Du bist die Ruh!. Rudolf Stratz

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Du bist die Ruh! - Rudolf Stratz


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Stadt auf.

      Marja Michels hatte die Türe zu dem Balkon geöffnet und trat hinaus. Das hatte sie sich, als sie vor sieben Jahren ihrem Mann aus Deutschland nach Moskau folgte, ausbedungen, dass wenigstens ein Zugang zur frischen Luft auch im Winter in der Wohnung offen bliebe. Die Kälte war auch an einem Tage wie heute, bei Sonnenschein und Windstille, auf ein paar Minuten gar nicht unangenehm, sondern wirkte wie ein erfrischendes Bad. Und nun hörte sie auch statt der bisherigen Todesstille in der Stube einen Laut des Lebens von aussen — das ferne, vielstimmige Krächzen der Krähen vom Kreml, die als Hunderte von schwarzen Punkten die Dome und Fürstensitze, die Zeughäuser und Einsiedeleien da oben unablässig umflatterten.

      Ihre Züge erhellten sich. Unten vor dem Tor hielt ein Schlitten und in ihm sass ein Wesen, das einem grossen Bären am meisten glich. Denn man sah nichts von ihm als einen mächtigen zottigen, hellbraunen Pelz, der, mit der Haarseite nach aussen gewendet, alles, selbst den Kopf des Trägers, zwischen seinen hochgestülpten Schulterklappen verbarg. Jetzt stieg der aus und gab dem Kutscher sein Geld. Und im selben Augenblick warf die junge Frau oben, nachdem sie genau, mit lachendem Auge gezielt, einen rasch vom Balkonsims gegriffenen Schneeballen auf den Bären hinunter. Sie traf so gut, dass die eine Seite des Pelzkragens aufstäubte. Der wurde daraufhin schnell zurückgeschlagen. Ein gutmütiges, halb unter einem grossen, rötlichblonden Vollbart begrabenes Antlitz schaute so treuherzig und verblüfft herauf, dass sie wieder laut lachen musste, ebenso wie der Iswoschtschik unten. Dann hatte ihr Mann sie erkannt und stimmte in ihre Heiterkeit ein und machte eine drohende Bewegung, als wollte er sagen: „Wart’ nur, ich komme!“ und lief in das Haus hinein. Das sah drollig aus. Denn er stolperte unbehilflich in dem Biberpelz und den hohen Galoschen, aber als sie selbst die Flurtüre aufmachte, war er schon halbwegs oben, freilich ein wenig atemlos, und tupfte sich noch in Eile die Eisstückchen aus dem Bart, ehe er den Arm um sie legte und sie nach russischer Sitte dreimal hintereinander auf jede Wange und auf den Mund küsste.

      „Brr!“ sagte sie und trocknete sich die Lippen. „Du bist noch ganz nass ... oh Mischa — du Bär ... wahrhaftig wie ein Brummbär hast du unten im Schlitten gesessen ... ich hab’ nicht anders können ... ich musst’ dir einen Schneeballen auf den Kopf werfen ... wart’ ... ich helf’ dir den Pelz ausziehen ... so ... nun sag nur um Gottes willen ... wo bist du wieder so lange geblieben?“

      Iwan Michels wickelte, während er hinter seiner Frau in das Wohnzimmer trat, ein Seidenpapierpaket auf und reichte ihr einen Strauss frischer blühender Rosen und auf seinem Gesicht war dabei eine Mischung von schlauer Gutmütigkeit und stillem Schuldbewusstsein. Er sah voraus, sie erzürnte sich über die Verschwendung — Treibhausblumen im Moskauer Winter! — und freute sich doch darüber. Und so sagte sie denn auch zwischen Lachen und Ärger, aber mit einem warmen Schimmer in den hellbraunen Augen: „Mischa ... schämst du dich denn nicht? Denkst du denn nicht an unsere Kinder? Was muss denn das nun wieder gekostet haben?“ Und er verteidigte sich, ein wenig unsicher, aber immer mit seinem herzlichen, das ganze, sonst nicht eben vielsagende Antlitz sonnig erhellenden Lächeln, das trotz der rotblonden Bartmassen beinahe etwas Kindliches an sich hatte: „Duschinka, mein Seelchen ... sei nicht bös ... Es ging nicht anders. Ich konnte nicht an dem Blumenladen vorbei ...!“

      Jetzt musste sie selbst über seine kläglich-durchtriebene Miene lachen. „Das kannst du ja nie! Jeden Tag schleppst du etwas Neues ins Haus! Ich weiss schon kaum mehr, wohin damit — und die Kinder auch!“

      Sie reichte ihm die Stirne zum Kuss und ordnete dann die Blumen in einer Vase. Er sah aufmerksam zu. „Ich hab’ sie die ganze Zeit unter dem Pelz gehalten, damit sie nicht erfrieren!“ sagte er. „Obwohl — es ist heute nicht sehr kalt draussen ... kaum sechzehn Grad ... na ... und — posluschaî — höre ... wo sind denn die Kinder?“

      Er ging dabei, sich die grossen frostigen Hände reibend, im Zimmer auf und ab und machte wieder ein sehr schlaues und geheimnisvolles Gesicht, das sich noch mehr verklärte, als Grischa und Tanja, die Kleinen, mit ihrem Fräulein auf der Schwelle erschienen. „Da kommt mal her, ihr Spitzbuben ... du greif mir rechts in die Tasche, Grischa ... du links, Mädi ... guten Morgen, Fräulein ... da haben Sie auch ein paar Veilchen ... sonst werden Sie zu neidisch auf die Blumen, die meine Frau gekriegt hat ... Nun, was schreit ihr denn?“ Er brach seine in dem harten Moskauer Deutsch des eingeborenen Deutschrussen gesprochenen Worte ab und schaute vergnügt auf seine Sprösslinge, die sich ihre Geschenke hervorgeholt hatten ... je eine hölzerne, hübsch bemalte Gurke und Birne, die, oben mit einem Schlitz versehen, eine Sparbüchse vorstellten. „Das hab’ ich in den Kaufmannsreihen für euch eingehandelt, damit ihr euch beizeiten an Sparsamkeit gewöhnt!“

      „So wie euer Papa!“ Marja musste lachen. „Ich glaube wirklich, Mischa — du gäbst deinen letzten Rubel her, um andern eine Freude zu machen!“

      Der grosse, etwas schwer und breit gebaute Mann neben ihr hörte nicht darauf. „Schüttelt einmal!“ sagte er eifrig zu den Kindern. „So! Hört ihr’s klappern? In jeder Büchse sind zehn Kopeken drin — die hab’ ich als Heckpfennig hineingetan ... was, Grischa — ein Griwennik ist dir zu wenig? ... Du willst einen Rubel drin haben? Liebes Kind ... zehn Kopeken sind viel Geld! Wie euer Urgrossvater nach Moskau gekommen ist — das sind jetzt bald hundert Jahre — da hatte er nicht mehr als das in der Tasche und war ein blutarmer Chemnitzer Webergeselle, mit vielen hundert anderen, und hat sich’s sauer genug werden lassen, bis er etwas vor sich gebracht hat und schliesslich Werkmeister in der Spinnerei geworden ist. Und euer Grossvater — der war schon so weit, dass er sich selbst eine Spinnerei gebaut und eingerichtet hat ... die war freilich noch klein und einfach im Vergleich zu heutzutage ... und wenn ihr artig seid und nächsten Sonntag mit spazieren fahren dürft, dann zeige ich euch, ganz draussen vor Moskau, die schöne, grosse neue Fabrik, die euer Papa jetzt gebaut hat ... mit fünf Stockwerken und mehr Fenstern, als ihr zählen könnt, und blitzblanken grünen Dächern ... und dann müsst ihr euch denken, dass das alles von dem Zehnkopekenstück kommt, das damals der alte Urgrosspapa als Handwerksbursche dreimal in der Tasche umgedreht und nicht ausgegeben hat, wie er zum erstenmal von den Sperlingsbergen aus hat Moskau vor sich liegen sehen ...“

      Und ernster geworden, setzte er, zu seiner Frau gewendet, hinzu: „Also, Duscha maja, meine Seele ... deswegen komm’ ich heute so spät. Ich war wieder bei den Behörden. Die letzten Schwierigkeiten mit der Fabrik sind erledigt. Jetzt kann ich sie aufmachen und mit der Arbeit anfangen!“

      „Gott sei Dank!“ sagte die junge Frau, und die freudige Überraschung liess ihr zartgeformtes, schmales Gesicht mit den grossen braunen Augen noch mädchenhafter als sonst erscheinen. Seit vier oder fünf Jahren, seit dem Tode ihres Schwiegervaters, war von nichts mehr die Rede gewesen als von dem Neubau der Baumwollspinnerei, einem Unternehmen, das ganz auf der Höhe des zwanzigsten Jahrhunderts stehen und drei-, viermal so gross werden sollte als der ererbte, etwas rückständige und veraltete Betrieb. Das ganze Vermögen war in den Bau hineingesteckt, es hatte lange, bange Monate und Jahre des Sorgens und Mühens gegeben — nun endlich war man so weit, dass der mächtige rote Backsteinkasten da draussen in der verschneiten Ebene sich beleben und aus hohem Schlote atmen und mit Hunderten von surrenden Rädern und Tausenden von tanzenden Spindeln sich regen und endlich Geld hergeben würde, statt immer neues zu verschlingen.

      Sie war ganz andächtig gestimmt. Sie wollte ihrem Gatten die Hand drücken, ihm etwas sagen, was dieser Minute entsprach. Aber sie merkte: er war gar nicht so froh gelaunt. Er hatte wieder Sorgen — viele sogar, zu viele, grosse und kleine, um sich der festlichen Stimmung des Augenblicks hinzugeben. Eher schien er ihr sogar, wie schon oft in diesen letzten Wochen und Monaten, von einer inneren Unruhe, einer ganz im Widerspruch zu der frohlaunigen Gutmütigkeit seines Naturells stehenden Gereiztheit verfolgt, die er nach Kräften vor ihr zu verbergen suchte.

      Er rieb sich daher hungrig-behaglich die Hände, schmunzelte, als er hörte, dass es zu Tisch Boeuf à la Stroganoff, sein russisches Leibgericht aus gedünsteten Pilzen, Fleischstücken und Kartoffeln, geben sollte und goss sich unterdessen zu den Heringschnitten als Vorspeise, am Seitentisch stehend, ein Schnäpschen und dann ein zweites und nach kurzem Besinnen mit seinem gewöhnlichen: „Bog ljubit troizu!“ — Gott liebt die Dreizahl! — ein drittes ein, ehe er sich mit den Seinen an die Tafel setzte und gehörig, mit echt Moskauer Appetit, einhieb. Aber seine Stirn


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