seinen herrlichen, jedoch dörflich niedrigen Städten wie Paris und Wien . . . Es ist übrigens nicht ganz unwahrscheinlich, Monsieur, daß es im Laufe der Menschheitsgeschichte Baulichkeiten gegeben haben mag, die vielleicht bis in die Stratosphäre reichten. Ich weiß es nicht . . .“

      „Und so ist es denn klar und erwiesen“, fiel der kriegsvernarrte Fiancé ein, der mit der Unbesonnenheit der Jugend rasche Schlüsse zog, „daß die Menschheit es allein den Fernsubstanzzertrümmerern oder Fernschattenzertrümmerern zu verdanken hat, daß sie nicht mehr hoch über der Erde mitten in den Schrecken der Atmosphäre leben muß, erbarmungslos den Sonnen- und Sternstrahlen ausgesetzt, sondern im heimeligen Schoße der Lithosphäre. Die Fernsubstanzzertrümmerer sind nämlich mit der von Ihnen erwähnten Skyline prächtig schnell fertig geworden, von einer Sekunde zur andern. Und da gibt es noch Leute, die den fortschrittlichen Wert der ehemaligen Kriege leugnen, wie zum Beispiel der Fremdenführer unsres Zeitalters und mein eigener Vater hier . . .“

      Der liebe Herr Io-Solip sah ganz bestürzt drein:

      „Ich erlaube mir gar keine eigene Meinung zu haben, Sohn“, sagte er, „ich bin kein Historiker und kein Sammler wie du. Was weiß ich von jenen blutigen Märchen, die man einst Krieg genannt hat? Ich denke mir nur, daß wir, das heutige Erdvolk, nicht zahlreich genug sind, für diese Fernsubstanzzertrümmerer der Urzeit hier an deiner Wand . . .“

      Bräutigam Io-Do wandte mir lebhaft sein junges Antlitz zu. Meine Fähigkeit, im Rahmen der allgemeinen Jugend und Schönheit, jünger und älter auszunehmen, war inzwischen gewachsen.

      „Darf ich sicher sein, Seigneur“, fragte Io-Do, „daß Sie am Trojanischen Kriege teilgenommen haben?“

      „Ich hatte diese Ehre nicht persönlich“, gab ich zurück, „wenngleich wir uns in unsern Schulen bis zum Überdruß mit diesem Krieg beschäftigen mußten, von dem die Wissenschaft nicht einmal feststellen konnte, ob er wirklich stattgefunden hat oder nur die Ausgeburt einer Dichterphantasie gewesen ist . . .“

      „Aber Sie haben gewiß an andern Kriegen teilgenommen“, der Jüngling ließ nicht locker, „wo, ähnlich wie im Trojanischen, ein Teil der Krieger mit Tieren zusammengeschmolzen war, die man Rosse nannte . . .?“

      „Ach ja, Kavallerie gab’s noch zu meiner Zeit, wenn sie auch immer mehr und mehr motorisiert wurde . . .“

      „Und worum ging jener Trojanische Krieg?“

      „Um das würdigste Kampfobjekt, das sich denken läßt: die schönste Frau der Welt . . .“

      „Und an welchem Kriege haben Sie teilgenommen, Seigneur?“

      „Am sogenannten Ersten Weltkriege, von 1914 bis 1918, Monsieur le Fiancé.“

      „War das viel später, Seigneur?“

      „Ja und nein! Von jetzt und hier gesehn, nein.“

      „Und was war das Kampfobjekt dieses Ersten Weltkriegs? Worum ging es, Seigneur?“

      Während meiner Antwort fühlte ich mit Unbehagen, daß ich zumindest dem Zweiten Weltkrieg nicht ganz gerecht wurde. Wie weit aber lag das alles zurück, und ich war zu träge, vor diesen so fremden Zuhörern nur um des Gewissens willen feinere Unterscheidungen zu treffen:

      „Ja, worum ging es in diesen zwei Weltkriegen meiner Lebenszeit, bester Io-Do? Wenn sich das so leicht sagen ließe. Es ging um ein trübes Spülicht, um ein schmutziges Gebräu von Arbeitskrisen und Ersatzreligionen. Je unechter nämlich


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