Nanna - Eine kluge Jungfrau. Lis Vibeke Kristensen

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Nanna - Eine kluge Jungfrau - Lis Vibeke Kristensen


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verwirrt über seinen schnellen Gemütswechsel.

      »Wohin du willst«, sagt sie und erinnert sich plötzlich an ihren alten Konfirmationspfarrer, an diesen freundlichen Mann, der so von der Liebe reden konnte, daß zwanzig Vierzehnjährige aufhörten zu kichern. Sie denkt die Worte, die sie damals hörte und versteht jetzt, was sie bedeuten.

      Wo du hingehst, da werde auch ich hingehen.

      Der Museumsgarten führt leicht schräg hinunter zu einem großen Steinbassin. Die geschnittenen Linden tragen noch keine Blätter, aber die Luft ist warm, vibriert vom Vogelgesang. Über ihren Köpfen fliegt ein Singvogel mit einem Zweig im Schnabel, der doppelt so groß ist wie der Vogel selbst. Der kleine Körper kippt unter dem Gewicht zur Seite.

      Die Skulpturen des Parks sind neu für Nanna. Die Bronzekörper, sonderbar lebendig, die Bronze ähnelt echter Haut, es scheinen richtige Muskeln unter der polierten Oberfläche zu liegen, sie strahlen ein Gefühl gebündelter Energie aus, eine Kraft, die gleichzeitig fremd und vertraut ist.

      »Sie sind merkwürdig, nicht wahr?« Sie dreht sich Yann zu. Ein Männerkörper streckt sich vor ihnen gen Himmel, in einer Bewegung, die nie aufzuhören scheint. »Der Genius des ewig Ruhenden«, liest sie auf dem Sockel. »Vielleicht ist es ja wirklich so?«

      »Daß man in einer Bewegung ruht? Fließt, schwebt, sich streckt, so weit man kann. Das ist wohl so.«

      »Warst du schon einmal hier?«

      Yann nickt.

      »Auf einer Klassenreise, im Gymnasium. Wir hatten einen Lehrer, der ganz wild auf Rodin war, der hat uns hierher geschleppt. Eine Jungsklasse, das war eigentlich ziemlich beknackt. Wir haben nur gekichert und blöde Bemerkungen gemacht.« Yann schüttelt bei dem Gedanken den Kopf. »Damals hat mir das nicht viel gebracht, aber ich wußte, daß ich wiederkommen wollte. Komm, lass uns reingehen.«

      Die sanfte Frühlingsluft schwebt wie ein graurosa Schleier in den hohen Räumen. Die Skulpturen stehen auf Kaminsimsen, vor Spiegeln, mitten im Raum auf Sockeln – Pflanzen, die aus den Steinblöcken herauswachsen. Fast atmen sie, das Blut pocht in ihnen, Nanna hat noch nie eine so intensive Nähe zu toten Dingen gespürt.

      »Der ewige Frühling.« Sie zieht Yann zu einer kleinen Figurengruppe hin, ein Kuß in schwarzer Bronze, anmutig, schamhaft.

      »Das ewige Idol.« Er zeigt mit dem Finger auf eine andere Gruppe.

      Der Kuß unter der linken Brust der Frau, eine Sehnsucht, so stark, daß Nanna spürt, wie sich ihre eigenen Brustwarzen zusammenziehen, wie bei den Abschiedsküssen von Yann, wenn der Kuß vom ganzen Körper gegeben und empfangen wird.

      Hand in Hand gehen sie durch die Säle, treten vorsichtig auf das abgenutzte Parkett in Flechtmuster, jetzt schweigend. Sie schauen und schauen, und die Formen um sie herum verschwimmen und verwandeln sich in ein Gefühl tauber Süße, das nicht in Worte zu kleiden ist.

      Yann ist vor einer Skulptur stehengeblieben.

      »Sieh mal«, flüstert er, und Nanna sieht, es ist ihr peinlich, sie will sich abwenden, aber Yann hält sie fest.

      Die Marmorfrau streckt das eine Bein zum Himmel. Der Sendbote der Götter, ihr Geschlecht ist offen, ausgestellt, aber sonderbar unverletzlich, das Geschlecht erzählt ein Geheimnis. Vielleicht ist es das Geheimnis der Götter, vor ihren Augen pulsiert die Marmorfigur vor heißem Leben.

      »Sie ist stolz«, flüstert Yann. »Stolz und schön.«

      Ihre Augen treffen sich in dem fleckigen Spiegel hinter der Statue, und etwas in Yanns Blick läßt Nanna ihre Hand zurückziehen. Sie taumelt in den angrenzenden Raum, bleibt dort stehen und spürt, wie das Blut in ihrem Körper rauscht, traut sich nicht, sich umzuschauen.

      Als sie endlich aufblickt, steht sie Auge in Auge mit dem Schmerz. Ein zurückgeworfener Kopf in glänzender Bronze, geschlossene Augen, ein Schrei, der nach innen geht, zurück, in die Frau, unerreichbar. Nanna dreht sich weg, will die Verzauberung von vorhin hüten, aber die Verzweiflung strahlt ihr entgegen von einem Frauenkörper, der sich herabgebeugt hat, einen Fuß umfaßt und ihn festhält, das Unglück in sich hält, das zu grausam ist, um es loszulassen.

      Nannas Fluchtweg ist wieder blockiert, von einem männlichen Oberkörper, einem Torso, unter der grünlich angelaufenen Bronze verbirgt sich ein Schmerzensschrei. Ein Mann, der leidet, getroffen von einer scharfen Waffe, er begreift nicht, wieso. Er ist jung, vielleicht noch ein Junge, er erinnert sie an Yann, sie will weg von hier und dreht sich erneut um, und da steht er vor ihr, nimmt sie in seinen Armen auf.

      »Ich habe Angst gekriegt«, murmelt sie gegen seine Schulter, und er streichelt ihren Rücken und streicht ihr über den Nacken, trotz der neugierigen Blicke der anderen Museumsgäste.

      »Wovor hast du Angst gekriegt?«

      »Dich zu verlieren.« Die Worte kommen von ganz allein, jetzt hat sie es gesagt. »Ich liebe dich«, flüstert sie, so leise, daß sie es kaum selbst hören kann.

      Die Straße ist menschenleer, als sie aus dem Museumstor treten, das Licht von einem verschwommenen Blaugrau. Yanns Arm ruht auf Nannas Schulter.

      Ein vertrockneter Blumenstrauß raschelt unter ihren Füßen, sie schaut auf.

      Michel de Bretagne. Sie liest die kleinen Metallbuchstaben an der Mauer, ein Datum, dreht sich mit fragendem Blick zu Yann um.

      »Es waren so viele«, murmelt dieser, und seine Augen glänzen plötzlich. »Junge Männer, in meinem Alter, mein eigener Vater.«

      Sie hat es nie gewagt, ihn nach seinem Vater zu fragen, er selbst hat das Thema vermieden. Die Geschichte von Yann war immer die Geschichte von Yann und seiner Mutter und seiner Großmutter und dem Hotel, von Yann und seinen Freunden, mit denen er Musik macht, vom Meer und dem Licht dort draußen im Westen.

      »Dein Vater?«

      »Ein andermal.«

      Er zieht sie von der Mauer fort, weg von den braunen Blumen. Auf dem Boulevard stoßen sie auf Menschen, die wie sie selbst herumschlendern, junge Paare, die Hand in Hand gehen, ältere Männer, die sich auf ihre Stöcke stützen, ihnen mit freundlichen Augen unter schwarzen Baskenmützen zunicken.

      Ein Hund mit einem Halsband in Schottenkaro räkelt sich auf seinem fetten Rücken, die Pfoten in die Luft gereckt, das Band um seinen Hals hat das gleiche Clanmuster wie Nannas Kleid unter der kurzen Wildlederjacke, und die Frau, die den Hund an der Leine hält, deutet auf das Kleid und das Halsband und faßt sich mit einer fröhlichen Geste an die Stirn, sie bleiben stehen und lachen mit ihr.

      Langsam gehen sie an den Steinfassaden entlang, ziellos in dem sanften Licht. Die Luft ist immer noch mild, als der hellbraune Strom des Flusses hinter den Brustwehren der Kais vor ihnen auftaucht. Nannas neue blaue Schuhe drücken an den Füßen, aber sie will diese dahinfließende Stimmung nicht zerstören, keinen Grund für eine Frage nach Richtung oder Ziel geben. Sie sind auf dem Weg zu etwas, sie weiß nicht, was, sie weiß nicht, ob Yann es weiß, sie bewegen sich langsam, getragen von langen Dünungen, gehen immer weiter in dem schwindenden Licht des späten Nachmittags.

      In Nannas Kopf und Körper pochen die Bilder des Nachmittags, die sensuellen Kurven der Skulpturen, die nackte Leidenschaft, das verzerrte Gesicht des Leidens. Durch die Jacke und das brave Kleid hindurch spürt sie Yanns warmen Körper, will ihm nah sein, noch näher, aber sie weiß nicht, wie. Sie weiß nicht, ob das möglich ist. Weiß nicht, ob sie sich wirklich trauen würde, wenn es möglich wäre.

      Die Lampen über ihren Köpfen sind angegangen, als Yann in eine Gasse einbiegt, die sie nie zuvor gesehen hat. Die schmutzigweißen Fassaden der Häuser haben nur wenige Stockwerke, sie haben nichts Elegantes an sich, sehen aber gemütlich aus, freundlich, Menschen leben ihr gutes Leben hinter den kleinen Fenstern mit den angemalten Fensterläden und den Blumenkästen auf den Gesimsen.

      »Mein Freund arbeitet hier«, sagt Yann, und Nanna sieht, daß die Tür hinter ihnen in ein kleines Hotel führt. Ein dunkelhaariger Mann steht hinter dem Tresen am Empfang, hebt die Hand zum Gruß.

      Das


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