Mit den Augen der Liebe. Marie Louise Fischer

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Mit den Augen der Liebe - Marie Louise Fischer


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„Netzhaut ziemlich dünn“, sagte er, „aber sonst keine krankhaften Veränderungen.“ Es war seiner Stimme anzuhören, wie sehr er selber über diese Feststellung erleichtert war.

      „Ausgezeichnet.“ Professor Bergmeister sprach, als wenn es nicht um ihn selber ginge. „Bei meiner starken Kurzsichtigkeit war es ja zu erwarten, daß die Netzhaut auf die Dauer fadenscheinig wird. Da der Bulbus länger gewachsen ist, wird sie ständig über Gebühr gedehnt.“

      „Ein ganz bekanntes Symptom“, bestätigte Dr. Hilpert.

      „Ich werde mir also keinerlei körperliche Anstrengungen leisten können“, fuhr der Professor fort, „wenn ich nicht Gefahr laufen will, daß sie reißt.“ Er lachte leicht auf. „Aber das wird mich keine Überwindung kosten. Sportler bin ich nie gewesen.“

      Dr. Hilpert war zur Untersuchung des rechten Auges übergegangen. Er spiegelte lange und sorgfältig, ohne ein Wort zu sagen.

      „Nun, was ist?“ fragte Professor Bergmeister ungeduldig.

      „Ja, leider“, sagte Dr. Hilpert zögernd, „hier sieht es schon schlechter aus.“

      „Was heißt das? Wollen Sie sich nicht, bitte, genauer ausdrücken?“ fuhr der Professor auf. „Entschuldigen Sie“, fügte er abschwächend hinzu, „aber Sie werden verstehen, daß ich doch ein bißchen nervös bin. Also, was ist?“

      Dr. Hilpert schaltete das Licht im Augenspiegel aus, legte das Gerät zur Seite. „Herr Professor …“

      „Keine Umschweife! Heraus mit der Wahrheit! Was haben Sie entdeckt?“ Professor Bergmeister tastete nach seiner Brille, setzte sie wieder auf.

      „Eine zarte Blutung in der Netzhaut und … ein Degenerationsherd im Maculabereich.“

      Professor Bergmeister erhob sich so abrupt, als wenn er das enge Beisammensein mit seinem Assistenten plötzlich nicht mehr ertragen könnte. Auch Dr. Hilpert stand auf, sah, wie der Professor mit großen Schritten in dem halbdunklen Raum auf und ab ging.

      „Also ist es doch so, wie ich es mir gedacht hatte“, sagte Professor Bergmeister endlich, und seine Stimme klang wieder ganz gefaßt, „die Macula, die Stelle des schärfsten Sehens, ist angegriffen. Das bedeutet … Erblindung. Früher oder später.“ Er lachte ohne Fröhlichkeit. „Immerhin habe ich die Genugtuung, ein guter Diagnostiker zu sein.“

      „Man kann versuchen, den Vorgang aufzuhalten“, gab Doktor Hilpert zu bedenken.

      „Mit Vitamin A? Mit Priscoltropfen? Mit Replaserol?“

      „Ja.“

      „Es müßte ein Wunder geschehen, wenn das noch helfen sollte. Aber Sie haben natürlich recht. Ich werde es versuchen.“ Professor Bergmeister blieb dicht vor Dr. Hilpert stehen. „Ich danke Ihnen, daß Sie mir die Wahrheit gesagt haben, Kollege.“

      „Es tut mir unendlich leid, daß sie nicht günstiger ausgefallen ist.“

      „So? Tut es Ihnen wirklich leid? Oder sind Sie nicht auch der Ansicht, daß ich mir dieses Leiden selber zuzuschreiben habe?“

      Dr. Hilpert war ehrlich verblüfft. „Aber wie kommen Sie denn darauf, Herr Professor?“

      „Na, waren Sie es denn nicht, der mich unentwegt vor meinen Selbstversuchen mit Lichtkoagulation gewarnt hat? Oder wollen Sie etwa behaupten, Sie sähen darin nicht die Ursache meiner Erblindung?“

      Dr. Hilpert fand nicht auf Anhieb eine Antwort. Dann, nach sekundenlangem Zögern, sagte er: „Ich halte es für möglich … sogar für wahrscheinlich, daß diese Selbstversuche sich schädigend auf Ihre Netzhaut ausgewirkt haben oder, genauer gesagt, daß sie den Degenerationsvorgang beschleunigt haben. Auf keinen Fall aber halte ich sie für die alleinige Ursache. Eine Disposition zu dieser Erkrankung war ganz gewiß vorhanden.“

      „Es wäre also theoretisch möglich, daß der Zustand meiner Augen auch ohne Lichtkoagulationen sich genauso entwickelt haben könnte?“

      „Darüber, Herr Professor, kann ich mir kein Urteil erlauben. Eines jedoch muß ich mit allem Nachdruck sagen, als Ihr Arzt, als Ihr Schüler und als Ihr Mitarbeiter … Sie müssen diese Selbstversuche ab sofort einstellen.“

      „So? Muß ich das? Na, fürs erste, glaube ich, muß ich noch einen Kognak trinken, um mich von dem Schrecken zu erholen …“

      Professor Bergmeister wandte sich ab und ging zur Tür. Als sie wieder in dem hellen Arbeitsraum standen, goß der Professor sich selber und seinem Assistenten im Stehen noch ein Glas ein.

      „Wir Ärzte sind meistens schlechte Patienten“, sagte er lächelnd, „und ich mache da keine Ausnahme. Sie mögen mit allem recht haben, was Sie sagen, aber ich kann noch nicht aufhören. Ein einziger Versuch fehlt mir noch. Der wichtigste.“ Er leerte sein Glas in einem Zug. „Ich will versuchen, auf einer ganz bestimmten, genau fixierten Stelle im Augenhintergrund einen Entzündungsherd anzulegen. Aber ich verspreche Ihnen, mein intaktes Auge dazu zu benützen.“

      „Und wenn es leidet? Wenn es ebenfalls versagt? Herr Professor, sind Sie sich ganz im klaren, was das bedeuten würde?“

      „Ja. Es würde beweisen, daß Lichtkoagulation nicht oder doch nur in sehr begrenztem Maß anwendbar ist.“

      „Das auch. Aber das meine ich nicht. Solange wenigstens das eine Auge noch ausreichend funktionsfähig ist, können Sie als Augenchirurg arbeiten, wenigstens noch einige Jahre … vielleicht sogar länger. Wenn es aber ausfällt …“

      „… sind Sie immer noch da, der meine Arbeit fortsetzen kann. Und dann Michael. Es genügt, wenn ich so lange auf dem Posten bleibe, bis er mit seinem Studium fertig ist.“

      „Wenn Sie auch Ihr anderes Auge aufs Spiel setzen, bezweifle ich, daß Ihnen das gelingen wird, Herr Professor …“

      Professor Bergmeister hob die schmale, blasse Hand. „Nicht, bitte nicht! Gefühlsmäßige Einwände bekomme ich zu Hause genug zu hören. Ich hatte gehofft, Sie wären imstande, den Fall als Wissenschaftler zu beurteilen.“

      „Ich bin in erster Linie Arzt und fühle mich deshalb verantwortlich …“

      Professor Bergmeister ließ seinen Assistenten nicht aussprechen. „Als Arzt müßten Sie begreifen können, welche ungeheure Bedeutung darin liegt, ob ich meine Versuchsreihe … und mit welchem Resultat ich sie abschließen kann … eine ungeheure Bedeutung für alle Augenkranken. Was hat ein Einzelschicksal wie das meine im Vergleich damit für ein Gewicht?“

      Michael Bergmeister überhörte das erste, sachte Klopfen an der Tür seines Zimmers. Er hockte mit überkreuzten Beinen mitten auf dem Teppich, hatte sein Grammophon vor sich gestellt und lauschte mit voller Aufmerksamkeit einer kleinen, aber sehr effektvoll instrumentierten Melodie.

      Erst als es das zweitemal pochte, hob er den Kopf, nahm mit einer hastigen Bewegung den Tonarm ab, sagte: „Herein.“

      Es war seine Stiefmutter, die eintrat, und Michael erhob sich langsam, ohne den Blick von ihr zu wenden. Sie war attraktiv wie immer, in einem sanft anliegenden grünen Jerseykleid, das die aufregende Farbe ihrer schräg stehenden Augen noch unterstrich. Das seidige blonde Haar hatte sie sich in schimmernden Bahnen um den Kopf gelegt.

      „Tut mir leid, wenn ich dich störe“, sagte sie und stürmte in den kleinen Raum, „aber ich muß dich unbedingt sprechen …“ Er wich unwillkürlich einen Schritt von ihr zurück. „Ja, bitte?“ fragte er unsicher.

      „Setz dich doch!“ befahl sie. „Los! Steh nicht so ’rum!“ Sie setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches, schlug die schlanken, schön geformten Beine übereinander.

      Er zog sich einen Stuhl heran, schwang sich rittlings darauf, sah sie, Arme und Kinn auf die Lehne gestützt, unverwandt an.

      „Warum fragst du denn nichts?“ sagte sie nervös. „Interessiert es dich gar nicht, was ich von dir will?“

      „Doch. Sehr sogar“,


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