Nanna - Eine kluge Jungfrau. Lis Vibeke Kristensen

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Nanna - Eine kluge Jungfrau - Lis Vibeke Kristensen


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      Die goldene Oktobersonne steht hoch zwischen den roten Häusern, Yann hat sich auf einer der Doppelbänke niedergelassen, er hat sich eine Zigarette angezündet, beschattet seine Augen mit der Hand, als sie zurückkommt.

      Nanna setzt sich, in sicherem Abstand zu seinem kräftigen Körper, steckt die Hände in die Taschen ihrer Wildlederjacke, macht sich so schmal wie möglich.

      Sie sitzen eine Weile schweigend da. Nannas Fuß zeichnet ein Muster in den Kies, einen Kreis, einen Strich, etwas, das aussieht wie ein Schmetterling.

      »Was machst du in Paris?« fragt sie schließlich, um überhaupt etwas zu sagen. »So weit weg vom Ende der Welt.«

      Sein Lachen ist hell und fröhlich, das Lachen eines Jungen.

      »Du erinnerst dich daran? Auf dem Weg hierher habe ich befürchtet, daß du viel zu schockiert gewesen bist, um dich überhaupt noch an mich zu erinnern.«

      Nanna schüttelt den Kopf.

      »Ich erinnere mich gut an dich«, murmelt sie.

      »Ich arbeite im Restaurant meines Onkels.« Yann nimmt einen letzten Zug aus seiner Zigarette, zertritt die Kippe mit seiner Ferse. »Wir haben zu Hause ein Hotel, es ist geplant, daß ich das einmal übernehmen soll.«

      Sein Gesichtsausdruck läßt sie stutzen.

      »Hast du keine Lust dazu?«

      »Das ist gar nicht die Frage.«

      Er holt seine Brieftasche aus der Innentasche hervor, öffnet sie.

      Auf dem Foto steht er vor einem weißen Gebäude, seine Arme ruhen auf den Schultern zweier Frauen.

      »Die Frauen in meinem Leben.«

      Nanna betrachtet neugierig die Frauen auf dem Foto. Das Lächeln auf dem Gesicht der einen unter dem zurückgekämmten Haar ist eine aufgesetzte Maske, die Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen, die der von Yann ähnelt, hat sich für immer eingegraben. Die kleine alte Frau auf seiner anderen Seite sieht mit ihrem sonderbaren Kopfschmuck aus weißen Spitzen aus, als wäre sie einem Gemälde entsprungen.

      »Meine Mutter und mémé, meine Großmutter«, Yann zeigt auf letztere. »Sie braucht jeden Morgen zwanzig Minuten, um ihr coiffe aufzusetzen. Aber du brauchst gar nicht erst zu versuchen, sie zu überreden, es doch wegzulassen.«

      »Sie sieht hübsch aus.«

      »Sie ist der störrischste Mensch auf der Welt. Mein Großvater ist im Ersten Weltkrieg verschollen, und als sie seinen Namen auf das Denkmal für die Gefallenen schreiben wollten, hat Mémé gesagt: ›Wer behauptet, daß er gefallen ist? Verschollen für Frankreich, schreibt das hin!‹ Sie wartet heute noch auf ihn.«

      »Und was ist mit deinem Vater?«

      »Er ist gestorben, als ich klein war.«

      Ein Schatten huscht über sein Gesicht, er schiebt ihn mit einem Lächeln weg. »Ich bin mit starrsinnigen Frauen aufgewachsen!«

      »Nanna! Guck mal!«

      Der Junge hat Mariclô sein Rad überlassen, jetzt braust sie jubelnd davon, den Kopf zwischen den Schultern, ihr kleines Gesicht ist rosarot vor Anstrengung.

      Nanna klatscht in die Hände, ruft dem Kind zu:

      »Bravo, Mariclô!«

      »Du magst Kinder gern«, stellt Yann fest. »Ich auch.«

      »Ich freue mich so, wenn sie sich mal etwas zutraut.« Nanna hat diesen Gedanken vorher nie bewußt gehabt, aber plötzlich weiß sie, daß es stimmt.

      »Sie erinnert mich an mich selbst früher.«

      »Wieso?«

      »Keine Geschwister und schrecklich ängstlich.«

      Sie begreift nicht, wieso sie diesem Mann, den sie doch kaum kennt, ihre geheimsten Gedanken anvertraut, merkt nur, daß es ihr ganz natürlich erscheint.

      Ein Schrei zerreißt die Luft unter den gelben Fingern der Kastanien, Mariclô liegt kopfüber vor dem umgekippten Rad, der Junge steht ein paar Schritte entfernt und schaut betreten drein.

      Yann ist mit drei Schritten bei ihr, schiebt das fremde Kindermädchen zur Seite.

      »Ça va, ma petite?«

      Er hebt vorsichtig das weinende Kind hoch und wiegt es in seinen Armen, bis es aufhört zu weinen.

      Nanna sieht ihn an. Sie hört das plätschernde Geräusch von den Fontänen, das Brausen der Autos in weiter Ferne, den spröden Klang einer Kirchenglocke irgendwo in der Nähe und weiß, daß etwas Tiefes in ihr, ein Gefühl, das ihr ganzes Leben lang heimatlos war, endlich seinen Platz gefunden hat.

      März 1961

      »Hier kommt das Geburtstagsessen.«

      Yanns Onkel stellt die Platte mit geübter Armbewegung auf das Metallstativ in der Tischmitte.

      Nanna hat derartige Zusammenstellungen bisher nur auf Gemälden gesehen, aber das Stilleben, das jetzt zwischen ihr und Yann steht, soll nicht nur die Augen erfreuen. Yann schiebt sich bereits seine weiße Leinenserviette in den Halsausschnitt, neben ihren Tellern liegen Nußknacker, Nadeln, eingelassen in Weinkorken, lange, zweigliedrige Instrumente mit etwas, das aussieht wie ein Miniaturspaten an dem einen Ende, kurze, kräftige Gabeln, ein ganzes kleines Arsenal.

      Auf dem glänzenden Tablett türmen sich Berge winziger lachsfarbener Langusten mit ihren langen Fühlern neben halben Zitronen, die dunkelroten Zangen einiger gewaltiger Krebse ruhen schwer auf einer Pyramide schwarzer Meeresschnecken. Muscheln mit anmutigen Schalen, lange Ovale, gestreift in hellbraun und altrosa, rot-orange Miesmuscheln in ihren dunklen Gehäusen, dunkelgraue Austernschalen mit ihrem seidenblassen Inhalt, an dem winzige schwarze Fransen hängen.

      »Flache Austern«, erklärt der Onkel. »Flache Austern aus Cancale, vous m’en direz des nouvelles!«

      Yann bedient sich mit einer Scheibe des kroß gebackenen Landbrots aus dem Korb, kratzt mit seinem Messer Butter von dem großen Klotz auf dem Glasteller.

      »Das Beste daran ist, daß ich denen da heute nichts servieren muß.«

      Er nickt nach hinten zu dem voll besetzten Lokal hin, in dem die Kellnerschar seines Onkels mit routinierten Bewegungen die Bestellungen auf ihren weißen Blöcken notiert, mit den Tabletts voller Schalentiere heraneilt, mit Fisch in dampfenden Soßen, tropfenden Weißweinflaschen, einem Extraglas hier, einem Korb mit Brot da.

      An allen Tischen zwischen den Trennwänden aus Fayence mit Blumenmuster sitzen Familien. Mehrere Generationen sind um die weißen Tischdecken versammelt, die Kinder artig, still und mit großen Augen, neben Nanna zeigt eine Großmutter ihrem Enkel, wie man aus dem Menü auswählt, ein Chor verschiedenster Stimmen steigt zu der bemalten Decke hinauf. Die Stimmung ist aufgekratzt, erwartungsvoll, ein Sonntagsessen im Kreis der Familie, Leckereien, die die vom Lande Geflohenen an die Küste daheim erinnern, an das leuchtende, großzügige Meer.

      Während der letzten Monate hat Nanna sich immer wohler in dieser Gesellschaft gefühlt. Sie sind aus ihrem natürlichen Element gerissen worden, die Bretonen wie auch sie, aber hier, in diesem schönen Lokal mit den Jugendstilornamenten und den blitzenden Gläsern auf den weißen Tischdecken, sind sie zusammen im Exil, in der einfachen Gemeinschaft einer Mahlzeit.

      Einer der Kellner winkt den Onkel zu sich, worauf dieser mit langen Schritten hinter den geschwungenen Messingstangen des Spiegelbuffets verschwindet, bereit, sein wachsames Auge über dem ganzen großen Lokal kreisen zu lassen.

      »Ein ganzer Tag frei. Mein bestes Geburtstagsgeschenk.« Yann schiebt sich ein Stück Brot in den Mund, lächelt kauend Nanna zu. »Abgesehen von ...«

      »Abgesehen wovon?«

      Nanna ist verwirrt. Daß heute Yanns Geburtstag ist, war für sie eine Überraschung, sie hatte sich lediglich zum Sonntagsessen ins Restaurant


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