Nanna - Eine kluge Jungfrau. Lis Vibeke Kristensen

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Nanna - Eine kluge Jungfrau - Lis Vibeke Kristensen


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alt ist das Hotel?« fragt sie höflich.

      »Yanns Urgroßvater hat es gebaut, seitdem ist es ein paarmal erweitert worden.«

      Die Mutter hat eine weißgestrichene Tür geöffnet.

      »Ihr Zimmer.« Sie nickt zum Ende des dunklen Korridors. »Bad und WC sind unten am Ende des Flurs.«

      Mit einer professionellen, schwungvollen Bewegung hebt sie den weißen Koffer auf einen kleinen Hocker hinter der Tür, wirft noch einen Kontrollblick ins Zimmer, das hinter den halb geöffneten Fensterläden im Dunkeln liegt. Streift mit der Hand im Vorbeigehen eine Schranktür, die mit einem leisen Seufzer ins Schloß fällt.

      »Das Essen gibt es in zwanzig Minuten.« In der Türöffnung stehend beschreibt sie den Weg, ohne Nanna anzusehen: »Durchs Restaurant, dann links.«

      Einen Moment später ist sie den engen Flur entlang verschwunden. Nanna hört ihre schnellen Schritte auf der Treppe. Kurz danach dringt ihre Stimme durch den Boden unter Nannas Füßen hindurch, wird von einer Männerstimme irgendwo anders im Gebäude beantwortet. Der Duft ihres Parfüms, überraschend vanillesanft, schwebt noch im Zimmer.

      Meine Schwiegermutter. Nanna begutachtet das Wort. Bellemère. Auch wenn sie müde schien, sie ist schön.

      Nanna ist mitten in dem geräumigen Zimmer stehengeblieben. Sie hat sich für diesen Besuch auch für die kleinste ihrer Entscheidungen von Yanns Urteil abhängig gemacht, und dieses Gefühl lähmt sie jetzt. Sie ist darauf angewiesen, auf ihn zu warten, eine Marionette, die auf ihren Spieler wartet.

      Das Klappern von Metall gegen Metall, weit entfernt, etwas, das wie eine Bratpfanne klingt, die über einer Gasflamme gerüttelt wird, dringt an ihre Ohren, ein lautes Zischen wie von kochendem Öl, Klirren wie von vielen Flaschen, die in eine Kiste gepackt werden. Ihr Magen zieht sich bei dem Gedanken an Essen zusammen. Die Anspannung hat sie den Appetit verlieren lassen, auch wenn ihr Magen wie ein Vulkan unter dem Stoff des Rocks grummelt. Wie sie jemals Messer und Gabel halten, etwas unter dem Blick von Yanns Mutter essen können soll, das weiß sie nicht.

      Es pocht in der Blasenregion, sie hat die übelriechende Toilette im Zug vermieden, hat sich seit vielen Stunden zurückgehalten, aber jetzt traut sie sich nicht auf den Flur hinaus, wirft dem Bidet in der Ecke einen sehnsüchtigen Blick zu.

      Laufende Schritte auf der Treppe.

      »Warum stehst du denn hier im Dunkeln?«

      Fenster und Vorhänge werden mit einem Schwung aufgerissen. Eine wahre Lichtwoge erfüllt das Zimmer, überwältigend weiß.

      Sie sieht seinen Rücken als Silhouette vor dem Fenster, verzeiht ihm, daß er ihr davongelaufen ist, daß er sie seiner reservierten Mutter überlassen hat, sie allein in einem unbekannten Zimmer hat stehenlassen, allein in dieser Welt, die die seine ist.

      »Yann.«

      Er dreht sich um, kommt zu ihr.

      »Ich möchte, daß sie mich mag.«

      Seine Hände auf ihren Schultern sind brüderlich, der Körper erscheint steif unter der Jacke.

      »Das wird sie schon.«

      Der aufmunternde Ton klingt nicht überzeugend. Nanna versucht seinen Blick einzufangen, aber er hat sich bereits zur Tür gedreht.

      »Zeit zum Essen. Kommst du?«

      »Warte.«

      Sie erinnert sich an all die Male, als sie um die Aufmerksamkeit ihres Vaters gebettelt hat, so war es mit Yann bisher nie, und sie will nicht, daß es so wird. Trotzdem faßt sie ihn beim Ärmel, hält ihn fest.

      »Wäre es dir lieber, wenn ich nicht mitgekommen wäre?«

      Eine erstarrte Sekunde, ein Film, der gerissen ist. »Ja?«

      »So ist meine Mutter nun einmal.« Sein Gesicht mit der Falte zwischen den Augenbrauen ist ihrem ganz nah, die Augen flehen, um was, weiß sie nicht. »Sie hat immer nur mich gehabt.«

      Und dabei war sie sich ihrer Sache so sicher gewesen – jetzt weiß sie gar nichts mehr.

      Ihre Hand hat den Stoff seiner Jacke gepackt, eine unbekannte Hartnäckigkeit hat sich ihrer bemächtigt. Vielleicht ist er ja schon auf dem Weg von ihr fort, unerreichbar, vielleicht schubst sie ihn mit ihrem Beharren weg, aber sie muß es fragen, jetzt.

      »Gibt es einen Platz für mich?« Ihre Stimme trägt, sie ist stark, ohne jede Spur von Betteln oder Weinen. »Yann?«

      »Einen Platz für dich?«

      Er räuspert sich, wie immer, wenn er unsicher wird. Jetzt verschwindet er, kann sie noch denken. Dann fühlt sie seine Hand an ihrer Wange.

      »Ohne dich will ich gar nichts.«

      Bläulicher Tabakrauch wie tiefhängende Wolken, das Lokal ist dunkel, voller Stimmen und der Wärme vieler Körper, dem bitteren Geruch nach Zigaretten und abgestandenem Bier.

      Yann hat sich entspannt, das erste Mal, seit sie angekommen sind, den ganzen Weg bis zur Schulstadt am späten Nachmittag hat er in dem klappernden Wagen gesungen, alte Lieder in einer unmöglichen Sprache, die Nanna neugierig macht.

      Sie hat die erste Etappe überstanden, ist mit sich selbst ganz zufrieden. Die formvollendete Konversation, das höfliche Interesse fürs Hotel – ihre Erziehung, die ihr seit ihrer Kindheit ins Blut übergegangen ist, ist ihr wieder einmal zu Hilfe gekommen. Die Schokoladenschachtel ist überreicht worden, und während der langen Mahlzeit ist die Mutter etwas aufgetaut, hat zumindest ein paarmal gelächelt.

      Von den voll besetzten Tischen strecken sich Yann Hände entgegen, Nanna gibt sich alle Mühe, Worte und Namen zu verstehen, aber die Rufe, die ihnen von allen Seiten entgegenschallen, ertrinken im Lärm der Flipperautomaten und der zischenden Bierzapfanlage. Die Bar ist das Stammcafé aus der Gymnasiastenzeit, und Yann ist ein Heimgekehrter, dessen Anwesenheit einen Glanz auf die alten Freunde wirft, die immer noch in der Provinz festsitzen, in der Fischerei, im Betrieb des Vaters, in den wenigen Ausbildungsstätten, die die Gegend zu bieten hat.

      Ein magerer Mann in einem zerknitterten grauen Anzug sitzt allein an einem Tisch. Seine ganze Person ist abgenutzt wie ein alter Mantel, die freundlichen Augen gucken verschleiert durch die fettigen Gläser seiner Brille.

      »Mein Musiklehrer«, Yann ist stehengeblieben, nickt dem Mann zu.

      »Nanna.«

      Der Mann murmelt seinen Namen, seine Hand ist schmal und kühl in ihrer.

      »Meine Verlobte. Ma fiancée

      Einen Moment lang glaubt Nanna, nicht richtig gehört zu haben.

      Der Mann hat sich halb erhoben, er hebt das Glas mit dem giftig grünen Pastis in Nannas Richtung, schwankt ein wenig.

      »Herzlichen Glückwunsch.«

      Meine Verlobte. Die Worte sausen in Nannas Kopf herum. Vielleicht ist das ja nur etwas, mit dem er spielt, eine Formulierung, die ihm zufällig eingefallen ist. Am liebsten würde sie ihn zur Seite ziehen, ihn fragen, was er damit gemeint hat, aber Yann zieht sie weiter zu einem runden Tisch in der hintersten Ecke der Bar.

      Ein elektrischer Ventilator über dem Tisch zerteilt mit einem leise summenden Geräusch den Zigarettenrauch von zwei Männern. Sie hat sie schon einmal gesehen, früher am Nachmittag, in dem scharfen Licht vor dem Geräteschuppen. Der größere von den beiden hat Bartstoppeln auf seiner massiven Kieferpartie, er ähnelt einem bei zu großer Hitze gebackenen Brot, die kräftigen Oberarme wölben sich unter der dünnen Jacke.

      »Yves.«

      Sein Handgriff ist unerwartet schlaff, er läßt ihre Hand fallen, vermeidet es, ihr in die Augen zu sehen.

      Unsicher wendet sie sich ab, trifft auf einen neugierigen, hellblauen Blick aus einem Paar leicht auseinanderstehender Augen.

      Der kurze Körper ist weich, formlos, die verblichenen Sommersprossen auf der hellen Haut des Mannes haben etwas Verwaschenes an


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