Nanna - Eine kluge Jungfrau. Lis Vibeke Kristensen

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Nanna - Eine kluge Jungfrau - Lis Vibeke Kristensen


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nicht, sie ist blind für alles außer der Frau auf den Gleisen vor ihren Füßen.

      Der kuppelförmige, weiße Bauch. Der Nabel, der vorsteht, eine Blumenknospe auf einem hellbraunen Stiel. Die schwarzen Fetzen auf der Brust, Reste eines Trauerflors. Der aus dem Hals herauspumpende Blutstrahl.

      Das Geräusch von Hunderten von Füßen verhallt unter dem Kachelgewölbe, wird in die Tunnel hineingesogen. Der Chor aufgeregter Stimmen klingt aus und verwandelt sich zu einem entfernten Echo.

      Nanna zwinkert ein paarmal, versucht den Anblick des Körpers auf den Schienen wegzuzwinkern, ihn in einen Traum zu verwandeln. Aber das, was vor nur wenigen Augenblicken eine lebendige Frau war, ist jetzt zu einem Bild auf Nannas Netzhaut erstarrt, das nicht mehr entfernt werden kann.

      Irgendwo über ihrem Kopf fährt ein Zug an einen Bahnsteig heran, das Geräusch erreicht sie, ein Donnern in weiter Ferne.

      Sie will sich von dem Anblick des zerfetzten Körpers abwenden, kann es aber nicht, das Bild hält sie fest, dort, wo sie steht. Sie spürt, wie ihre Knie nachgeben, sie schwankt an der Bahnsteigkante, ist kurz davor, vornüber zu fallen.

      Ein harter Griff um ihren Oberarm. Eine Stimme an ihrem Ohr.

      »Attention!«

      Jemand zieht sie mit einem festen Ruck von dem Rand weg. Sie folgt stolpernd, ihre Knie schlagen gegeneinander. Die Tasche rutscht ihr von der Schulter, fällt auf den Bahnsteig, der Verschluß öffnet sich, und ihr kleiner runder Spiegel rollt heraus, dreht sich ein paarmal und bleibt dann flach liegen.

      Ganz. Heil.

      »Setz dich hier hin.«

      Es ist die Stimme eines Mannes, sie ist hell, eifrig. Nanna spürt einen Arm um ihre Schultern, eine Hand stützt ihren Rücken. Widerstandslos gleitet sie auf die schmutzigen Fliesen des Bahnsteigs, die Hand greift um ihren Nacken und beugt ihren Kopf nach vorn.

      »Damit du nicht ohnmächtig wirst.«

      Eine Hand sammelt ihre Tasche auf, schiebt den Spiegel hinein, gibt sie ihr.

      Nanna hebt den Kopf. Ein Gesicht über ihr, breit und blond. Besorgte graublaue Augen, eine Falte zwischen den hellen Augenbrauen.

      »Ça va?«

      Nanna will nicken, aber das Signalsystem ihres Körpers funktioniert nicht, auch die Zunge gehorcht nicht. Sie schaut in die freundlichen Augen, hält den Blick fest. Spürt, wie der Mann neben ihr kniet, ein Paar Arme um ihren Oberkörper. Sie lehnt sich gegen eine rauhe Jacke, registriert einen leichten Geruch nach feuchter Wolle.

      Dann fängt sie an zu zittern. Sie weiß nicht mehr, wer sie ist und wohin sie wollte.

      Die Zeit steht zwischen den Kachelwänden still.

      Einige uniformierte Männer mit einer Bahre zwischen sich bleiben neben Nanna und ihrem Retter stehen.

      »Der Bereich hier ist abgesperrt.«

      Eine Hand erfaßt ihr Gesicht, beugt vorsichtig ihren Kopf nach hinten.

      »Kannst du aufstehen?«

      Unsicher geht sie am Arm des Mannes zum Ausgang. Die Tasche schaukelt an ihrem Ellbogen, der Verschluß ist offen.

      »Könnten Sie meine Tasche zumachen«, flüstert sie. »Die Tasche.«

      Ohne ihren Arm loszulassen, tut er, worum sie ihn gebeten hat. Hängt ihr die Tasche über die Schulter, sorgfältig. Sie spürt, daß er sie ansieht, aber sie muß sich darauf konzentrieren, einen Fuß vor den anderen zu setzen, die Treppenstufen vor sich zu meistern, ohne zu stolpern.

      Die Straßenlaternen spiegeln sich in den Wasserpfützen, als sie endlich auf der Straße sind.

      »Komm.«

      Sie sind unter dem roten Schild eines bar-tabac stehengeblieben. Hinter der beschlagenen Scheibe leuchten freundlich die Lichter, durch den Regentropfenschleier kann Nanna die Umrisse von Menschen erkennen, die mit ihren Gläsern am Tresen sitzen oder stehen, an den kleinen Tischen, sie haben Zigaretten in den Mundwinkeln, sie sieht, wie ihre Lippen sich bewegen, die Hände gestikulieren, nichts ist passiert.

      Zögernd folgt sie dem Mann. Sie hat keine Ahnung, wie spät es wohl ist, wahrscheinlich ist sie bereits über die Zeit. Sie weiß nicht, wo sie ist. Wie sie nach Hause kommen soll, weiß sie auch nicht.

      Ein Taxi würde vermutlich ihr gesamtes Erspartes aufzehren, denkt sie und wird von einem Schuldgefühl wegen ihrer Kleinlichkeit erfaßt. Schließlich lebt sie noch, ihr Körper ist heil und warm, liegt nicht geköpft auf den Metrogleisen.

      Der Mann hat von einem der runden Tische nahe am Fenster einen Stuhl herangezogen, fordert Nanna auf, sich zu setzen.

      »Ich hole etwas zu trinken«, sagt er und verschwindet in der Menge.

      Nanna sieht, wie er an der Bar steht. Er ist jünger, als sie zuerst gedacht hatte, nicht viel älter als sie selbst. Eine lange, blonde Gestalt, mit breitem Rücken in der dunkelblauen, wollenen Seemannsjacke, er sieht aus wie ein Seemann, mit dem sie einmal auf der Fähre nach Norwegen getanzt hat, sieht gar nicht französisch aus. Aber er hat mit ihr französisch gesprochen, ohne Akzent, soweit ihre ungeübten Ohren das beurteilen können.

      Sie sieht, wie er am Tresen lehnt, mit dem Barkeeper redet, gestikuliert. Sie kann nicht hören, was er sagt, hat aber das Gefühl, daß er über sie spricht. Die gesamte Situation macht sie unsicher, aber ihre Beine sind so schwer und geleeartig, würden sie gar nicht tragen können, wenn sie fliehen wollte. Ihre Tasche hängt immer noch über ihrer Schulter, sie nimmt sie herunter und legt sie sich auf den Schoß, unter die Tischplatte.

      Da spürt sie ihn neben sich, er stellt zwei Gläser auf den Tisch vor ihr, ein kleines mit einer braunen Flüssigkeit, ein großes, das anscheinend Wasser enthält.

      »Trink das hier«, sagt er und zeigt auf das kleine Glas. »Das brauchst du.«

      Der spiritusartige Geschmack billigen Cognacs erzeugt in ihrem ganzen Körper einen langgezogenen Schauder, plötzlich fühlt sie sich fieberheiß.

      »Hier.«

      Das Wasserglas, sie leert es in zwei Schlucken, dankbar, wischt sich den Mund mit dem Handrücken ab. Ihr ganzes Gesicht fühlt sich feucht an, eine Mischung aus Regen, Schweiß und salzigen Tränen ist ihr in die Mundwinkel gelaufen, sie öffnet ihre Tasche und sucht das Taschentuch, wischt sich Wangen und Stirn ab. Das Taschentuch bekommt dunkelgraue Flecken, verlegen versteckt sie es in der Hand, blinzelt zu dem Mann hinüber, der eine Zigarette aus einer blauen Pappschachtel angezündet hat und sie durch eine Rauchwolke anlächelt.

      »Ça va?«

      Der Barkeeper in seinem weißen Hemd steht plötzlich an ihrem Tisch. Er betrachtet Nanna neugierig.

      »Kein Wunder, daß Sie blaß sind, Mademoiselle«, sagt er mit einem freundlichen Grinsen. »Ihr Freund hat mir erzählt, was passiert ist, schrecklich.«

      Die kleinen braunen Kaffeetassen landen auf der Marmorplatte. Der Wirt schiebt die Schale mit den eingepackten Zuckerstückchen näher heran, läßt sein Tuch über die Tischplatte huschen.

      Vielleicht wartet er ja auf eine Antwort.

      Das Bild des verletzten Körpers auf den Zuggleisen lauert die ganze Zeit am Rande von Nannas Blickfeld, sie muß kämpfen, daß es nicht näher kommt, damit sie nicht wieder zu zittern anfängt. Sie wirft dem Mann auf der anderen Seite des Tischs einen flehentlichen Blick zu.

      Eine Hand streift ihre.

      »Am besten, wir reden jetzt nicht mehr drüber«, seine Stimme klingt entschlossen. Eine Handvoll Münzen klirren auf den Tisch. »Wieviel?«

      »Geht auf Rechnung des Hauses.« Der Wirt breitet großzügig seine Arme aus.

      »Schließlich muß man nicht jeden Tag so etwas mit ansehen.«

      Er wirft Nanna einen letzten Blick zu, sucht ihre Gesichtszüge nach unaussprechlichen Ängsten ab, zieht sich dann hinter seinen Tresen


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