Nanna - Eine kluge Jungfrau. Lis Vibeke Kristensen

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Nanna - Eine kluge Jungfrau - Lis Vibeke Kristensen


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die Hitze in den Wangen, guckt in ihre Kaffeetasse, in der der Schaum einen spiralförmigen Wirbel bildet.

      Der Kaffeeduft läßt ihren Magen zucken. Vielleicht kann der kräftige Geschmack ihre Sinne sammeln, die immer noch um sie herumflattern, unberechenbar wie Fledermäuse. Sie verbrennt sich die Zunge an der heißen Flüssigkeit, die Tasse klappert in ihrer zitternden Hand, als sie sie wieder abstellt.

      »Geht’s jetzt besser?«

      Nanna schaut in die hellen Augen, nickt.

      »Ich denke schon.«

      »Du bist keine Französin. Da war irgendwas an dir, an deiner Kleidung. Und jetzt kann ich es hören.«

      Das Gesicht über ihr erstrahlt, in den Augen ist etwas unverstellt Kindliches, gegen das sie sich nicht verteidigen muß.

      »Dänin«, murmelt Nanna. »Ich bin Dänin.«

      »Eine Wikingerin.« Die Augen des Mannes lächeln. »Wie ich.« Er lehnt sich auf seinem Holzstuhl zurück, sieht plötzlich stolz aus. »Ich komme aus der Bretagne«, fügt er hinzu, als würde das alles erklären.

      Nanna weiß nicht, was sie zu dieser Information sagen soll. Die Bretagne sagt ihr nichts, nur ein Klumpen auf der Landkarte, im äußersten Westen, das ist alles.

      »Finistère«, erklärt er weiter. »Das Ende der Welt. Warst du schon einmal da?«

      Nanna schüttelt den Kopf.

      »Ich bin das erste Mal in Frankreich.«

      »Au pair?« Der Mann leert seine Kaffeetasse, greift mit der Hand nach dem Cognacglas. »Willst du den Rest?«

      Als sie verneint, nimmt er das Glas, kippt den Inhalt in einem Schluck hinunter. Der Alkoholschauder läßt ihn den Kopf schütteln.

      Die elektrische Uhr über dem Bartresen zeigt auf halb sieben, sie hätte schon vor einer halben Stunde zu Hause sein sollen. Der Gedanke an die Familie, die auf sie wartet, Madames hochgezogene Augenbrauen, Monsieurs gereiztes Brummen, das kleine, ernste Kindergesicht, das sich nur durch den Anblick von Nanna zu einem Lächeln auflöst, ihre Pflichten. All das, was sie nach Punkt und Komma erfüllen will, meldet sich mit nicht abweisbarer Kraft. Sie kann keinen Moment länger hier sitzen bleiben.

      Sie schiebt den Stuhl nach hinten.

      »Ich muß jetzt gehen«, sagt sie. »Vielen Dank.«

      Sie zwängt sich zwischen den Tischen zum Ausgang hin, preßt die Tasche mit beiden Händen gegen den Bauch. Die Leute rücken ihren Stuhl zur Seite, ohne ihre Gespräche zu unterbrechen, lassen sie vorbei. Unsicher auf gummiweichen Beinen bahnt sie sich durch den Lärm der Stimmen und das elektrische Scheppern der Spielautomaten ihren Weg zur Tür, der Zigarettenrauch beißt ihr in der Nase.

      Draußen auf der Straße ist der Regen stärker geworden, das Wasser platscht auf den Fußweg und fließt im Rinnstein, die Reifen der Autos durchpflügen die Wasserpfützen wie Schnellboote, ziehen Spritzfontänen hinter sich her.

      Nanna sieht sich um. Der Metroeingang liegt nur wenige Meter entfernt, aber es ist nicht anzunehmen, daß bereits wieder eine Bahn in ihre Richtung fährt. Ein Taxi setzt ein Stück entfernt einen Mann und eine Frau ab, sie macht auf unsicheren Beinen ein paar Laufschritte, winkt mit den Armen, aber der Taxichauffeur hat bereits sein Schild eingeschaltet und fährt unter strömendem Regen vom Bürgersteig weg.

      Eine Hand auf ihrer Schulter.

      »Wo bist du denn geblieben?«

      Nanna dreht sich um. Die hohe Gestalt zeichnet sich gegen das aquariumhafte Licht der Barfenster als Silhouette ab, das blonde Haar klebt ölig an der Stirn, auf der sich wieder die Sorgenfalte zeigt.

      »Ich muß nach Hause.« Nanna sucht nach den Worten. »Ich werde erwartet, ich muß mich um ein kleines Mädchen kümmern.«

      »Wo wohnst du denn?«

      »In Marais.«

      Nanna ist kurz vorm Weinen. Es wird sie mindestens eine halbe Stunde kosten, nach Hause zu gehen.

      »Kannst du nicht anrufen?«

      Bis jetzt hat sie sich noch nicht getraut, ein öffentliches Telefon zu benutzen, das komplizierte System mit den Jetons hat sie abgeschreckt. Außerdem fällt es ihr schwerer, die Sprache zu verstehen, wenn die Worte für sich stehen, ohne Mimik und Gestik. Und jetzt hat sie auch noch die Telefonnummer vergessen. Sie schüttelt den Kopf, seine Stirnfalte erzeugt bei ihr ein schlechtes Gewissen wegen ihrer eigenen Hilflosigkeit.

      Eine Träne sucht sich ihren Weg aus ihrem Augenwinkel heraus, vermischt sich mit dem Regen auf ihren Wangen.

      »Ich muß gehen«, sagt sie und schaut sich um, versucht sich zwischen den brausenden Autos und den funkelnden Lichtern zu orientieren.

      »Ich bringe dich.« Er ergreift ihren Arm und dirigiert sie zur Straßenecke, plötzlich erkennt sie den Platz wieder, weiß, wohin sie gehen muß. »Wir können ja versuchen, unterwegs ein Taxi zu erwischen.«

      Ihre Zunge spielt nicht mit, als sie protestieren will. Ohne Widerstand läßt sie sich durch die Menschen führen, die unter ihren aufgespannten Schirmen dahineilen.

      Der Regen läuft ihr in Bächen unter den Kragen ihres Mantels, das helle Leder ihrer norwegischen Slipper ist gefleckt von der Feuchtigkeit. Sie fühlt sich wie ein Bauerntrampel, einen halben Kopf größer als die zarten Frauen in dünnen Schuhen und hellen Strümpfen, die um die Wasserpfützen auf dem Fußweg herumtrippeln, elegant und wundersamerweise trocken in ihren prinzeßförmigen Mänteln.

      Der Mann an ihrer Seite passt in der Größe zu ihr. Der Gedanke kommt ihr, ohne daß sie es will. Seine Ausstrahlung ist trotz seiner Größe unschuldig wie aus einem Bilderbuch, Hänschen im Blaubeerwald. Sie beschließt, daß sie vor ihm keine Angst haben muß. Außerdem ist sie sowieso viel zu erschöpft, um ihn jetzt abzuweisen.

      Auf eine sonderbare Weise verleihen ihr die Erlebnisse des Tages ein Gefühl der Unverwundbarkeit. Sie hat das Schönste und das Schlimmste heute erlebt, mehr kann ihr nicht geschehen. Sie ist behütet wie ein Mensch, der Gott gesehen hat, denkt sie und weiß nicht, woher dieser Gedanke kommt.

      Schweigend trotten sie durch den Regen. Nanna versucht die Luft tief in ihre Lunge hineinzuziehen, sie sehnt sich nach frischem Sauerstoff, aber die Luft ist gesättigt von dem Geruch nach verrotteten Blättern, nach den beißenden Auspuffgasen der Autos, dem warmen Dunst aus den Entlüftungskanälen der Metro.

      Der Mann hat sich den Kragen hochgeschlagen, er beugt sich unter den schweren Tropfen nach vorn, wischt sich ab und zu mit dem Ärmel über die Stirn und lächelt Nanna zu. Sie bemerkt, wie er seine Schritte den ihren anpaßt. Eine Hand umfaßt ihren Ellbogen, wenn sie eine Straße überqueren, der lange Körper beschützt sie gegen die Spritzer der vorbeifahrenden Autos. Ihre Schulliebschaften, die kaum jünger als der Mann an ihrer Seite waren, sprangen immer um sie herum, tolpatschige Hundewelpen, sie hatte ihre schmale Hand in ihre feuchten Pfoten gelegt, mußte ihre eigenen und deren Schritte lenken, um ein Stolpern oder einen Zusammenstoß zu vermeiden. Diese blonde Gestalt an ihrer Seite bewegt sich mit ihr, sicher, wie ein guter Tänzer.

      Der Strom der Autos ist endlos, die wenigen Taxis, die sie entdecken, haben Passagiere auf den Rücksitzen, schließlich geben sie es beide auf, sich umzuschauen und nach einem Taxi zu suchen, sie wandern einfach in dem strömenden Regen voran.

      Endlich erkennt sie die Bar an ihrer Straßenecke, bleibt einen Moment unschlüssig stehen.

      »Hier wohne ich«, sagt sie, streckt die Hand zum Abschied aus, zögert.

      Die Einsamkeit öffnet sich vor ihr, ein sie herabziehender Abgrund. Das, was auf dem fernen Metrobahnsteig geschehen ist, das, was sie nur mit dem Mann geteilt hat, der vor ihr steht, wird sonst niemand verstehen können.

      Ihre Blicke treffen sich.

      »Ich heiße Yann.« Er behält ihre Hand für einen Augenblick in seiner. »Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.«

      »Ja,


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