Nanna - Eine kluge Jungfrau. Lis Vibeke Kristensen

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Nanna - Eine kluge Jungfrau - Lis Vibeke Kristensen


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      »Um zwei Uhr.«

      Sie entzieht ihm ihre Hand, läuft die letzten Schritte zum Tor, drückt auf den Knopf.

      Als sie sich umdreht, um ihm noch einmal zuzuwinken, ist er bereits im Regen verschwunden.

      »Also! Kommen Sie jetzt zum Empfang mit?« Monsieur hat einen Apfel geschält, die gelbe Schale liegt, in einem Stück und spiralförmig, auf seinem Teller. »Antworten Sie doch!« fährt er in ungeduldigem Ton fort, bevor seine Frau auch nur den Mund öffnen kann.

      Nanna guckt heimlich auf ihre Uhr. Den ganzen Vormittag über hat ihr Körper leicht gezittert, wie vor einer Prüfung. Jetzt sitzt sie mit am Mittagstisch der Familie, der größte Teil ihrer Aufmerksamkeit ist auf Monsieur gerichtet, dessen umständliche Essensrituale ihren zähen Gang nehmen. Ihr ganzes Streben ist darauf ausgerichtet, daß er doch endlich aufessen und wieder in seinem Büro verschwinden soll, damit sie den Abwasch hinter sich bringen und kurz vor zwei Uhr auf ihrem Posten unten auf der Straße sein kann.

      In der Zwischenzeit füttert sie Mariclô mit Backpflaumenkompott. Das kleine Mädchen ist eigentlich alt genug, um allein zu essen, aber verschüttetes Essen und umgekippte Gläser würden unweigerlich eine Verspätung bedeuten und die schlechte Laune am Tisch noch steigern, und Nanna hat gelernt, es nicht darauf ankommen zu lassen. Der förmliche Ton zwischen den Eheleuten überdeckt nur eine lauernde Wut, die jeden Augenblick in einen scharfen Disput umschlagen kann.

      Der Löffel in Nannas Hand zittert. Ein brauner Tropfen fällt auf die weiße Tischdecke, sie verdeckt ihn mit der Serviette. Unruhig späht sie zu Madame, die mit einem beleidigten Ausdruck in dem sorgfältig geschminkten Gesicht eine reife Birne in kleine Häppchen schneidet.

      Madame wollte schon nach ihrem freien Nachmittag schnappen. Normalerweise ist Nanna bereit, sich anzupassen, aber heute hat sie nein gesagt, mit roten Wangen, ohne eine weitere Erklärung zu geben.

      Sie weiß nicht, ob sie die kritischen Bemerkungen von Monsieur ertragen wird.

      »Wenn Sie daran interessiert sind, daß ich Marie-Clothilde mitschleppe, ja, gern. Ist es das, was ich antworten soll?«

      Madame balanciert mit der Gabel ein Stück Birne in den Mund, kaut mit verkniffenen, blaßrosa Lippen.

      Der Teller mit dem Käse steht vor Nanna, sie starrt auf den dreieckigen Brie, dessen cremegelber Inhalt eine dickflüssige Zunge auf dem blaugemusterten Porzellan bildet.

      »Wir bezahlen für eine Putzfrau, wir bezahlen ein Kindermädchen, und meine Frau kann mich nicht zu einem Empfang begleiten. Entschuldigen Sie bitte, aber da stimmt doch etwas nicht.«

      Der kleine, bürstenförmige Schnurrbart zittert vor Ungeduld, die Glatze glänzt ölig. Er ist zwanzig Jahre älter als seine Frau, und die späte Ankunft eines kleinen Kindes in seinem Leben hat in keiner Weise seine Gewohnheiten verändern können, hat ihn nur noch fordernder, noch ungeduldiger werden lassen.

      Nanna fürchtet seine Sarkasmen, die zu der Sorte gehören, die sie von ihrem Vater kennt. Sie beugt den Kopf vor dem, was kommen muß.

      »Habe ich das richtig verstanden?« Er hat sich Nanna zugewandt, »daß Mademoiselle nicht gewillt ist, ein paar Stunden ihrer Freizeit zu opfern, um uns einen Gefallen zu tun?«

      Mariclô, deren seismographische Sensibilität hinsichtlich Stimmungsumschwüngen im Umkreis ihrer kleinen Person oft zu heftigen Ausschlägen führt, rutscht auf ihrem Stuhl hin und her.

      »Sitz still.«

      Das Geräusch der harten Landung einer Gabel auf dem Dessertteller. Madames schmale Finger mit den tadellos lackierten Nägeln umklammern den dünnen Arm ihrer Tochter.

      Das Erbrechen kommt wie eine Explosion. Der kleine Mund des Kindes ist ganz viereckig vor erschrockenem Weinen, es streckt die Arme von sich, der bestickte Pullover ist von einer schleimigen braunen Flüssigkeit getränkt.

      »Marie-Clothilde, quand-même

      Ekel verwandelt Madames konventionell hübsches Gesicht zu einer zitternden Fratze.

      Nanna weiß, das Spiel ist verloren. In so einer Situation Mariclô ihrer Mutter zu überlassen, das bringt sie nicht übers Herz.

      »Ich nehme sie.«

      »Den ganzen Nachmittag?«

      Nanna wischt ihre Handflächen in ihrer Serviette ab, hebt das weinende Mädchen aus dem Stuhl.

      »Den ganzen Nachmittag«, sagt sie kurz.

      Es ist genau zwei Uhr, als Nanna die Karre aus dem schweren Tor schiebt.

      Er hat die Hände in die Taschen seiner blauen Seemannsjacke gestopft, sieht nicht so breitschultrig aus, wie sie es in Erinnerung hat. Aber trotzdem erkennt sie ihn sofort wieder.

      Sein Anblick läßt sie kurz innehalten. Das Bild der verunglückten Frau, das in der letzten Woche jede Nacht ihre Träume verdorben hat, taucht vor ihrem inneren Blick auf.

      Vielleicht war es keine gute Idee, ihn wiederzutreffen, vielleicht wird all das dadurch wieder aufgerissen, was sie am liebsten vergessen würde. Aber jetzt ist es zu spät zu bereuen, er hat sie bereits gesehen und hebt die Hand zum Gruß.

      Der Wind weht ihm das Haar aus der Stirn, als er die Straße überquert.

      »Bonjour.«

      Seine Hand ist warm und groß, die Handfläche fühlt sich unerwartet weich an.

      »Ich mußte sie mitnehmen.« Nanna nickt zu Mariclô, die ihr kleines Gesichtchen dem fremden Mann zudreht und die Augen zukneift. »Vielleicht können wir zur Place des Vosges gehen, da spielt sie immer.«

      »Pourqoui pas?« Er nickt dem Kind zu, hockt sich neben sie. »Ich heiße Yann«, sagt er.

      Das kleine Mädchen nickt mit ernster Miene.

      »Yann«, sagt sie, und der Schatten eines Lächelns huscht über ihre Augen.

      »Darf ich raten, wie du heißt? Martine, Marie, Michèle, Monique, Denise, Danielle, Nicole, Claire, Colette, Jeannine, Aurore, Alberte, Adèle?«

      Er leiert die Namen herunter, ein geschäftiger Auktionator, und Mariclôs Stirn runzelt sich vor Anstrengung, ihm zu folgen. Yann macht eine Pause, um nach Luft zu schnappen.

      »Jetzt weiß ich es. Du heißt natürlich Anaïs«, sagt er und piekst sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe.

      »Neihein.« Das kleine Gesicht strahlt plötzlich vor Freude, wie Nanna es nur selten gesehen hat. »Mariclô heiße ich.«

      »Und wie heißt diese junge Dame?« Yann nickt zu Nanna. »Könnte sie wohl Beatrice heißen?«

      »Das ist doch Nanna.«

      »Ach, natürlich. Bonjour, Nanna.« Er lächelt Nanna zu. »Wollen wir gehen?«

      Die Anlage ist fast menschenleer. Eine alte Dame, deren birnenförmigem Gesicht Nanna meistens zunickt, schaut mißtrauisch von ihrer Bank auf, als der kleine Zug an ihr vorbeidefiliert. Ein Junge braust auf einem Fahrrad mit Stützrädern an ihnen vorbei, ruft Mariclô zu sich, als Nanna sie aus dem Wagen hebt. Der klassisch elegante Platz verfügt nicht über etwas so Profanes wie eine Sandkiste, und die Kleinkinder des Viertels behelfen sich so gut sie können mit Rollern und Rädern, kratzen mit ihren kleinen Schaufeln im Kies der Wege, stellen sich auf die Zehenspitzen und planschen mit einem Stock in den immerwährend plätschernden Fontänen.

      »Soll ich fragen, ob du Bernards Rad ausleihen darfst?« Nanna winkt dem Kindermädchen des Jungen zu, einer rothaarigen Holländerin, die mit ihrem Strickzeug ein paar Meter entfernt sitzt.

      Mariclô trippelt artig an Nannas Hand davon, setzt sich höflich abwartend neben das andere Kindermädchen.

      »Du bist nicht allein?« Das Kindermädchen zwinkert Nanna zu. »Laß nur, ich werde schon auf sie aufpassen.«

      Nannas Wangen werden heiß. Sie weiß nicht, wie sie erklären


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