Du bist die Ruh!. Rudolf Stratz

Читать онлайн книгу.

Du bist die Ruh! - Rudolf Stratz


Скачать книгу
vorbei, in rastlos neuen, farblosen, einförmigen Wellen, fast ohne Unterschied der Stände und der Kleidung. Es waren immer wieder dieselben, gebückt und langsam unter der Last des Pelzes in schweren Galoschen schreitenden Gestalten, dieselben Männer in Kaftan und hohen Stiefeln, dieselben bärtigen Bauern in umgedrehten Schaffellen und Bastschuhen, dazwischen ein Pope, die Frau am Arm, langhaarig und bebrillt, Generale und Offiziere, auch sie bis zur Unkenntlichkeit in Fellwerk vergraben, tatarische Althändler, den Sack über dem Rücken, Perser, an ihren hohen schwarzen Kegelmützen kenntlich, selten einmal das zottige Weiss einer mächtigen, tscherkessischen Kopfbedeckung und ein blutrotes Faltenspiel unter flatterndem Mantel — und wieder Braun und Grau und Schwarz. Dumpf und gleichmässig spülten die Menschenwogen dahin und riefen doch wieder durch die fast völlige Abwesenheit aller europäischen Modekleidung das Bild des Orients, wenn auch eines lichtlosen, wintertrüben, wach, mit immer denselben bärtigen Gesichtern unter den schwarzen Lammfellmützen.

      Und ebenso seltsam, dem Westen fremd, war der Unterschied der Häuser — der stete Wechsel niederer Hütten und vielstöckiger Zinsgebäude, elender Kramläden und glänzender Magazine, stiller Klosterfronten und mächtiger Kron- und Adelspaläste, und auch in diesem Nebeneinander und Durcheinander der verschiedensten Menschenwohnungen zeigte sich wieder das fatalistische Gleichheitsgefühl des nahen Asiens, als dessen äusserster Vorposten auf seiner kleinen, Europa genannten Halbzunge hier das heilige Moskau die meilenweit sich senkenden und hebenden Bodenwellen der russischen Steppe bedeckte. Aber allmählich überwogen doch die dürftigen Bretterhäuschen, die winzigen Warenverschläge auf den immer schmutziger und breiter und öder werdenden Strassen — das eigentliche Moskau nahm hier ein Ende, dies Riesennest, das überall kleinstädtisch war und gleich darauf wieder barbarisch gross, alle Masse Europas überflügelnd und sich doch nie zu einheitlicher Wirkung zusammenfindend, sondern alles da stundenweit verzettelt, dort wieder in die enge Schranke mittelalterlicher Mauern und Türme hineingezwängt, so dass zum Schluss aus all dieser Mannigfaltigkeit, diesem bunten Widerspruch der Dinge, dieser Welt mit ihren Hunderten von Kirchen, ihren sich andächtig überall auf freier Strasse bekreuzigenden bärtigen Menschen, ihrem Glockenklang, ihrer ganzen, geheimnisvoll atmenden russischen Volksseele nur der Eindruck des Grenzenlosen übrig blieb.

      Weiss und rot schimmernd, das Sechsgespann der Siegesgöttin auf dem Sims, stand da die Triumphpforte. Hinter ihr leuchtete der Schnee nicht mehr grau wie in der Stadt, sondern blendend weiss. Zwischen Landhäusern und Gärten begann da der Petersburger Heerweg. Kahle Baumkronen ragten in die schon langsam gegen Sonnenuntergang sich grau trübende Luft und zwischen ihnen sah man, der Stadt entronnen, in die Weite: in den weissgrauen Winterhimmel, an dessen Horizont sich violette Schneewolken ballten und ein kalter Silberglanz allmählich mit seinem Dunst von Frost und Nacht die unsichtbare, drüben sich dehnende Ebene Russlands mit ihren Wäldern und Steppen überzog.

      „Stoi! Halt an!“ rief Iwan Michels dem Kutscher zu, wickelte sich aus den Decken und stieg schwerfällig aus dem Schlitten. Dabei erwiderte er den Gruss eines vorbeifahrenden baumlangen, in einen kostbaren Biberpelz gehüllten Herrn, dessen glattrasiertes Mephistogesicht mit dem funkelnden Einglas zahlreiche vernarbte Schmisse deutscher Hochschulen aufwies und der, die Zigarette schief zwischen den verwegen lächelnden Lippen, ihm herüberschrie: „Mahlzeit, Iwan Antonowitsch ... ich komm morgen mal bei Ihnen ran!“

      „Geht’s nicht heute?“

      „Nee ... zu viel zu schuften ... die Neuyorker sind ja rein verrückt ... Liverpool wieder zehn Punkte höher ... jetzt werden sogar hier gewisse Schlafmützen aufgerappelt ... na ... da, swidanje ...“

      Er winkte mit der Hand und verschwand und Marja frug: „Wer war denn das nun wieder?“

      „Das? Ein gewisser Etzel! Ein Garnmakler!“

      „Und mit dem Menschen machst du Geschäfte?“

      Ihr Mann lachte. „Na ja ... er ist so ein bisschen ... man weiss ja auch nichts rechtes von ihm ... Er muss lange in Amerika gewesen sein ... er kennt Neuyork genau! Was er vorher in Deutschland getrieben hat und warum er von da weg ist — darüber schweigt er sich aus.“

      „Mir wäre der unheimlich!“

      „Ja — Seelchen ... ich kann mir die Leute nicht so aussuchen. Dieser Charles T. Etzel ist ein fixer Kerl ... ein Gewaltmensch ... mit allen Hunden gehetzt ... man kommt mit ihm vorwärts ... wot ... das hab ich gern!“

      „Mir ist’s lieber, du gehst jetzt zu Wieprecht!“

      „Nun — Gott will es!“ sagte Iwan Michels ergeben. Ein Haufen Iswoschtschis war, den vornehmen Mann im Pelz erblickend, mit dem vielstimmigen Geschrei: „Poschaluite, barin! — Belieben Sie, Herr!“ auf ihn zugestürzt. Er suchte einen aus und rief seiner Frau noch einmal ein zärtliches und etwas zorniges: „Auf Wiedersehen, Duschinka!“ zu. Dann fuhr er nach links und sie geradeaus. Und Marja fühlte wieder, nunmehr allein, das angenehme leise Gleiten der Kufen auf dem harten Schnee, das lautlose Vorüberhuschen bereifter Bäume und Sträucher, vereister Vorgärten und halb unter der Wucht der Flocken begrabener Sommervillen, die schweren, kalten Windstösse der freien Ebene, die erlösende Empfindung, endlich einmal Moskau entronnen zu sein, das Auge in die Weite schweifen zu lassen.

      Nun lenkte der Kutscher in das Gehölz ein, in die stillen, vielverschlungenen, von mächtigen Baumgruppen überragten Wege des Petrowskiparks. Blau, rosa, weiss getönte Holzhäuser standen verstreut da und dort inmitten der winterlichen Einsamkeit. Nur in einem, vor dem jetzt der Schlitten hielt und schon ein anderer wartend stand, kräuselte sich Rauch aus den Schornsteinen und die Gartenpfade waren sauber gefegt. Äusserlich machte das niedere Holzgebäude mit seinen kleinen Fenstern, seinen Wänden aus langen, in den Fugen mit Moos verstopften Balken einen düsteren, beinahe bäuerlich-hinterwäldlerischen Eindruck. Aber der schwand, sobald man, wie jetzt Marja, das Innere betrat. Da wiesen dicke Perserteppiche über den Parkettböden, schweres Familiensilber auf dem Sims, rotglimmende Kamine, kostbare Ölgemälde und kaukasische Waffen an den Wänden auf breit sich auslebenden russischen Reichtum und liessen es begreiflich erscheinen, dass Iwan Michels’ Mutter sich nach all den Abenteuern und Wechselfällen ihres vielbewegten und liebereichen Lebens weltmüde in diese klösterliche Stille zurückgezogen.

      Die alte Salonlöwin lag, als Marja eintrat, fröstelnd in ein Eisbärenfell gehüllt auf dem Sofa. Sie schaute sehr bleich aus und auch ohne das waren ihre zu hart und stark gewordenen Züge unter dem grauen Haar nicht mehr schön zu nennen, wie sie es einst gewesen. Auch ihr Lächeln hatte sich gegen früher geändert. Es war jetzt bösartig — stiller Humor darin — nach dem Sturm und Schiffbruch ihrer drei Ehen. Sie sah jetzt die Dinge ohne Schminke und nannte sie so, unbekümmert, was irgend ein anderer Mensch auf der Welt dazu meinte.

      „Ah, vous voilà, ma chèra ...“ sagte sie, eine dicke Papyros rauchend und ohne ihre Lage zu verändern, zu ihrer Schwiegertochter. „Setz dich, Goluptschik! — mein Täubchen! Dank, dass du gekommen bist! Petruscha langweilt mich schon die ganze Zeit. Nun — das tut er ja jeden Tag!“

      Der als Hausfreund neben ihr sitzende kleine, peinlich sauber gekleidete Herr mit weissem Haar und Spitzbart, der sich inzwischen erhoben hatte und Marja mit etwas umständlicher, altfränkischer Höflichkeit begrüsste, war ihr Verwandter, Petruscha van Bibber, ursprünglich seiner Abstammung nach ein Holländer, der sein in Russland eingewanderter Vater auch wirklich gewesen. Aber er selbst war in Moskau geboren und aufgewachsen, hatte dort die deutsche Schule besucht und verstand kein Wort mehr von der Sprache des Landes, dessen Staatsangehöriger er immer noch war und das er zärtlich liebte und doch nie mit Augen gesehen hatte. Denn er hatte sich nie entschliessen können, sein Geschäft, die grosse Baumwollagentur, auch nur auf ein paar Wochen einem anderen anzuvertrauen. Seit man ihn kannte, stand er auf dem Punkte, in nächster Zeit nach den Niederlanden zu reisen und sich dort ein Häuschen am Meer zu kaufen und alle Baumwollsorgen aus dem Kopf zu schlagen. Er kam aber nie dazu, und inzwischen wusste der alte holländische Junggeselle eigentlich selbst nicht, wohin er in Moskau gehörte, ob zu den Deutschen oder zu den Russen.

      „Asseyez-vous, mon enfant!“ wiederholte die Frau des Hauses, und schaute Marja, während sie Platz nahm, aufmerksam an. „Wie geht’s daheim? .. die Kinder wohl? Was macht Iwan?“

      „Er


Скачать книгу