Geschichten vom Pferdehof. Lise Gast
Читать онлайн книгу.wohl! Sie überlegte. Der Wachmann, der mit den Strafgefangenen aufs Feld ging, war immer bewaffnet, er hatte stets seine Dienstpistole bei sich, das wußte sie. Wenn er diesen überrannt und niedergeworfen hatte, konnte er ihm auch die Pistole abgenommen haben. (Es stellte sich später heraus, daß es sich wirklich so zugetragen hatte.) Pölze sah das klar vor Augen, sagte sich aber, die Möglichkeit, daß er keine Waffe hatte, sei genauso groß.
Außerdem: gesetzt den Fall, er hatte eine, warum sollte er sie auf sie richten? Um sich noch schuldiger zu machen und dabei keinen Vorteil zu haben? Soviel Überlegung müßte er eigentlich aufbringen, wenn er nicht ausgesprochen dumm war.
Vielleicht, um ihr Geld abzunehmen? Daß sie etwas bei sich trug, konnte er natürlich annehmen. Eins aber würde er bestimmt wollen, an einem lag ihm unter allen Umständen – an Zivilkleidung. In seinem Strafgefangenanzug hatte er keine Chance durchzukommen. Die Absicht, an Zivilkleidung zu gelangen, konnte ihn dazu treiben, handgreiflich zu werden, milde gesprochen. Daran war nicht zu deuteln. Pölze fühlte ihr Herz sich zusammenziehen, und wieder trieb sie unwillkürlich die Pferde an.
Vielleicht irrte sie sich doch. Vielleicht war da kein Reiter hinter ihr, es hatte nur irgendwo ein Echo gegeben, oder sonst ein Spuk narrte sie. Pölze war nicht umsonst auf dem Lande aufgewachsen, sie wußte, wieviel vorkommen kann, was einem als Spuk oder Bedrohung erscheint und nichts ist als eine Sinnestäuschung ist. Deshalb versuchte sie, ruhig zu bleiben und sich nichts einzubilden, sondern sich dies, was sie alles sekundenschnell, aber sehr deutlich gedacht hatte, auszureden. Würde der Strafgefangene ausgerechnet hier hinter ihr herreiten, wo es doch tausend und einen anderen Weg gab? Würde er sie überfallen wollen, sie, eine Frau, von der er höchstwahrscheinlich nicht einmal passende Kleidung zu erwarten hatte?
So sehr wahrscheinlich war das vielleicht nicht. Wenn er überhaupt wußte, daß sie unterwegs war, und das mußte er wissen, wenn er sie verfolgte –, dann war er auch darüber informiert, daß Bertram ursprünglich mitgefahren war und daß er also Gepäck, sprich Anzüge, im Wagen hatte.
Nun, Pölze Werth, was meinst du dazu?
Deubel auch, mußte ihr das passieren! Pölze fühlte, wie die Angst Herr über sie werden wollte. Einen Augenblick lang fand sie, daß das Leben sie schlecht behandelte: Sie war allein unterwegs, hatte ein kleines Kind im Wagen und ein zweites unter dem Herzen, und es wurde dunkel, ohne daß sie wußte, wo sie war. Genügte das nicht? Hätten nicht Frauen in ihrer Lage jetzt absolut den Anspruch darauf, „nicht weiterzuwissen“ und mitleiderregend in Ohnmacht zu fallen? Vor allem Frauen von früher, die, je zarter und anfälliger sie waren, desto höher im Preise standen?
Pölze fühlte sich versucht, diese Frauen zu beneiden. Aber schon im nächsten Augenblick aber erhob sich ein tapferer Wille in ihr. Sie hatte Zeit ihres Lebens mit einem etwas verächtlichen Mitleid auf solche Frauen herabgesehen und sie nicht für voll genommen. Sich ausreden, ich erwarte ein Kind, ich bin schwach, habt Mitleid mit mir?
Oh, danke. Ich erwarte ein Kind, nun muß ich Mut und Kraft für zwei haben, das klang schon anders! Pölze setzte sich aufrecht hin, drehte die Peitsche in der Hand um, so daß der dickere Kolben, an dem man sie sonst zu halten pflegt, nach oben zeigte und das dünne, schwippende Ende nach unten. Komm nur ran, mein Junge, dann sollst du was erleben! Ohne Gegenwehr bekommst du auch nicht einen Fetzen von Bertrams gutem Anzug, den er tatsächlich eingepackt und mitgenommen hatte, um damit auf Sveas Fest zu prunken.
9
So fuhr sie, die Peitsche kampfbereit in der Rechten, durch die schnell einfallende Dunkelheit, immerzu nach hinten lauschend. Übrigens wenn sie sich hatte einreden wollen, sie bildete sich die Hufschläge hinter sich nur ein, dann war das jetzt vorbei. Klack, klack, klack – sie hörte sie jetzt sehr deutlich, sehr nahe, nicht immer, aber oft. „Vorwärts. Schnick und Schnack! Lauft, was ihr könnt, vielleicht begegnen wir doch jemandem, der uns hilft.“
Die Ponys liefen. Sie liefen sehr sicher, schienen im Dunkeln gut sehen zu können. Pölze wagte nicht, anzuhalten und die Wagenlaternen zu entzünden, was längst hätte geschehen müssen. Berti schien eingeschlafen zu sein. Während des Kutschierens zog sie ihre Jacke aus – an ein anderes Kleidungsstück reichte sie von ihrem Sitz aus nicht – und legte sie um ihn. Es war jetzt kühl, kalt. Ja sogar empfindlich kalt. Und immer noch keine Lichter eines Dorfes vor ihr!
Bestimmt fuhr sie falsch, nun schon eine ganze Weile. Während sie das dachte, wurde ihr bei aller Kälte heiß vor Schreck. Die einzige Chance, die ihr blieb, war ja, so bald wie möglich in die Nähe von Menschen zu kommen. Wenn sie aber auf diesem vermaledeiten Waldweg weit um alle Ortschaften herumfuhr, die halbe, die ganze Nacht hindurch vielleicht?
Jetzt fühlte sie doch, wie die Angst und das Entsetzen sie überwältigen wollten. So ein Strafgefangener ist ja auch kein herzig-freundlicher Mitmensch, an dessen gute Seiten man appellieren könnte. Sie befand sich in wirklicher Gefahr, sie und ihre Kinder.
Mit einem plötzlichen Entschluß parierte sie durch.
„Haaaaalt! Oho, steh!“ befahl sie halblaut, die Zügel anziehend. Die Isländer gehorchten. Pölze wandte sich um. Lieber der Gefahr ins Auge sehen, als weiter so im Dunklen vor sich hin hasten und jetzt – und jetzt – gewärtigen, daß einem einer über den Kopf haute ...
„Kommen Sie ran! Was wollen Sie von mir?“ fragt sie halblaut, drohend. Jetzt, da die Isländer standen, hörte sie den Aufschlag des Reiters ganz genau hinter sich näher kommen. Er trabte, sie konnte es genau unterscheiden. Galopp ist ein Dreiklang, und für Schritt war es zu schnell.
„Also? Was haben Sie hier zu suchen?“ Berti schien dadurch aufgewacht zu sein, daß sie anhielt. Wie heißt es doch im Sprichwort? „Wenn die Mühle stillsteht, wacht der Müller auf.“
„Papa?“ sagte er. Es klang fragend. Pölze schnürte es den Hals ab. „Ja, wenn dein Papi hier wäre, kleiner Berti ... Aber auch deine Mutter ist dir Schutz und Schirm, glaub mir das. Sie läßt dir nichts tun, darauf kannst du dich verlassen. Deine Mutter hat keine Angst.“
Ohne weiter zu denken, sprang sie vom Wagen und erwartete den Reiter. Sie sah ihn jetzt ganz gut, ihre Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, und es war keine pechschwarze Nacht. Wahrscheinlich würde auch der Mond bald kommen. Pölze hatte die Zügel fest um den Griff der Bremse gewickelt und ging dem Heranreitenden die letzten Schritte entgegen, faßte schnell in den Zügel.
„So. Was wollen Sie von mir?“
„Pölze, du?“
Kornelias Stimme! Pölze hatte einmal einen Film gesehen, da wurde die Szenerie von einem wildschießenden MG zu einem still im Bett schlafenden Kind überblendet. Sie hatte dies längst vergessen und dachte jetzt sekundenlang wieder daran. So war ihr zumute. Kornelia! Kornelia war der Reiter!
„Menschenskind, was machst du denn hier?“ war das erste, was sie herausbrachte, und Kornelia lachte: „Wir haben sie bis auf Kronos! Den aber finden die Männer bestimmt noch, außer der Gefangene hat ihn genommen. Und wie ich dich gefunden habe? Tina hat mich geführt. Dort, wo du falsch abgebogen bist, blieb sie stehen und jaulte, bis ich diesen Weg ritt. Großartig, nicht? Ja, Tina soll leben, sonst ritte ich, wahrscheinlich sonstwo und hätte dich nie eingeholt. Übrigens, wo ist sie jetzt? Tina! Tina!“
Das zweitemal rief sie laut. Beide horchten.
„Da“, sagte Pölze dann leise. Man hörte ziemlich entfernt die Hündin jappen und dann anschlagen, aufgeregt, wild.
„Die jagt! So klingt das, wenn ein Hund hetzt! Ich denke, sie ist sicher?“
„Tina jagt nie!“ rief Kornelia außer sich. „Nie! Das wäre was, wenn Tina jagte, wo bei uns so viel Wald ist. Die Förster würden sie mir ja sofort abknallen. Nein ...“
„Aber hörst du denn nicht ...“
Wieder lauschten sie beide.
„Ich muß hin. Ich muß zu ihr“, sagte Kornelia.
Pölze sah in der Dämmerung, wie blaß