Stark wie die Mark. Rudolf Stratz

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Stark wie die Mark - Rudolf Stratz


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weisse Kissen. Wohin er sich in den Kopf geschossen, war nicht zu erkennen. Er röchelte. Er lebte noch ...

      Der alte Bornim war 1870 als Johanniter mitgewesen. Hatte Lazarette unter sich gehabt. Wusste Bescheid: Hier war keine Zeit zu verlieren. Zum Arzt! So rasch wie möglich! Jetzt war er noch daheim. Die Kreisstadt nur eine Viertelstunde raschen Trabs entfernt. Zum Glück hatte der Diener die Ackerknechtskräfte seines früheren Berufs. Er trug fast allein den Bewusstlosen, in eine Decke gewickelt, hinab in den Wagen. Exzellenz von Bornim half ihm, so gut er konnte, und setzte sich auf den Vordersitz. Gegenüber der Diener, im Schoss den wunden Mann. Vorwärts! ... Niemand sonst im Hause hatte etwas gemerkt. Es schien einem selber wie ein böser Traum vor Tag und Thau ...

      Als Wilke von Bornim nach einer guten Stunde allein wieder vor dem Herrenhaus von Wendisch-Wiesche hielt, lachte goldener Sonnenschein und zwitscherten die Vögel. Innen hantierten ahnungslose Mägde. Schwatzten. Trällerten vor sich hin. Machten grosse Augen beim Anblick des alten Herrn. Der hatte seine Pflicht getan: den Verwundeten, der immer noch atmete, dem Arzt und Krankenhaus übergeben. Nun befahl er: „Wecken Sie mal gleich das Fräulein Ilse. Sie möchte so gut sein und sofort aufstehen und herkommen! Und ihre Mademoiselle auch!“ Und als die Französin hinter ihrer verschlossenen Türe etwas von: „Mon Dieu!“ piepste, wurde er ärgerlich auf das unnütze Frauenzimmer.

      „Keine Sperenzchen, zum Kuckuck! Sonst fahr’ ich ohne die dumme Trine ab ... Oh ... da sind Sie ja, Ilschen!“ Seine Stimme war sofort freundlich, väterlich, gütig. Er nahm die Hand des Kindes, das verwundert, aber ganz vergnügt und mit klaren Augen vor ihm stand, in seine runzlige Rechte. „Papa lässt Sie grüssen! Er hat plötzlich nach Berlin müssen und mich gebeten, Sie wieder für ein paar Tage zu uns nach Sommerwerk zu nehmen. Möchten Sie?“

      „O fein!“ sagte die Kleine erfreut. Das war ihr nichts Neues. Sie war ja erst vorgestern mit den Bornims zusammen gewesen. Sie kletterte flink in den Wagen. Dass die Französin auch mitkam, war ihr einziger Kummer. „Nach Hause!“ befahl Herr von Bornim und gab dem Kutscher durch ein Stirnrunzeln ein Zeichen, zu schweigen. Der nickte stumm im Einverständnis. Die Pferde liefen. Die kleine Ilse sagte plötzlich: „O pfui!“

      „Was denn, Kind?“

      „Sie haben ja Blut am Ärmel, Exzellenz!“

      Der alte Herr biss sich auf die Lippen. Er ersann rasch etwas. Er hatte sich beim Rasieren geschnitten ... natürlich ... heute im Dunkeln ... Aber Ilse von der Zültz dachte schon nicht mehr daran. Sie sass still da, ein Lächeln um den Mund. Die Morgensonne stand schon ziemlich hoch. Sie übergoss ihr zartes, feingeschnittenes Gesicht mit einem geheimnisvollen rötlichen Schein. Und die grossen dunklen Augen. Das seidenweiche Haar. Die schlankknospende Gestalt. Wilke von Bornim sah sie von gegenüber an, und es ging ihm, zum erstenmal, unwillkürlich durch den Kopf: ‚Herrgott ... wird das Mädel mal schön ...‘

      ... Und das Temperament des Vaters in den Adern ... Und keine Mutter ... kein Elternhaus ... kein Geld ...

      Aus der jungen Wintersaat am Wege stiegen die Lerchen mit hellem Schlag empor ins weite, unendliche Blau. Ilse folgte ihnen mit dem Blick und lächelte träumerisch. So fuhr sie in das Leben hinaus.

      3

      Die Schwestern schliefen noch. Die Eltern erst recht. Alles, was herrschaftlich war in Sommerwerk, stak noch in den Federn. Nur sie, Eva-Marie von Bornim, die Jüngste des Hauses, war schon auf den Beinen. Treppauf, treppab. Durch Küche und Keller. Haus und Hof. Einer musste sich doch darum kümmern ... Es juckte einem ja in den Fingern ...

      Der blonde Kopf des Landfräuleins zwängte sich durch die Luke einer Falltüre ans Tageslicht. Sie war unten, in der winterlichen Russenstube, gewesen, um zu sehen, wie der dortigen Rattengemeinde die Phosphatpillen bekommen waren. Sie betrat jetzt, frisch, drall, mit blühenden Backen, den mächtig gewölbten, dämmerigen Kuhstall, in dem es leise von Milch plätscherte und die Schweizer, auf ihren Schemeln kauernd, mit nervigen Fingern die weissen Strahlen aus den Eutern fliessen liessen. Draussen harrte schon der Wagen, um die Blechkannen auf die Bahn nach Berlin zu bringen. Natürlich wurde Milch gestohlen ... die Abrechnungen stimmten nie. Aber wo? Wie? ... Es war ein Rätsel ...

      Da stand der dänische Zuchtstier in seinen Ketten, stumpfsinnig, mit blutunterlaufenen Augen. Das junge Mädchen fürchtete sich nicht. Sie ging dicht an dem Bullen vorbei, tätschelte flüchtig die Schädel der im Verschlag zusammengedrängten Saugkälber, öffnete dann kräftig mit ihrer weissen, nicht eben kleinen Hand die Türe und schlich lauernd auf den Fussspitzen, wie ein Indianer auf dem Kriegspfad, um die Ecke, dem säuerlichen Geruch des Hühnerhauses zu. Einmal musste sie doch die Eierdiebe fassen! ... Nein — wieder nichts ... nur geschäftiges, vielstimmiges Gegacker der Orpingtons und Wyandotten um die alte Mamsell. Mit der pflog das Fräulein von Bornim eine lange und ernste Unterredung über die elenden Freitagsfische, die vorgestern als Deputat vom See gekommen waren — winzige Hechte, lächerliche Schleien, Aale wie Regenwürmer ... Wer die grossen Fische fing? Lieber Gott ... man sah ja des Nachts deutlich die Lichter auf dem Wasser ... Die Diebe arbeiteten womöglich mit Dynamit ...

      Und wo man hinsah in Sommerwerk, dieselbe Wirtschaft. Im Gemüsegarten die Glasscheiben der Mistkästen vom Hagel zerschlagen, weil niemand rechtzeitig die schützenden Läden darübergedeckt hatte, die Spargelbeete versandet, in den Blumenrabatten vor dem Hause kratzten die Italienerhühner den Samen aus der Erde, während ihr Hahn abseits einen heldenmütigen und aussichtslosen Zweikampf mit dem grossen Puter ausfocht, dass die Federn stoben und das Blut rann. An den Apfelbäumen fehlten die Kalkringe ... gute Zeiten für die Blutlaus! Dicke Raupen schmarotzten im jungen Lindengrün. Nirgends Ordnung. Nirgends das Auge des Herrn. Eva-Marie von Bornim seufzte, sah auf die Turmuhr, die nun schon die achte Morgenstunde wies, und ging den Weg vom Gutshof zur Chaussee und auf dieser weiter mit blossem blonden Scheitel, so wie sie war, zuweilen nach vorn spähend, die Hand vor den Augen. Nun hemmte sie den Schritt. Ein Jagdwagen bog in raschem Trab um die Ecke. Drei junge Leute sassen darauf. Ihre Brüder, die aus Berlin und Potsdam für den Sonntag herauskamen. „He, Christian! Halt!“ Geschrei und Gelächter. Die Schwester wurde ohne viel Umstände von sechs Armen gepackt und auf das hohe Gefährt gehisst. Lüdecke, der Gardekavallerist in grauem Urlaubszivil, deklamierte dabei:

      „Ziehet, ziehet — hebt

      Sie bewegt sich ... schwebt!“

      Er hatte ein rötliches, süffisantes Gesicht, das durch die Bartkoteletten zu beiden Seiten älter erschien als seine achtundzwanzig Jahre. Wenn für irgend jemanden, so passte für ihn das Monokel ohne Rand und Band im rechten Auge, dessen Lid er noch gemeinhin humoristisch zwinkernd zusammenkniff. Sein älterer Bruder, Hans Christoph, der Assessor im Auswärtigen Amt, war sein gerades Gegenteil — länglich in Antlitz und Gestalt, peinlich korrekt in der Haltung, ängstlich genau nach Londoner Schnitt gekleidet, fast immer stumm. ‚Weil ihm nischt einfällt!‘ meinte Lüdecke, vor dessen Kasino-Ulk nichts in- und ausserhalb der Armee, mit Ausnahme Seiner Majestät, sicher war. Eva-Marie aber wandte sich, als sie Platz genommen, händeringend an den dritten: „Junge ... Junge ... wie siehst denn du aus?“

      Quer über das flaumbärtige, verwegene Gesicht des Fähnrichs von Bornim zogen sich zwei dicke, halbverblasste blaue Streifen. Er machte eine verächtlich abwehrende Handbewegung. Vor Frauenzimmern renommierte man mit derlei nicht! Nachher bei Papa ... das war etwas anderes. Neben ihm erkundigte sich Lüdecke: „Evchen ... dass mir die Damenwelt nachläuft, bin ich ja gewohnt! Aber dass einem sogar die schwesterliche Liebe entgegenkommt ...“

      „... Wegen der grässlichen Geschichte in Wendisch-Wiesche! Sonst liefe ich mir wegen euch weiss Gott nicht die Beine ab ... Herr von der Zültz hat sich doch vor vierzehn Tagen eine Kugel in den Kopf geschossen ...“

      „Lebt!“ sagte Lüdecke. „Liegt in Berlin und lebt. Bleibt der Mitwelt erhalten!“

      „Das weiss ich. Seine Tochter, die Ilse, ist immer noch bei uns in Sommerwerk. Papa und die andern im Kreis haben gesammelt, um sie für vier Jahre in ein Pensionat in der Schweiz zu schicken, bis sie gross ist. Denn das Gut kommt natürlich unter den Hammer!“

      „Und für den Ollen interessiert sich der Staatsanwalt!“ ergänzte


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