Nanna - Eine kluge Jungfrau. Lis Vibeke Kristensen

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Nanna - Eine kluge Jungfrau - Lis Vibeke Kristensen


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Cologne in der Tasche und betupft sich vorsichtig die Schläfen und den Puls damit, sie versucht Zeit zu gewinnen, weiß nicht, was von ihr erwartet wird. In dem fleckigen Spiegel sieht sie, daß sich ihr Zopf gelöst hat, ein paar lange Locken fallen ihr auf die Schulter.

      Sie hebt die Arme und löst den Zopf ganz auf, läßt das Haar über den Nacken rieseln, lächelt ihrem Spiegelbild zu. Ich bin hübsch, denkt sie, verliert aber trotzdem den Mut und bindet das Haar wieder im Nacken zusammen, dreht es zu einem vernünftigen Knoten.

      Drei kleine Gläser auf dem Tresen, Yanns Freund trinkt mit ihnen, dreht sich dann weg, um an das klingelnde Telefon zu gehen.

      Die Dinge um sie herum zeigen in dem schattenlosen Licht der Neonröhre über der Bar messerscharfe Konturen, die Farben strahlen wie in einem Film, wollen sich in ihr Gedächtnis einbrennen, der rote Aperitif in ihrem Glas, der bläuliche Rauch von Yanns Zigarette, die Gitanepackung.

      Ein Schlüssel mit einem Holzschild daran liegt auf dem Tresen neben seiner Hand. Jemand hat mit einem glühenden Nagel eine Acht in das Holzstück gebrannt, der gelbe Aschenbecher mit der Pastisreklame zeigt Spuren von anderen brennenden Zigaretten.

      Der Freund spricht laut ins Telefon, schlägt einen großen Almanach auf, blättert, schreibt etwas mit dem Kugelschreiber hinein.

      Ihr Paß liegt in ihrer Tasche. Eine Blechdose mit Honigbonbons. Ein Taschentuch, etwas feucht. Eine Flasche mit Lavendelwasser. Ein Stoffportemonnaie mit Münzen.

      Ein carnet Metrofahrscheine.

      Sie könnte aus der Tür gehen, ohne sich umzudrehen. Den Eingang zur nächsten Metro suchen. Sich mit großer Geschwindigkeit unter der Erde bewegen, wieder ans Licht treten, bekannte Orte aufsuchen. Auf den Knopf am Tor in der Rue du Roi de Sicile drücken, das leise Geräusch hören, wenn die Concierge sie mit dem Summer einläßt. Könnte in ihrem Zimmer in Sicherheit sein, mit den konventionellen Stimmen hinter den Glastüren des Salons, Mariclôs heißer Stirn unter der Bettdecke im Kinderzimmer. Sie könnte zwischen ihre Laken kriechen und sich vom Schluchzen des Kindes wecken lassen, zu ihm gehen und es trösten, ihm die eigene schlaftrunkene Wärme geben.

      Yann hat ausgetrunken, er stellt sein Glas auf den Tresen.

      »Willst du?« fragt er, ohne sie anzusehen.

      Ihre Augen im Spiegel hinter der Bar sehen dunkel aus, auf der Hut, ein Tier auf der Flucht, aber sie ist nicht auf der Flucht.

      »Ja«, sagt sie. »Ich will.«

      Die weißen Bettücher leuchten über der dunkelroten Decke in dem dunklen Zimmer, die Fensterläden halten den Lärm der Straße ab, nur ein fernes Rauschen der Autos auf einer größeren Straße in der Nähe dringt durch den Spalt herein. Irgendwo summt eine Frauenstimme ein Kind in den Schlaf.

      Nannas Zähne klappern vor Kälte, ihr Körper glüht heiß, ihre Wangen brennen, die Haut kann jeden Moment dahinschmelzen. Ihr Mund ist trocken.

      »Ich habe Angst.«

      Ihre Stimme ist viel zu laut, ein kreischender Vogel.

      »Ich auch.«

      Dann hört sie sein Lachen und fühlt seine Arme um sich, und die Spannung löst sich so weit, daß sie mitlachen kann, sich mit ihm auf dem Bett herumrollt, bis sie umfallen, atemlos.

      Yann stützt sich auf die Ellbogen, sie spürt seinen Blick.

      »Nanna«, sagt er. »Das ist für mich nicht das erste Mal.«

      Sie hat es geahnt, weiß nicht, ob sie es überhaupt wissen will.

      »Aber für mich.«

      »Das wäre mir auch egal.«

      Sie schmiegt sich an ihn, schnuppert an seinem Hals, er riecht, wie ihr Mann riechen soll, nach gesunder Haut und frischer Luft, sogar hier in der Stadt riecht er nach Meer und Salz, nach Sonne und Wind.

      »Ich will dich sehen«, murmelt er ihr ins Ohr, und er knipst die kleine Lampe auf dem wackligen Nachttisch neben dem Bett an. Seine Hände knöpfen ihr Kleid auf und ziehen es ihr über die Schultern, helfen ihr aus dem Unterrock und dem Büstenhalter. Sie streift sich den Slip und die Strümpfe mit abgewandtem Blick ab. Vielleicht findet er ja, daß sie zu mager ist, zu häßlich, ihr Busen zu klein und ihre Hüften zu schmal, vielleicht ist er eher richtige Frauenkörper gewohnt, füllige, runde.

      Sie legt sich auf den Rücken, bedeckt die Augen mit einem Arm, wappnet sich, seiner Enttäuschung zu begegnen.

      Dann spürt sie seine Hand, zärtlich auf ihrem Körper, sie streicht ihr über den Bauch, über den Busen, teilt vorsichtig ihre Schenkel.

      »Du bist schön.«

      Er zieht ihr den Arm vom Gesicht, bringt sie dazu, die Augen zu öffnen.

      »Schön«, wiederholt er. »Du mußt lernen, darauf stolz zu sein.«

      Er knöpft sein Hemd auf, die Hose, befreit sich mit einer einzigen Bewegung von seinen Sachen. Sein Körper ist ein langes Viereck, die Glieder sind kräftig, stark.

      Sein Penis streckt sich ihr aus einem Büschel gekräuselter kastanienbrauner Haare entgegen, sie möchte ihn gern ansehen, traut sich aber nicht, kneift die Augen zu.

      »Guck nur«, sagt er und deutet darauf. »So schön bist du.«

      Er nimmt ihre Hand, und sie spürt ihn. Die Erregung läßt ihre Haut erschaudern, er ist hart gegen ihre Weichheit, der Schmerz ist kurz und scharf.

      Ihr Wimmern vermischt sich mit seinen heftigen Atemzügen.

      »Meine Geliebte.«

      Er zieht sich aus ihr zurück und liebkost sie, bis ihre Lust zurückkehrt, und nun zieht sie ihn an sich heran, will sich mit ihm bewegen, sich ihm öffnen und ihn nie wieder loslassen, und sie läßt sich selbst los und genießt den Rhythmus, genießt die vibrierende Süße, all das Weiche und Harte zwischen ihnen, genießt die Erschöpfung.

      Das Wasser im weißen Porzellanbecken des Bidets leuchtet hellrot. Sie sträubt sich ein wenig unter Yanns Händen, er hat sich neben sie gekniet, wäscht sie vorsichtig, tupft sie mit dem dünnen weißen Handtuch trocken.

      »So.«

      Die Knochen finden ihren Platz nicht mehr in ihrem Körper, sie ist aus den Gelenken gerutscht und nur notdürftig wieder zusammengesetzt worden.

      Er hüllt sie in eine Decke und schiebt sich neben sie, legt seinen Arm unter ihren Nacken, streichelt ihre Wange, ihr Haar, haucht auf ihre Augenlider.

      »Wie saubere Laken.«

      Yanns Stimme läßt sie im Halbschlaf lächeln.

      »Wie unter einer Brücke hindurchzutauchen.«

      Sie kuschelt sich an seine Brust, pustet gegen das geringelte Haar.

      »Wie schwimmen im Dunkeln.«

      Yanns leises Lachen ist das letzte, was sie hört, bevor der Schlaf sie einhüllt, ganz sanft, ein Boot, das langsam vom Ufer davongleitet.

      April – Mai 1961

      Das zerbeulte Auto von Yanns Mutter klappert fürchterlich auf der holprigen Landstraße. Das schöne Frühlingswetter aus Paris ist irgendwo unterwegs verschwunden, im Westen türmen sich Wolken übereinander. Die Luft draußen auf dem Bahnhof war beißend kalt, sie mußten zu dem Auto auf dem Parkplatz laufen, um den nächsten Regenschauer zu vermeiden.

      Die Mutter fährt ihr altes Auto mit routinierten Bewegungen, sie hat eine Zigarette im Mund, kneift die Augen gegen den Rauch zusammen. Seit sie Nanna auf dem Bahnsteig die Hand gegeben hat, hat sie ununterbrochen geredet, und zwar nur mit Yann, der auf dem Beifahrersitz neben ihr sitzt. Ihre Stimme hat einen wohltönenden Klang, die Worte trippeln in klaren, ordentlichen Reihen von ihren Lippen.

      Nannas schmaler Körper zittert leicht, sie ist müde von der Bahnfahrt, in Abwehrposition. Der Redeschwall der Mutter und Yanns Kommentare sind so schnell, so einvernehmlich, daß sie


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